Gedanken zum Thema M/Wut
“Lasst den Mund zu und spürt nach” sagt Kathrin, die heute den Raum hält. Ich schliesse den Mund und atme durch die Nase. Spüre mein Herz rasen, meinen Atem, der nur langsam an Tempo und Intensität verliert. Ich konzentriere mich darauf, die Luft tief in meinen Bauch und danach wieder ganz ausströmen zu lassen. Und allmählich beruhigt sich mein Herzschlag. Meine Gedanken kommen zurück in den Raum, in dem wir gerade üben. Und auch die anderen Teilnehmer:innen um mich herum nehme ich wieder wahr.
Ich schlucke. Damit hatte ich nicht gerechnet. Vor 10 Minuten noch nahm ich all meinen Mut zusammen um meiner Vorgesetzten zu sagen, dass ich so nicht weitermachen kann. Zu deutlich ist die Sprache meines Körpers: Migräne, Herzrasen, ein permanent zuckendes Augenlid. “Ich brauche jemanden, mit dem ich mich austauschen kann; kein ‘ich hab erst nach den Sommerferien wieder Zeit’.”
Bereits zur Eröffnung des Gespräches meinte sie: “Ach übrigens, ich hab dann auch noch was.” Kaum hatte ich mein Anliegen hervorgebracht, prasselte Kritik auf mich ein. Zu langsam, andere Erwartungen etc. …
Meine ganze Energie geht gerade dafür drauf, nicht in Tränen auszubrechen. Hat sie meinen Hilferuf überhaupt gehört? Meine Stimme wird etwas lauter, die Worte prasseln aus mir heraus. Sie vertröstet mich auf nächste Woche, mal wieder, und wünscht mir stattdessen noch ein schönes Feiertags-Wochenende.
Gerade eben noch habe ich mich wie ein Kind auf dem Boden gewälzt, geschrien, getobt und mit den Fäusten auf die Matte geschlagen. Diese Kraft zu spüren, während ich allmählich wieder im Hier und Jetzt ankomme, beeindruckt mich. Wo ist sie im Alltag? Was mache ich mit all den Emotionen, der Wut? ‘Das gehört sich nicht, erst recht nicht für ein Mädchen’ habe ich schon früh gelernt. Immer schön brav und artig sein. Bloss keine Emotionen zeigen - sie könnten mein Gegenüber ja überfordern.
Also runterschlucken. So wie die vierte Reihe Schokolade, von der mir schlecht wird. Doch was passiert eigentlich mit allem, was wir schlucken? Für’s Essen ist das gut “erforscht” und schon die Frauen-Zeitschriften, die ich in meiner Jugend gelesen habe, waren voll mit Diät-Tipps. Es ist ganz einfach: iss weniger als du verbrauchst, dann bleibst du schlank. Und liebenswert.
Doch wohin gehen die Emotionen, die da sind, nicht raus dürfen und runtergeschluckt werden? Gibt es dafür auch ein Konto wie für die Kalorien? Und der Überschuss? Wo wird der gespeichert?
Ich nehme all meine Kraft zusammen und erledige noch das Nötigste, bevor ich die Flucht nach vorne antrete. Ich klappe das Notebook zu und radle heim. Unterwegs mache ich noch einen Abstecher zu meinem Lieblings-Essens-Lieferanten und hole mir das Tagesmenü zum Mitnehmen: einen reichhaltigen Süsskartoffel-Eintopf mit Gemüse vom Biohof. “Gesunder Soulfood par Excellence” stand auf der Webseite. Das war nicht zu viel versprochen.
Eine - unruhige - Nacht am See und eine lange Wanderung schaffen langsam, was ich letzten Samstag mit nur einer Minute Wut-Arbeit geschafft habe: sie bringen mich ins Jetzt, lassen Ängste und Sorgen in den Hintergrund treten und wieder spüren, was wirklich wichtig ist. Die Natur tat noch immer ihre Wirkung.
Auf dem Rückweg zieht ein Fenster mit bunt bemalten Steinen meinen Blick auf sich. Der Stein mit dem Wort “Mut” fällt mir sofort ins Auge. Ich nehme ihn an mich und werfe einen kleinen Betrag in den zugehörigen Briefkasten. ‘Für seine geringe Grösse ist er ganz schön schwer’ stelle ich erstaunt fest. Doch mit der monolithen-artigen Form liegt er gut in der Hand. Ich drücke ihn fest, betrachte nochmals die grüne Schrift.
Mut. Es braucht nicht viel, nur das Umdrehen des ersten Buchstabens um ein ganz anderes Wort daraus zu bilden. Wut.
Und um über den Zusammenhang der beiden nachzudenken, dafür bleibt mir noch der Weg zurück zum Parkplatz…