so bitter, so frei
Obwohl die Sommerferien gerade erst begonnen haben und damit auch in meiner Arbeitswelt eine sechswöchige Phase des intensiven Kreativauswurfs eingeläutet ist, fühlt sich mein Sommererlebnis schon seit Ende Mai an, wie ein Sommer-Premium-Abo. Ich habe es das erste Mal geschafft, mit besonderen Erlebnis-Highlights nicht auf die Sommerferien zu warten, in denen ich dann jedes Jahr feststellen muss, dass unterrichtsfrei eben nicht frei bedeutet und für schöne Momente, Erfahrungen, Erholung mit Familie und ALLEN Freunden und kreativer Arbeit gleichzeitig 6 Wochen selbstredend nicht ausreichen. Allen Lachern zum Trotz, habe ich dies bis jetzt jedes Jahr auf diese Art probiert, stoisch und die Vergangenheit vergessend wie ich in diesen Dingen bin. Ich wünschte ich wäre auch so vergesslich im Umgang mit schlechten zwischenmenschlichen Erfahrungen; alles wäre so viel leichter. Jedenfalls reihte sich 6 Wochen vor den 6 künstlerischen Wochen Wochenende um Wochenende, eins schöner als das andere. Und damit mich die Sommer-FOMO aufgrund meiner Vergesslichkeit nicht im Nachhinein packt, habe ich jede Unternehmung dokumentiert, sodass die Kalenderseiten kein weiß mehr tragen, sondern geschwungene Linien barockesker Frauenfiguren, die sich hedonistisch ahh und ohh rufend umschlingen. Eins dieser tief befriedigenden Erlebnisse war ein Konzertbesuch von Jacob Collier. Man lege den Song Time alone with you (Abre numa nova janela) von ihm auf, um zu verstehen, was einer studierten Jazzmusikerin, die im Arbeitsalltag vor allem einfach gestrickte Musik bearbeitet, tiefe Befriedigung in die Ohren legt; ein anderes Happening am gleichen Wochenende war der CSD in Leipzig, bei dem der Gedanke so bitter, so frei für diesen Text entstand, den ich auf mehreren Ebenen zerreiben will. Denn wann sind oder wann haben wir schon wirklich frei?

Das gängige Narrativ, dass Lehrer:innen in den Ferien frei haben, viel mehr Urlaub genießen, als der Rest der arbeitenden Gesellschaft, hält sich hartnäckig. Sogar für mich als selbstständige Künstlerin und Gesangspädagogin gilt die Logik: Ferien = frei und künstlerische Arbeit = frei. Man wünscht mir schöne Ferien und gute Erholung und sagt, man hätte auch gern so viel frei. Dabei habe ich in den Sommerferien nicht frei, genau so, wie ich an Feiertagen und Wochenenden nicht automatisch frei habe. Lehrer:innen wissen das, Selbstständige und Künstler:innen auch, sie fragen daher: und? Hast du diese Woche viel zu tun? Machst du Urlaub zwischendurch? Ja, ich mache Urlaub zwischendurch, sage ich, weiß aber, dass ich zwischendurch vor allem auch arbeiten werde. Und zwar genau in den Momenten, in denen ich gerade anfange zu entspannen. Denn dann öffnet sich mein kreatives Zentrum; dann senkt sich der Cortisol-Spiegel, ruht die Amygdala; konzentriert und verliert sich meine Wahrnehmung in Details, wie der hoffentlichen Handbewegung des französischen Kellners bei der Aufnahme der Bestellung; schweift mein Blick über die Verschiedenheiten der vorbeilaufenden Körper; denke ich über Politik und unsere gesellschaftlichen Zustände in Europa nach und was die Natur sich dabei gedacht hat, den Menschen zu schaffen; bohrt mein Fuß in der Zukunft ein Loch in den bretonischen Sand, um dabei Richtung Normandie zu schauen und mir vorzustellen, wie 1944 die Alliierten ihre derb-ledrigen Stiefel in den Sand bohrten; starre ich minutenlang ins Nichts und pople und pupse, wie jeder Mensch und übe mich im bedeutungslosen Sein. Und genau in diesen Momenten fange ich an zu arbeiten; im inneren reifen Prozesse heran oder entwickeln sich weiter, die monatelang von Verantwortung und Verpflichtung unterjocht waren. Und wenn ich dann in diesen Momenten im Urlaub gerade frei habe, frei von Care-Verpflichtungen meiner Familie gegenüber, wie kochen, räumen, planen, fahren, einkaufen oder Zeit miteinander verbringen, dann greif ich zum Stift, iPad, Pinsel, Instrument oder Aufnahmegerät und nutze meine Freiheit, um in meiner Arbeit wieder unfrei zu sein, weil ich dann ja arbeite, indem ich frische Eindrücke und angeregte Denk- und Gefühlsprozesse in Kunst gieße. Und wer künstlerische Arbeit unbedingt romantisieren möchte, der glaubt nun, dass das doch keine Arbeit sein kann, wenn man das tut, wofür das Herzelein schlägt, wenn man seiner Leidenschaft nachgeht, wenn man im Familienurlaub und der restlichen unterrichtsfreien Zeit künstlerisch, also freigeistig, seine Zeit vertut mit Dingen, die keinen kapitalen Wert erzielen. Arbeit muss sich schließlich lohnen. Und wenn sie es nicht tut, dann ist sie keine. Nunja. Das hat man immer schon über künstlerisches Schaffen gesagt und gedacht. Und man denkt es immer so lange, bis der/die Künstler/in Ruhm und Reichtum erlangt, sei das Outcome noch so profan. Wie soll ein/e Künstler/in Vertrauen in ein Fandom und seine/ihre eigene Kunst entwickeln, wenn dieses stets kapitalistischen Logiken folgt? Du bist eine gute Künstlerin, wenn du soundsoviele Follower hast, dann buchen wir dich; du bist eine kompetente Künstlerin, wenn du berühmt bist oder sehr viel Geld damit verdienst. Du bist eine sehr gute Sängerin, wenn du sehr viele und große Konzerte vor großem Publikum hast und singst wie Beyonce. Über solche Urteile und Bewertungen nachzudenken, macht auch sehr unfrei und ist Teil der Arbeit einer Künstlerin, die ich absichtlich nicht gendere, weil das ein strukturelles Diskriminierungsthema in der Musikbranche ist, kein individuelles, was potentiell alle Geschlechter betrifft, denn das tut es nicht.
Die diesjährige GEMA-Ausschüttung hat mich in Bezug auf meine Fanbase und Multipilkatoren wie Radiosender besänftigt, aber nur weil ich gewohnheitsbedingt als Frau schon mit wenig zufrieden bin, nicht weil die Ausschüttung den Wert meiner Arbeit angemessen honoriert. Das würde klar werden, trüge ich ein anderes Geschlecht. Männer verdienen in dieser Branche aus verschiedenen Gründen mehr an Musikurheberrechten. Zum Beispiel, weil sie öfter gebucht werden, sich gegenseitig durch dude-iges Vernetzen supporten und dadurch länger als Musiker aktiv bleiben können, oder weil sie sich als „Musikproduzenten“ an den Urheberrechten der Songs der Künstlerinnen vergreifen, indem sie argumentieren, das stünde ihnen aufgrund des zu niedrigen Produktionshonorars zu. Die Künstlerinnnen stimmen dem unwissend und aufgrund von Zeitdruck und Mangel an produzierenden Musikern im Umfeld zu und verlieren nicht nur maßgebliche Anteile an ihren Rechten, sondern auch an Ausschüttungen aus Tantiemen. Als weiteres Beispiel verdienen Männer an GEMA-Ausschüttungen auch dadurch mehr, dass sie GEMA-Tantiemen im Dienstleistungssektor durch Betrug einstreichen, die ihnen nicht zustehen, weil sie einfach dreist sind. Nicht alle Männer natürlich, aber immer ein Mann.
Und so bin ich auch nicht frei, wenn ich auf einem grand qualité Konzert eines jungen angesagten Musikers, der mich musikalisch tief befriedigt, bin. Denn dann denke ich beim Betrachten der gemischtgeschlechtlichen Bandbesetzung, die je nach Tour fluide ist, darüber nach, ob hier wohl alles safe und fair und konsensuell zugeht; ob der Arbeitsaufwand für die Bandmitglieder, die für einzelne Konzerte oder eine kleine Tour wirklich anspruchsvolle Arrangements mit hohem Zeitaufwand proben und die Besetzung immer wieder wechseln müssen, im Verhältnis zur Bezahlung steht, oder ob ihnen gesagt wird: hey, denke mal an die Chance mit diesem großen Künstler auf der Bühne zu stehen, das ist eine Wahnsinnsreferenz für dich, also hab nicht zu hohe Honoraransprüche.
Vielleicht gibt es hier keinen Grund zum Zweifel. Ich hoffe es, ich möchte es glauben, so wie alle, immer. Und genau das ist oft das Problem, was das ausbeuterische System am Laufen hält. Es glauben und hoffen zu viele und es hinterfragen zu wenige.
Frei habe ich mich aber gefühlt auf dem CSD in Leipzig, der mit einer üppigen Kundgebung am Vormittag begann, zeitlich mittig verortet in einem ausgiebigen Demo-Tanz-Zug durch die aufgeheizte Stadt auf eine Festival-Ebene mit Loveparade Charakter gehoben wurde und letztlich den Rest des Tages zur Einladung für tanzende Menschen in der Innenstadt, halbnackt und mit viel EXTRA gekoren hat. So viele schöne Menschen; Schönheit im Sinne von Freiheit; Freiheit im Sinne von Freizügigkeit, Toleranz und AkzepTANZ. Lange wurde ich nicht mehr so oft von Fremden angelächelt. Freefall, freifliegen, freifühlen. Jedenfalls habe ich mich solange frei gefühlt, bis mir meine Privilegien als weiße, cis-Heteronormative, ohne sichtbare Behinderungen wieder bewusst geworden sind. Ich kenne diese Privilegien zwar, aber wie das so ist mit Privilegien: man ist entweder gänzlich blind für sie, oder man vergisst sie, wenn man im Alltag nicht ständig durch andere daran erinnert wird. Unter diesem Link (Abre numa nova janela) kann man schnell selbst einen einfachen Privilegiencheck machen.
Es war ansteckend und erhebend, mit so vielen Menschen zu sein, deren Äußeres und deren Verhalten nonkonform, also äußerst widerspenstig ist; es war befreiend neben vielen Frauen zu tanzen, die ihre Arme mit unrasierten Achseln tanzend in die Höhe reißen, weil ich dadurch einen seltenen Moment erlebte, indem ich gedanklich nicht unfrei deswegen war, dass meine Achseln ebenfalls aus widerspenstigen Gründen unrasiert waren. Es war befreiend, weil alle Menschen um mich herum vermittelt haben, so wie du bist, bist du ok, denn schau, ich bin ja auch so wie du: menschlich. Wir waren also alle kurz frei miteinander. Aber nur, solange man sich gedankenlos mitreißen ließ. Wenn man beim Demo-laufen und Beobachten von queeren Menschen genauer hinschaut und sich ihre Leben vorstellt, erkennt man doch recht schnell: nicht binäre und queere Menschen sind nicht frei, nur weil sie zu solchen Happenings und thematischen Safe-Spaces, die Großstädte bieten, zeitlich begrenzt auf offener Straße ausleben können, was sich in den Augen der breiten Gesellschaft nicht gehört. Sie leben entweder offen in sehr widerspenstigen Körpern, die den gesellschaftlichen Normen nicht entsprechen und riskieren dafür im Alltag soziale Isolation bis Gewalt oder sie verstopfen zu besonderen Anlässen halb nackt für einen Tag musikalisch festivalgemäß die Straßen einer Großstadt oder eines Fetisch-Clubs. Ansonsten passen sie sich im Alltag an, entgegen ihrer Bedürfnisse und ihrer Identitäten. Sie lachen dann im Kollegium über sexistische Witze, versuchen als Schwule möglichst nicht unangenehm aufzufallen, indem sie hegemoniale Männlichkeit als Strategie einsetzen und sie setzen sich nicht mit ihrer internalisierten Misogynie auseinander, weil sie dann nicht nur sich selbst kritisch unter die Lupe nehmen müssen, sondern auch ihr gesamtes soziales Umfeld. Für Viele ist das Risiko anzuecken größer, als die Folgen aus Verzicht auf Selbstbehauptung. Dabei brauchen wir den gesellschaftzlich-progressiven Widerstand jetzt mehr denn je. Für Widerstand braucht es beides — Innenarbeit und Systemkritik; Therapie und Konfrontation.
Die Freiheit ist immer die Freiheit der Andersdenkenden.
Zitat von Rosa Luxemburg
Freiheit bedeutet nicht nur die Freiheit von äußeren Beschränkungen, sondern auch die Freiheit eigene Ziele zu verfolgen und sich zu entfalten. Wirtschaftliche, politische und persönliche Freiheit sind komplexe Konzepte, zu denen nicht alle einen freien Zugang haben. Freisein und FreiHABEN ist eine Frage von Privilegien, Lebensorten, Erfahrung, Prägung, Bewusstsein und Entscheidung. Ob wir uns innerhalb und außerhalb unserer Arbeits- und Freizeit als frei empfinden, hängt also davon ab, ob wir das was wir tun frei entschieden haben, ob wir uns unserer Privilegien und Unterdrückungen bewusst sind und wie wir unsere Arbeit (alle Arbeit) in Abhängigkeit von unserer Tagesform, Gesundheitszustand und der Leichtigkeit oder der Schwere, mit der die Arbeit von der Hand geht, wahrnehmen; welche Freiheiten von anderen uns einschränken, in welcher Lebensphase wir uns befinden und wie interessen- und bedürfnisorientiert alle Arbeit ist, die wir — auch in unserer Freizeit — tun. Ob wir uns als frei empfinden hängt auch davon ab, ob wir aufgrund feministischen, antirassistischen und antiqueerfeindlichen Widerstands sozial isoliert werden, von der Familie, den Freund:innen, den Arbeitskolleg:innen, den Eltern der Kindes-Freund:innen und ob wir auf dem Arbeitsmarkt deswegen ungleich behandelt werden und Benachteiligung erfahren. Denn wie frei kann man sich schon fühlen, wenn man für sich selbst einsteht, ein Leben führt, wie man es sich wünscht — zum Beispiel Missstände ansprechen und diskriminierendes Verhalten direkt adressieren — dafür aber von seinem Umfeld abgelehnt wird und in der Konsequenz dieses freie Leben allein lebt? Wovon unsere Freiheit und unser Freihaben-Empfinden abhängt ist jedenfalls nicht das Urteil von außen, sondern viele Dinge, auf die wir selbst nur bedingt Einfluss haben.
Sommerferien — von wegen frei. Frei von was? Voll werden sie sein, voll von Care-Arbeit. Und inspirierend werden sie sein und erfrischend, in jedem Fall, weil ich zumindest hier und da arbeiten kann, wie es mir am meisten gerecht wird. Und das ist für eine Jazzmusikerin mit Kindern ein Privileg, obwohl es keines sein sollte. Schließlich hat der Staat einmal viel Geld darin investiert, mich auszubilden, auf einem sehr elitären und exklusiven Niveau, dass pro Jahrgang und Hauptfach nur ein bis zwei Absolvent:innen ausspuckt, weil auch nur so viele für ein Musikstudium angenommen werden. Aber was weiß ich schon. Ich schau noch ein bisschen auf die GEMA-Ausschüttungssumme, verdrehe gedanklich die Zahlen wie meine Augen und füge Punkte hinzu. Auch eine Form von Kunst. So bitter, so frei.
Es grüßt, Christin
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