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Zwischen Utopie und Vergänglichkeit: Fire Island in der queeren Literatur

Vor der Küste Long Islands, den Launen des Atlantiks ausgesetzt, liegt eine schmale, langgezogene Sandbank, die wohl am treffendsten als eine Art Xanadu des queeren Amerikas bezeichnet werden kann. Die Rede ist von Fire Island. Einer schwullesbischen Utopie an der Grenze des Kontinents, in der sich zu gleichen Teilen Trugbild und Heterotopie destillieren und deren Name zutiefst mit Sonne, normschönen Körpern, Discomusik und enthusiastischem Cruising verbunden ist. 

Fire Island nimmt einen besonderen Platz in der queeren Kultur der USA ein. Irgendwo zwischen mythischer Überhöhung und neoliberal geprägter Realität. Spätestens seit den 70er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts hat sich die Insel den Ruf eines hedonistischen Paradieses für vorwiegend schwule Männer erworben. Dabei handelt es sich streng genommen nicht um die ganze Sandbank. Denn Fire Island beherbergt auch ruhigere Gemeinden, in denen etwa heterosexuelle Familien und einige Künstler*innen ihre Sommer verbringen.

Wenn über das Eiland gesprochen wird, sind vor allem die beiden Gemeinden Cherry Grove und Fire Island Pines gemeint, die in unmittelbarer Nachbarschaft liegen und nur von einem Pinienwald getrennt sind. Letzterer erfreut sich tags wie nachts großer Beliebtheit unter Cruisenden und trägt den vielsagenden Beinamen Meat Rack (etwa 'Fleischregal' / 'Fleischtrog'). 

Im Sommer beherbergen Cherry Grove und Fire Island Pines zahlreiche wohlhabende queere New Yorker*innen, deren Inselleben zwischen Strand, privaten Parties in großzügigen Ferienhäusern, Tea Dances in den Bars und Clubs, Disconächten und Meat-Rack-Besuchen oszilliert.

Doch schon lange bevor die Sandbank ihren heutigen Status als Mekka der schwullesbischen New Yoker Mittelklasse erlangte, gastierten dort queere Autor*innen und Künstler*innen, wie Jack Parlett in seiner 2022 erschienenen Literatur- und Kulturgeschichte Fire Island: Love, Loss and Liberation in an American Paradise (Abre numa nova janela) schildert. 

So verbrachte etwa das Maler*innenehepaar Margaret Hoening French und Jared French von 1937 an seine Sommer auf der Insel. Begleitet wurden sie von Paul Cadmus, ebenfalls Maler und Jared Frenchs Liebhaber. Neben einer ganzen Reihe an Gemälden schufen sie ein beeindruckendes fotografisches Werk, das unter dem gemeinsamen Decknamen PaJaMa (Abre numa nova janela) veröffentlicht wurde.

In den 1940ern erkoren die Dichter W. H. Auden, Stephen Spender und Tania Stern Cherry Grove zu ihrer Sommerresidenz und empfingen dort unter anderem Christopher Isherwood. Auden störte sich jedoch zunehmend an der schwulen Freikörperkultur, die am Strand von Cherry Grove ausgelebt wurde. Er fühlte sich durch den offensiv praktizierten Körperkult an die faschistische Körperideologie der Nationalsozialisten erinnert. Im Jahr 1948 beschrieb er die Insel in seinem Gedicht  Pleasure Island

The sunset happens, the bar is copious / With fervent life that hopes / To make sense / but down the beach some / decaying / Spirit shambles away / Kicking idly at driftwood and dead shellfish / And excusing itself / to itself

(Ausschnitt aus W. H. Auden, Pleasure Island (1948))

1959, als Cherry Grove bereits im Begriff war, sich zu einem beliebten Treffpunkt für schwule und lesbische Gäste zu entwickeln, fand sich James Baldwin in der Gemeinde ein, um in Ruhe an seinem Roman Another Country (1962) zu arbeiten. Sechs Jahre später kehrte er zurück und traf durch Zufall auf den bekannten schwulen Dichter Frank O'Hara, mit dem er fortan im Austausch stand.

O'Hara reiste seit Mitte der 50er-Jahre regelmäßig auf die Insel und widmete ihr sein Gedicht A True Account of Talking to the Sun at Fire Island (Abre numa nova janela) (1958). 1966, ein Jahr nach dem Treffen mit Baldwin, wurde O'Hara nach einem Baraufenthalt in Fire Island Pines von einem Strandtaxi erfasst und starb im Alter von 40 Jahren.

Wenig später wurden Cherry Grove und Fire Island Pines zu dem (Sehnsuchts-)Ort, der durch unzählige popkulturelle Repräsentationen das Bild der meisten von Fire Island bestimmt. In Clubs wie dem Sandpiper und dem Ice Palace wurde die Disco-Musik revolutioniert (Abre numa nova janela); die Tea Dances, die nachmittags begannen und von viktorianischen Teezeremonien inspiriert waren, wurden zur Tradition und das Image eines Paradieses des zügellosen queeren Hedonismus verfestigte sich. Beschrieben unter anderem von George Whitmore, dessen Ich-Erzähler (und Alter Ego) Danny Slocum das Treiben wie folgt zusammenfasst: 

It was disco, disco, disco - morning, noon, and through the sleepless night. As my dancing friend often says, disco should stay in the disco not be allowed to follow us into 'real life'. (George Whitmore, The Confessions of Danny Slocum (1980))

Diese Hochzeit Fire Islands, die in etwa mit den Stonewall Riots (1969) begann und Anfang der 1980er Jahre endete, wurde von zahlreichen Schriftsteller*innen literarisch eingefangen. Unter ihnen Larry Kramer, Edmund White und Felice Picano. Eine besondere Rolle nimmt dabei Andrew Hollerans Romandebüt Dancer from the Dance (1978) ein, das betörende Beschwörung und Schwanengesang zugleich ist. Hollerans poetische wie wehmütige Prosa durchzieht bereits ein Hauch der Vergänglichkeit, der das jähe Ende des sorglosen Lebens vorwegzunehmen scheint.

Denn mit dem Aufkommen von HIV und AIDS in den frühen 1980er-Jahren legten sich Trauer und Schwermut wie ein Wolkenschleier über Cherry Grove und Fire Island Pines. Zahlreiche Stammgäste verschwanden, die Körper der Strandschönheiten wurden kritisch beäugt. Wer zu schlank war, galt als krank. Einige ließen nach ihrem Tod ihre Asche von Freund*innen am Strand verstreuen, um so Teil der Dünen und Pinienwälder zu werden, in denen sie ihre Sommer verbrachten. 

Die damalige Alltäglichkeit des Todes auf Fire Island spiegelt sich beispielsweise in David Barnetts 1991 veröffentlichter Kurzgeschichte The Times as It Knows Us wider. Darin diskutieren sieben Bewohner eines Ferienhauses einen Artikel sowie Nachrufe auf an AIDS Verstorbene in der New York Times und ergänzen diese um Details, die von der Times ausgelassen wurden, etwa die Todesursache der Verstorbenen.

Zu dieser Zeit kamen zunehmend mehr lesbische Frauen und Paare auf die Insel. Zwar urlaubten auch vorher schon Lesben auf Fire Island, etwa Patricia Highsmith, Jane Bowles und Carson McCullers, die 1950 Cherry Grove besuchten. Die Zahl der schwulen Sommerfrischler war aber ungleich höher. Viele der neu Hinzugezogenen kümmerten sich um ihre an AIDS erkrankten Freunde, wie Parker Sargent in seinem Film Grove Girls (Abre numa nova janela) (2019) dokumentiert.

Auch die fehlende Diversität in Cherry Grove und Fire Island Pines, die seit Langem von Schwarzen queeren Aktivist*innen kritisiert wurde, fand in den Achtzigern immer stärker literarisch Ausdruck. So bezeichnete Joseph Beam, ein enger Freund Essex Hemphills (Abre numa nova janela), das schwule weiße Bürgertum der Ostküste als "the incestuous literatti of Manhattan and Fire Island" (1986). Eine Kritik, die sich zwei Jahrzehnte später auch in Michael R. Jacksons mit dem Pulitzer Preis ausgezeichneten Musical A Strange Loop (2019) wiederfindet. Jacksons Erzähler empfindet sich zwischen all den normschönen Strandflaneuren als "too fat and Black to live at all."

Mit der Entwicklung erster antiviraler Therapien Ende der 90er sowie der Verfügbarkeit von PrEP ab den späten 2010er-Jahren, wurde Fire Island wieder  zu einem Zentrum ausgelassenen queeren Lebens. Vielleicht noch stärker als zuvor wurde jedoch sichtbar, dass dieser Ort nicht allen offen steht. Die Preise für Unterkünfte stiegen stark an, die Glorifizierung athletischer Körper scheint nach wie vor in vollem Gang und eine stärkere Diversität nur in langsamer Entwicklung begriffen.

All diese Dynamiken thematisieren auch Joel Kim Booster und Andrew Ahn in Fire Island (2022), ihrer queeren Filmadaption des Jane-Austen-Klassikers Stolz und Vorurteil. Darin besucht der von Kim Booster gespielte Protagonist Noah, ein attraktiver asiatisch-amerikanischer Anfangdreißiger, gemeinsam mit seinen Freund*innen ein letztes Mal die Insel, bevor das Haus ihrer Gastgeberin verkauft wird. Auf dem Weg zu einer Privatparty kommentiert er süffisant aus dem Off: 

"A lot of people think you have to be successful, white and rich, with 7 percent body fat to vacation on Fire Island."   

Doch auch Ahn und Kim Booster verzichten schlussendlich nicht darauf, ihre Kamera bewundernd an den gestählten Körpern ihres Ensembles entlanggleiten zu lassen. Denn Noah verfügt zwar über begrenzte finanzielle Mittel und beeindruckende Bücherstapel (auf denen sich unter anderem Austen und Jeremy Atherton Lins Gay Bar (Abre numa nova janela) befinden), sieht aber aus wie ein Abercrombie-&-Fitch-Model. Sein Love Interest ist indes ein wohlhabender NGO-Anwalt, der sowohl einen muskulösen Körper als auch einen ausgewählten Literaturgeschmack aufbietet und sich jederzeit zu Diskussionen über Alice Munro hinreißen lässt. 

Die Attraktivität Fire Islands als (literarischer) Topos und (Handlungs-)Ort scheint indes ungebrochen. Die Kombination aus (vermeintlichem) queerem Paradies, freier Sexualität und Natur wirkt insbesondere vor dem Hintergrund der immer rigideren, queerphoben Gesetzgebung in einer Vielzahl US-amerikanischer Staaten mitunter wie ein Paralleluniversum. Doch kein Paradies ist von Dauer. Erst recht nicht, wenn es auf Sand gebaut ist. Klimawandel und Gentrifizierung bedrohen das prekär gelegene Eiland. Wahrscheinlich ist es gerade diese Vergänglichkeit, die die Anziehungskraft jenes Königreichs aus Sand ausmacht. (Tobi)

Tópico Essays

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