Über Naturereignisse, den Markt und etwas Liebesschwindel

Noch vor wenigen Tagen sah es so aus, auf dem Lido ….
Ok, inzwischen wird man etwas weiter sein, aber erfahrungsgemäß wird auch noch am Tag der Eröffnung des Filmfests gehämmert und gesägt. Ich habe immer den Eindruck, als werde die Mostra del Cinema (Opens in a new window) in Venedig wie ein Naturereignis betrachtet: ein plötzlich auftretender Hagelsturm, der am Ende eines langen Sommertags über Venedig hereinbricht und mit dem man jetzt irgendwie fertig werden muss.

Eingedenk der politischen Katastrophen um uns herum gibt es schon einen offenen Brief: Venice4Palestine (Opens in a new window), Venice for Palestine, der von hunderten italienischer und internationaler Filmschaffender unterzeichnet (Opens in a new window) wurde, darunter Namen wie Abel Ferrara, Ken Loach, Marco Bellocchio, Toni Servillo, Matteo Garrone, Laura Morante, Margarethe von Trotta, um gegen das andauernde Gemetzel im Gaza-Streifen zu protestieren: “Die Show muss weitergehen, wird uns gesagt, und wir werden aufgefordert, den Blick abzuwenden – als hätte die „Welt des Kinos“ nichts mit der „realen Welt“ zu tun. (…) Wir, das pulsierende Herz dieses Filmfests, bekräftigen mit Nachdruck, dass wir keine tatenlosen Komplizen sein werden, dass wir nicht schweigen, nicht wegschauen und uns nicht der Ohnmacht und der Logik der Macht beugen werden. Das gebietet die Gegenwart, in der wir leben, und die Verantwortung, die wir als Menschen haben. Es gibt kein Kino ohne Menschlichkeit. Lasst uns dafür sorgen, dass dieses Filmfest einen Sinn hat und nicht zu einer traurigen und leeren Schau wird.”
Daraufhin beeilte sich die Biennale festzustellen (Opens in a new window), dass das Filmfest von jeher offen für alle brennenden Gesellschaftsfragen gewesen sei.
In dem offenen Brief wurde die italienische Form des Genderns eingesetzt: colleghә, statt colleghi. Der komische Buchstabe ә ist kein umgedrehtes e, sondern ein “schwa” (Opens in a new window), wie man in Italien den sogenannten “neutralen” Buchstaben nennt, der das generische Maskulinum ersetzen soll. Das Problem ist nur: Wie spricht man diesen Buchstaben aus, den es eigentlich nicht gibt und der aus dem internationalen phonetischen Alphabet entlehnt ist? Zumal schon das Wort schwa für Italiener eine Herausforderung ist, spricht man doch im Italienischen die Buchstabenfolge sch wie k aus.
Wir als Journalisten schlagen uns aber in diesen Tagen vor allem damit herum, die Filmvorstellungen zu reservieren. Jahr für Jahr akkreditieren sich mehr Medienschaffende, die Spielstätten werden jedoch nicht mehr, weshalb die Plätze für die Filme der berühmtesten Regisseure mit den meisten Stars schon wenige Minuten, nachdem die Online-Reservierung freigegeben wird, weg sind.
Ich betrachte mich übrigens auch persönlich als Opfer der raumfressenden Rolle der Biennale (Opens in a new window). Weil ich nicht mehr meine vierzig, ja sogar manchmal triumphale fünfzig Bahnen in diesem städtischen Pool auf dem Lido ziehen darf - denn der wurde an eine Filmgesellschaft vermietet.

Wahrscheinlich fragen Sie sich jetzt: Warum will sie in einem Pool schwimmen, wenn dahinter doch gleich das Meer liegt? Der Grund sind die Quallen, mit denen die Adria verpestet ist. Ich habe lange ausgehalten, mir sogar einen Schwimmanzug gekauft, aber ich kann Ihnen versichern, dass es keinen großen Spaß macht, wenn einem trotz Schwimmanzug so ein Ding die Stirn oder die Hand verbrennt. Für die meisten Benutzer des Lido sind die Quallen ein zu vernachlässigendes Problem, weil Italiener das Schwimmen ohne dabei zu stehen und zu sprechen, ohne sich mindestens an einer Schwimmnudel festzuhalten um sich auch im tiefen Wasser vernünftig unterhalten zu können, als seltsame Anwandlung betrachten. Weshalb ich im Pool relativ ungestört meine Bahnen ziehen konnte - wenn nicht gerade ein paar vom Ehrgeiz getriebene Nordeuropäer (Engländer oder Finnen) delphinschwimmend durch den Pool pflügten.
Seit letzter Woche ist der Pool geschlossen. Mitten im August. Natürlich habe ich mich gefragt: Wie kann das sein, dass ein städtischer Pool mal eben so vermietet wird? Na ja, nachdem ich ein bißchen gegraben habe, kam heraus, dass der Pool keineswegs ein städtischer ist, sondern von dem Unternehmen “Venezia Spiagge” (Opens in a new window) betrieben wird, einer sogenannten “Beteiligungsgesellschaft” - das sind private Unternehmen, an deren Geschäftsführung die öffentliche Hand durch den Besitz eines Anteils beteiligt ist. Der Deal: Venezia Spiagge hat “für die Venezianer” auf eigene Kosten einen Pool an einem der berühmtesten Strände Italiens gebaut und darf diesen dafür bis zum Jahr 2038 betreiben (Opens in a new window) - und natürlich auch gegebenenfalls an eine Filmgesellschaft vermieten. Überdies betreibt Venezia Spiagge auch den dazugehörigen Strandabschnitt, den einstigen freien Strand, mit seinen Liegen. Der Markt regelt alles, hurra!
Wer in Italien in diesem Jahr Urlaub gemacht hat, wird wissen, wie teuer es hier ist, am Strand einen Liegestuhl zu mieten - ein Riesengeschäft, das der europäischen Wettbewerbsordnung namens Bolkestein (Opens in a new window)ein Dorn im Auge ist. Sie verlangt, dass die Konzessionen für italienische Strandbäder europaweit ausgeschrieben werden müssen. Die europäischen Milliarden für Italien sind unter anderem an diese Bedingung gebunden und nehmen keine Rücksicht darauf, dass die Strandbäder in Italien eine heilige Kuh sind, an der sich alle Ministerpräsidenten seit 2006 die Zähne ausgebissen haben. Dank der Lobbyarbeit der Strandbetreiber hat sich daran weder unter Draghi noch unter Giorgia Meloni etwas geändert. Und das, obwohl der Strand nicht den Strandbetreibern, sondern dem italienischen Staat gehört. Inzwischen ist der Liegestuhl am Strand selbst den Italienern zu teuer geworden, dass es so einer regelrechten Liegestuhl-Krise (Opens in a new window) kam.
Einer der wenigen Orte in Venedig, wo man noch Venezianer trifft, ist die Post. Neulich saß ich hier in der Warteschlange, neben mir zwei Venezianerinnen, eine davon eine ältere Dame, deren Telefon dauernd klingelte - und die sich an mich mit der Bitte wendete, diese Whatsapp-Nummer zu löschen, von der sie gerade einen Anruf erhalten hatte, was ich auch tat, genauer: Ich blockierte diese - nigerianische - Nummer. Daraufhin erzählte sie uns die Geschichte, wie sie auf einen nigerianischen Liebesschwindler (Opens in a new window) hereingefallen ist, eine Internetbetrugsmasche, kurz Love Scamming genannt: Sie sei von einem armen Nigerianer angerufen worden, der sie darum bat, zu helfen, damit seine Tochter nach Italien kommen könnte, um hier in einem katholischen Internat die Schule zu besuchen. Wenn sie ihm schnellstens 1400 Euro überweisen würde, wäre das eine große Hilfe. Gesagt, getan, denn schließlich sei sie, wie sie von sich sagte, jemand mit einem großen Herzen. Sie habe sogar schon angefangen, sich für eine Unterkunft für den Vater umzusehen, für den Fall, dass der auch nach Italien kommen wollte. Tatsächlich habe er ihr davon vorgeschwärmt, wie schön es doch auch für sie sei, wenn sich jemand um sie kümmern würde, gerade im Alter sei man doch oft allein. Aber weil er immer mehr Geld wollte, wurde auch diese weichherzige Venezianerin stutzig und erzählte alles ihrem Sohn. Der sagte: Versuch es doch einfach mal mit der Logik!
Darauf schwenkte die Venezianerin ihr Smartphone und sagte: Was heißt hier Logik? Ich bin leicht zu rühren, aber ich bin nicht beschränkt! Das habe ich denen - sie zeigte auf das Smartphone - auch gesagt! Und ist es nicht komisch, dass es immer nigerianische Nummern sind?
Daraufhin riefen die andere Venezianerin und ich: Nein, nein, Sie dürfen überhaupt nichts sagen! Niemals auf fremde Nummern antworten! Nie, nie, nie! Egal ob aus Italien oder Nigeria!
Nein, nein, das ist vorbei, ich falle auf so eine Masche nicht mehr herein!, sagte sie. Und das, obwohl der Typ, der sie hereingelegt habe, geschickter gewesen sei als Wanna Marchi (Opens in a new window), Italiens berühmteste Fernsehserie-Wahrsagerin, die behauptete, Zellulitis wegschmelzen und die Lottozahlen voraussagen zu können und die den Kunden, die nicht zahlen wollten, den bösen Blick ankündigte.
Nie zuvor sei ihr so etwas passiert, sagte sie, ihr Sohn habe darauf bestanden, ihr das Ding zu kaufen, sie meinte ihr Smartphone, lauerten überall Gefahren. Dann war ihr Postschalter endlich frei und als sie aufstand, zeigte die Venezianerin auf ihr Smartphone und sagte: Teufelszeug!
(In Deutschland hat die Schriftstellerin Martina Hefter übrigens über Love Scamming einen Roman (Opens in a new window)geschrieben, mit dem sie letztes Jahr den Buchpreis gewann.)
Und dass es sich um Teufelszeug handelt kann ich nur bestätigen - und Sie vielleicht auch, wenn sie den Podcast Tech Bro Topia auf Deutschlandfunk (Opens in a new window) angehört haben. Grusel ist garantiert, wenn Sie erfahren, was das Weltbild der Tech-Milliardäre prägt - und wie sie ihre Überzeugungen verbreiten. Nicht nur im Weißen Haus. Sondern auch bei uns, die wir von ihnen abhängig geworden sind.

Aus Venedig grüßt Sie herzlich, Ihre Petra Reski
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