25x Klaviermusik, die du noch nicht kennst
Die Instrumentenreihe in den Schleichwegen: Diesmal mit Musik für das Klavier – vom 18. Jahrhundert bis heute

In den Schleichwegen zur Klassik stelle ich Musik aus Klassik und Umgebung vor, die du vielleicht noch nicht kennst. Und führe dich durch die Musik: Worauf soll ich hören? Wie kann ich diese Musik besser verstehen und damit mehr genießen? Damit ich auch weiterhin auf die Schleichwege gehen kann, unterstütze mich auf Steady mit einer Mitgliedschaft! (Abre numa nova janela)
Auf diese Episode habe ich mich sehr gefreut und ich hoffe, man merkt es ihr an! Nach Musik für Cello und Klarinette geht es heute ums Klavier. Meine Lieblingsmusik hat eine deutliche Schlagseite: es ist einfach sehr sehr viel Klavier im Spiel. Das hat es gleichermaßen leicht und schwer gemacht, eine gute Auswahl zu treffen. Schwer war es, weil ich euch so viel tolle Klaviermusik vorstellen möchte; leicht war es, weil wir ja auf den Schleichwegen sind, weshalb ich alle großen Namen erstmal streichen konnte.
Wenngleich die Auswahl mal wieder sehr eklektisch und wild ist, es gibt doch eine Klammer für die 25 Stücke: Sie sind diesmal nicht nach Vibes, sondern fast genau chronologisch sortiert vom 18. Jahrhundert bis heute (vorher gab es einfach noch kein Klavier). Und weil jede Musik in einer Tradition steht, gibt es hier natürlich Bezüge galore. Manchmal weise ich darauf hin, wer hier wen im Kopf hatte (oder im Herzen) beim Komponieren. Aber beim Hören kommen einem vielleicht auch selbst Assoziationen.
Es sind aber trotz meiner Vorliebe fürs Abseitige drei der üblichen Verdächtigen dabei: Bach, Beethoven und Mozart. Aber aus gutem Grund! Bach kommt vor, aber einmal als sein Sohn Carl Philipp Emanuel Bach mit einem Cembalokonzert, das Michael Rische auf einem modernen Konzertflügel spielt. Und ein andermal als sein weit berühmterer Vater Johann Sebastian, aber in einer erst im 20. Jahrhundert entstandenen Bearbeitung von Ferruccio Busoni, der Bach-Cembalokonzerte umgearbeitet hat für Klavier und fettes Orchester und damit aus Peak Barockmusik gewissermaßen romantische Klavierkonzerte gemacht hat. Indem man die Bachwerke ihrer ursprünglichen Instrumentierung entreißt, merkt man, wie absolut diese Musik ist: Mit Bach kannst du alles machen, diese Musik braucht weder ein spezielles Instrument noch eine zwingende Interpretation – die Musik dieses eifrigen Auftragsarbeiters gehört heute allen.
Mozart kommt vor, weil sein Zeitgenosse und mein Liebling Johann Nepomuk Hummel die Klavierkonzerte seines weit berühmteren Zeitgenossen für kleine Besetzung umgearbeitet hat, was für einen unglaublich durchsichtigen Klang sorgt – man hört die Struktur dieser Musik noch klarer, wenn sie nur von einer Handvoll Instrumente gespielt wird. Mehr zu dieser Bearbeitung hier (Abre numa nova janela).
Und Beethovens 5. Klavierkonzert ist dabei, weil Robert Levin es auf einem Hammerklavier einspielt, zudem wird er auf historischen Instrumenten begleitet. Man hört sofort, das hier etwas anders ist: Das Klavier hat starke Honkytonk-Vibes, aber so klangen diese Instrumente zu Beethovens Zeiten. Die Aufnahme klingt gleichermaßen hilflos wie selbstbewusst, sie ist eine echte Herausforderung an unsere Steinway-genormten Ohren.
Und damit zu den unbekannteren Größen: Der bereits erwähnte Hummel kommt mit seinem 3. Klavierkonzert zwischen Klassik und Romantik vor – das Stück fängt mit einem ausgedehnten Blechbläser-Part an. Hier gibt es mehr zu dem Werk (Abre numa nova janela).
Wir sind nun am Anfang des 19. Jahrhunderts und auf Hummels Weg von der Klassik in die Romantik spaziert dann Carl Maria von Weber mit seinem 1. Klavierkonzert weiter (ich habe den langsamen Satz ausgewählt). Es folgt ein ergreifendes Übungsstück von Fanny Hensel (die manche vielleicht eher als Fanny Mendelssohn kennen), der Schlusssatz von Cramers 8. Klavierkonzert, einem Rondo (das heißt, es gibt ein musikalisches Motiv, das sich wie ein Refrain wiederholt, während dazwischen andere Dinge passieren). Mehr zu Cramer hier (Abre numa nova janela).
Das 1. Klavierkonzert von Camille Saint-Saëns [ka-MIH ẞÄ-ẞOHNS] von 1858 ist nicht nur das erste relevante Klavierkonzert in der französischen Musikgeschichte, es ist auch deshalb in der Liste, damit ihr mehr Saint-Saëns hört (und nicht nur seinen “Karneval der Tiere”).
Dann machen wir einen großen Sprung in die 1890er zur Salonmusik von Cécile Chaminade (Abre numa nova janela) und mit dem romantischen Klavierkonzert von Moritz Moskowski (Abre numa nova janela) (das ich nicht müde werde zu empfehlen) und dem schwelgerischen (und einzigen) Klavierkonzert von Alexander Skrjabin verlassen wir das 19. Jahrhundert.
1901 erschien die Klaviersonate von Paul Dukas und wow, wo sind wir denn hier gelandet? Diese Musik ist so beunruhigend modern, als ob dieser französische Komponist den Jazz vorausgeahnt hätte – und auch rhythmisch passieren da Dinge, die nicht gerade das Wohlbehagen fördern. Vor der grollenden Begleitung versucht eine sich noch romantisch gebende Melodie abzuheben, aber es ist nicht leicht. Ein grooviger Grusel, geniale Musik und sehr sehr unbekannt.
Unbekannt ist auch der Belgier Arthur De Greef, aber seine Klavierkonzerte atmen ganz unkritisch einen spätromantischen Geist. Das ist nichts Schlechtes! Dann kommen die “Antiche Danze” von Ottorhino Respighi. Über ihn werden wir in späteren Episoden noch sprechen müssen, weil er so einen großen Einfluss darauf hatte, die Menge der Klangfarben des Orchesters zu vergrößern. In dieser Liste ist er aber einfach mit einem schlichten Klavierstück auf Basis alter italienischer Musik für Laute – “neoklassizistisch” sagt man.
Auf etwas Altes greift dann auch Charles Ives mit seiner Concord-Klaviersonate zurück (erschienen 1920), nämlich auf den berühmten Anfang von Beethovens 5. Sinfonie. Ansonsten schaut Ives aber nicht nur nach vorn, sondern auch zur Seite, auf amerikanische Traditionals, Kirchenlieder und was ihm noch alles gleichzeitig eingefallen ist. Mit diesen wilden Zitaten sind wir dann wirklich im 20. Jahrhundert angekommen.
Fast zur gleichen Zeit “Iberia” schuf Isaac Albéniz zum Ende seines Lebens vielleicht das Hauptwerk spanischer Klaviermusik des 20. Jahrhunderts. Eine komplexe, moderne Arbeit über die musikalischen Traditionen seiner Heimat. Das muss man mal gehört haben, denn es ist so typisch Spanisch wie es sich jeglichen Klischees konsequent verweigert. Großartige, kompromisslose Musik.
Nadia Boulanger, die womöglich folgenreichste Musikpädagogin des 20. Jahrhunderts, muss auch vorkommen, hier schrieb ich schon mal über sie (Abre numa nova janela). Ebenso Amy Beach, die erste afroamerikanische Komponistin, deren Werke von großen Orchestern aufgeführt wurden. Auch von ihr gibt es kleine Klavierstücke, klein, aber suggestiv und toll. Und dann nochmal französische Musik, diesmal von Francis Poulenc, den ich sehr verehre: Sein “Concert champêtre” (“Ländliches Konzert”) von 1929 war ursprünglich auch für das Barockinstrument Cembalo gedacht, was mit seinem frechen, modernen Gestus geradezu absurd kontrastiert. In der Playlist ist aber eine Version für Klavier, weil viele Leute von dem Instrument (zu Unrecht) genervt sind. (Das Cembalo lassen wir in einer späteren Ausgabe zu seinem Recht kommen.)
Für seine 3. Klaviersonate holt Viktor Ullmann sich das musikalische Material aus einer besseren Zeit. Der letzte Satz der 1940 geschriebenen Sonate besteht aus Variationen über ein Thema seines Landsmanns Mozart. Hier wird die klassischste Klassik auf kunstvollste dekonstruiert. Ullmann wird im Konzentrationslager Auschwitz ermordet.
Wie viel breiter, tiefer und größer das hiesige Kulturleben heute wäre, wenn nicht so viele Menschen den Faschismus attraktiv fänden. Aber keine Nation ist gefeit vor den autoritären Verlockungen, auch Amerika nicht. Dort komponierte 1953 Leroy Anderson ein Klavierkonzert, über das ich hier schon schrieb (Abre numa nova janela). Es ist ein Inbegriff musikalischer Unbeschwertheit. Auch hier werden Gesten anderer Komponisten verarbeitet, in seinem Fall die russischen Romantiker wie Rachmaninow.
Zu den eigenen amerikanischen Traditionen gehört der Ragtime, ein Vorläufer des Jazz. William Bolcom komponierte Stücke in diesem Stil, 1970 den wunderbaren “Graceful Ghost Rag” über seinen Vater (Abre numa nova janela).
Im gleichen Jahr hat das erste Klavierkonzert von Einojuhani Rautavaara (Abre numa nova janela) Premiere. Wie Anderson bezieht sich der finnische Komponist auf die großen russischen Klavierkonzerte, wenn auch mit grotesker (aber sehr unterhaltsamer) Fratze.
Und mit dem Klavierkonzert von Thomas Adès, das 2019 fertig wird, kommen wir in der Gegenwart an. Adès macht Musik auf dem schmalen Grat zwischen Gefälligkeit und Gelehrigkeit. Gleich in den ersten vierzig Sekunden seines Klavierkonzerts zeigt er, was rauskommen kann, wenn ein Engländer vom Boston Symphony Orchestra den Auftrag bekommt, ein “proper concerto” abzuliefern. Unfazed ist das Wort, das mir dazu einfällt: Unbeeindruckt, unbeirrt. Hier weiß jemand, das Publikum nicht unter seinem Niveau zu unterhalten.
Wie bei allen Listen in den Schleichwegen gilt hier kein Anspruch auf Vollständigkeit, im Gegenteil. Etliche bedeutende Komponistinnen und Komponisten fehlen komplett (darunter Bartók, Ligeti und Unsuk Chin), aber das ist nicht schlimm, weil ich hier gar keinen Kanon aufschreiben möchte, sondern nur Startpunkte für eigene Musikentdeckungen geben will. Und außerdem kann ich mich diesen Stücken dann später in größerer Ausführlichkeit widmen…
Und damit verabschiede ich mich in die Sommerpause. Ich wünsche viel Freude mit 25x Klavier! Im Folgenden verlinke ich die komplette Klavierplaylist auf Spotify, Apple Music und YouTube:
https://open.spotify.com/playlist/5UB7uJyi9SSSFl3wZMmGQA?si=9f00821b27fb4a1d (Abre numa nova janela)https://music.apple.com/de/playlist/25x-klavier-schleichwege-zur-klassik/pl.u-NpXm6Zat6bZ6D (Abre numa nova janela)https://youtube.com/playlist?list=PLBOdcxZKcdRXSHqNCnBaQWze052vgmIdu&feature=shared (Abre numa nova janela)Herzliche Grüße
Gabriel
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