Vererbte Macht, verlorene Zukunft
Südkoreas Jugend unter Druck – wenn die Chaebol den Lebensweg diktieren
In den 1960er Jahren galten sie in Südkorea als Symbol nationaler Hoffnung: Die sogenannten Chaebol, südkoreanische Familienkonglomerate wie Samsung, Hyundai, LG oder SK, sollten das bitterarme Nachkriegsland industrialisieren. Und sie taten es. Sie bauten Autos, Fernseher, Hochhäuser. Sie schufen Jobs, trieben den Export an und machten Korea zur Wirtschaftsmacht. Heute stehen dieselben Namen wieder auf den Titelseiten, nicht mehr als Helden des Aufschwungs, sondern als Relikte einer verkrusteten Machtstruktur, die die soziale Krise im Land verschärft. Ist der Erfolg von gestern zur Last von heute geworden?
Das Corporate Value-Up Program
Mit dem sogenannten Corporate Value-Up Program wollte die Regierung unter dem nun ehemaligen Präsidenten Yoon Suk-yeol die Transparenz an der Börse erhöhen, zumindest offiziell. Der Fokus liegt dabei auf den Chaebol. Diese, so der Gedanke, müssten sich öffnen, ihre Eigentümerstrukturen reformieren, ihre Governance verbessern. Leider kann hier nur von Symbolpolitik gesprochen werden. Denn noch immer ist es möglich, mit minimalen Kapitalanteilen über verschachtelte Firmenkonstrukte ganze Konzerne zu kontrollieren. Das System kommt insbesondere den Erben der Gründergeneration zugute.
Dass dieses Modell zunehmend unter Druck gerät, zeigt sich nicht zuletzt am Widerstand großer institutioneller Anleger wie dem National Pension Service oder internationalen Fonds. Sie fordern Transparenz, Mitsprache und ein Ende der Vetternwirtschaft. Doch anstatt sich der Kritik zu stellen, debattierte das konservativ dominierte Parlament lieber über eine Senkung der Erbschaftssteuer – von 50 auf 40 Prozent. Die sogenannte Major Shareholder Penalty, die gezielt Chaebol-Familien belasten sollte, sollte gleich ganz abgeschafft werden. Der demokratische Präsidentschaftskandidat Lee Jae-Myung warnte bereits vor seinem Amtseintritt vor einem „Freifahrtschein für Erbdynastien“.
Elite-Karriere oder prekäre Warteschleife?
Während an der Spitze der Gesellschaft Vermögen und Macht vererbt werden, bleibt ein wachsender Teil der Bevölkerung auf der Strecke. Die großen Chaebol zeichnen sich durch gigantische Umsätze aus, bieten aber nur rund zehn Prozent der Arbeitsplätze im Land. Gleichzeitig kontrollieren sie rund 60 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Der Rest des Arbeitsmarkts wird von kleinen und mittleren Unternehmen getragen, meistens unterbezahlt, unsicher, mit geringen Aufstiegschancen.
Die Folgen zeigen sich in der sogenannten Youth Crisis. Akademiker:innen, die nach jahrelangem Lernen und privaten Nachhilfeschulen (Hagwons) nur befristete Jobs finden, wenn überhaupt. Absolvent:innen, die sich in Warteschleifen verlieren, während sie versuchen, die Aufnahmeprüfungen für einen der raren Plätze bei Samsung oder LG zu bestehen. Und Kinder, die schon im Grundschulalter auf die Suneung-Prüfung (koreanisches Zentralabitur) hintrainiert werden, ein nationales Bildungsexamen, das über Lebenswege entscheidet und zu einer psychischen Belastung mit gesellschaftlichen Folgekosten geworden ist. Wer reich ist, kann sich private Bildung leisten und erhöht so massiv die Chancen auf ein Leben im Inner Circle der Chaebol. Wer arm ist, bleibt außen vor. Der Mythos von der Aufstiegsgesellschaft bröckelt.
Wenn Innovation im Konzernnetz stecken bleibt
Die wirtschaftlichen Folgen dieser Konzentration sind ebenfalls gravierend. Zwar fließen die meisten Investitionen in Forschung und Entwicklung in die Chaebol, echte Innovation bleibt jedoch oft aus. Statt auf Risiko und Vielfalt zu setzen, optimieren viele Konzerne bestehende Technologien oder kaufen Start-ups auf, bevor sie gefährlich werden. Die Zahl erfolgreicher koreanischer Neugründungen bleibt hinter dem internationalen Vergleich zurück. Zudem blockieren interne Transaktionen, immerhin 14,5 Prozent aller Geschäftsaktivitäten der zehn größten Chaebol, nicht nur Marktdynamik, sondern stärken auch die Macht der Eigentümerfamilien. Besonders die zweite Generation der Erben setzt auf Abschottung statt Öffnung. Kleinere Firmen sind dabei benachteiligt, während Chaebol-Angestellte im Schnitt fast doppelt so viel verdienen wie ihre Kolleg:innen in KMUs.
Reform oder Rückschritt?
Diese Wut spiegelt sich inzwischen auch an der Wahlurne wider. Bei den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen in diesem Jahr zeigten sich tiefgreifende gesellschaftliche Spannungen. Insbesondere unter jungen Wähler:innen, die lange Zeit als politisch apathisch galten. Heute organisieren sie sich zunehmend gegen ein System, das ihnen soziale Aufstiegschancen verwehrt und von einer kleinen Elite dominiert wird.
Die Forderungen sind klar. Gewollt ist eine strengere Regulierung der mächtigen Familienkonglomerate, mehr Transparenz in der Unternehmensführung und eine Begrenzung der internen Machtstrukturen innerhalb der Chaebol. Alles längst überfällige Reformen, die jedoch auf hartnäckigen Widerstand treffen.
Während große Teile der Bevölkerung spürbare Veränderungen einfordern, wirkt die politische Elite weiterhin zögerlich. Anstatt das Machtmonopol weniger Familien konsequent anzugehen, bleibt die Regierung, nun unter einem neuen politischen Mandat, eher verwaltend als gestaltend. Besonders deutlich wird das am Beispiel der Erbschaftssteuerdebatte. Statt die bestehende Major Shareholder Penalty zu verteidigen, diskutiert man nun ihre Abschaffung und eine gesenkte Steuerlast für Vermögende.
So wird die Auseinandersetzung um Eigentum und Erbschaften zum Gradmesser für Südkoreas demokratische Reife. Kann eine moderne Demokratie sich erfolgreich gegen die Interessen einiger weniger durchsetzen? Oder bleibt die vielbeschworene soziale Mobilität letztlich doch nur ein Mythos – eine Erzählung ohne Substanz im Schatten einer geerbten Wirtschaftsmacht?
Literaturverzeichnis
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