Neues Buchprojekt: Erinnerungssplitter

Mit dem neuen Buchprojekt „Erinnerungssplitter“ können mich meine LeserInnen einmal von einer ganz anderen Seite kennenlernen. Es geht um meine Kindheit, die Nachkriegszeit, die Zeit, des sogenannten Wirtschaftswunders, die Zeit der „Gnade der späten Geburt“, des Vergessens und Verschweigens.
Doch angesichts der aktuellen politischen Entwicklungen schießen mir immer öfter Erinnerungssplitter durch den Kopf, getriggert von Politikeraussagen aber auch von alltäglichem kaum noch unterschwelligem Rassismus, von Wachstumsparolen und Sozialabbau, von geistigen Brandstiftern aus den Reihen der sogenannten bürgerlichen Mitte. Ja, es sind nur Erinnerungssplitter aus meiner Kindheit, subjektiv, verzerrt und schon gar nicht beispielhaft für „das Ganze“, für meine Generation. Doch jeder dieser Erinnerungssplitter ist ein Hinweis, über die persönlichen Erlebnisse der Vergangenheit zu reflektieren, Hintergründe zu recherchieren, Informationen zu sammeln, Zusammenhänge zu verstehen.
Natürlich ist es ein sehr persönliches Projekt, aber es ist alles andere als eine Biografie oder eine Familiengeschichte, vielmehr verstehe ich meine Ausführungen als Zeitzeugenbericht der ersten beiden Nachkriegsjahrzehnte, eine Mischung aus persönlich Erlebtem und historischen Hintergrundinformationen. Gerade weil es sich naturgemäß um eine eben an meiner Kindheit orientierte selektive „Geschichtsschreibung“ handelt, erscheint sie mir besonders spannend. Denn sie zeigt nicht nur ein Beispiel für die Wahrnehmung der Menschen in einer Zeit, als der Zugang zu Informationen im Gegensatz zu heute medial recht begrenzt war und die sich hinsichtlich sozialer Strukturen, Kommunikation, Mentalität und Arbeitswelt gravierend von der heutigen Zeit unterschied. Und doch ist es eine Zeit, in der unser Hier und Jetzt, unser Denken und Handeln und viele unserer heutigen gesellschaftlichen Probleme ihren Ursprung haben.
Wenn ihr liebe LeserInnen meine Reise in die Vergangenheit auch so spannend findet, lasst es mich bitte wissen und scheut euch nicht, den Ansatz, den ich gewählt habe, mit mir zu diskutieren. Mit dem folgenden Text möchte ich euch einen ersten Eindruck zu Art und Konzept des Buches vermitteln:
„Das dumpfe Donnern nähert sich unaufhaltsam, angsteinflößend. Meine Mutter, meine Schwester und ich schauen aus dem Fenster unserer Mansarde auf die kopfsteingepflasterte Straße, die ebenso wie die Luft und unser Haus vor dem, was da kommen mochte, zu zittern beginnt.
Der Jeep, der als erstes auftaucht, passt so gar nicht zu dem ohrenbetäubenden Lärm, der nun die Straße erfüllt. Die vier Soldaten darin mit den blank geputzten Helmen, vorsichtig umherschauend, misstrauisch zu uns hinaufschauend, wirken nicht sonderlich bedrohlich. Doch was dem blauen Wimpel an der ewig langen, hin und her schwankenden Antenne des Jeeps durch die vibrierende Straße folgt, ist eine Zurschaustellung von Macht und Zerstörungskraft, einschüchternd und faszinierend zugleich. Panzer um Panzer donnert die Kolonne unter unserem Mansardenfenster vorbei, betäubend, nicht nur der Lärm der gewaltigen Motoren und der auf das Pflaster krachenden Ketten.
Als der Jeep am Ende der Kolonne längst unseren Blicken entschwunden ist und sich der Lärm ebenso wie der Dieselgestank verflogen hat, erklärt meine Mutter wenig begeistert: „Das sind die Amis, die haben da hinten ihre Kaserne.“
Da hinten, das waren die McNair Barracks, das Hauptquartier der amerikanischen Berlin Brigade, das 1945 auf dem Gelände der ehemaligen Telefunken-Werke in der Goerzallee eingerichtet wurde. In Lichterfelde gab es noch zwei weitere Standorte: die Andrews Barracks in der Finkensteinallee und die Roosevelt Barracks im Garde-Schützen-Weg. Und der kürzeste Weg zwischen „Roosevelt“ und den McNair Baracks führte durch das sogenannte Schweizer Villenviertel, durch die Straße, an der wir damals wohnten. Und so war es nicht das letzte Mal, dass Panzer-, LKW- und andere Militärkolonnen der Amerikaner durch unsere Straße donnerten, denn Anlässe dazu gab es in der Zeit, in die ich Sie in diesem Buch entführe, genug.
Die oben beschriebene Szene, die sich mir bis heute eingeprägt hat, dürfte ich etwa 1955 als Vierjähriger erlebt haben. Doch das ist nicht der einzige Gedankensplitter, der mir aus der kurzen Phase (bis 1958), in der ich in der Mansarde gewohnt habe, gelegentlich durch den Kopf schwirrt. Da gibt es Bilder von der kleinen Wohnküche, dem Bollerofen, oder der Couch, auf der mein Vater unter einer Decke meiner Schwester und mir Geschichten vorgelesen hat. Da erinnere ich mich an die kleine Rumpelkammer, die für uns Tabu und damit besonders geheimnisvoll war oder den riesigen Trockenboden, der sich direkt an unsere Wohnung anschloss.
Unsere Wohnung, welch ein großes Wort für die Notunterkunft auf dem Dachboden, die meine Eltern kurz nach ihrer Heirat Mitte 1948 beziehen konnten. Für mich war die Wohnung ein verwunschenes Reich. Durch die Luken vom Trockenboden hatte ich einen tollen, phantasieanregenden Blick über die zwischen dichten Baumkronen hervorragenden Ziegeldächer des Villenviertels. Und wenn ich aus dem Mansardenfenster schaute, so fühlte ich mich wie in einer Burgkemenate, unangreifbar, selbst, wenn die Panzer durch die Straße rollten.
Für meine Eltern war das sicherlich eine harte Zeit, zumal sie ja einiges hinter sich hatten, Kriegsdienst, ausgebombt, Flucht und sicherlich vieles mehr, worüber sie mit ganz wenigen Ausnahmen nie redeten. Und doch ging es ständig bergauf, die Nachkriegszeit bot den Menschen viele Chancen, die Vergangenheit hinter sich zu lassen, selbst sagen wir einmal unrühmliche Vergangenheiten. Denn spätestens mit der Währungsreform 1948 begann das sogenannte Wirtschaftswunder, eine Zeit der scheinbar unbegrenzten Möglichkeiten in die meine Schwester und ich hineingeboren wurden. Man blickte in die Zukunft, konzentrierte sich auf Arbeit und Wohlstand und ließ die (Nazi) Vergangenheit lieber ruhen. Dabei befanden wir uns mittendrin.
Gut einen Kilometer entfernt, schräg gegenüber den McNair Barracks lag das ehemalige Lichterfelder-Außenlager des KZ- Sachsenhausen. Als ich zur Welt kam, waren die Baracken schon abgerissen und durch ein Lager für Senatsreserven ersetzt worden, doch von 1942 bis 1945 waren hier Zwangsarbeiter inhaftiert, die für Bauvorhaben der SS und Aufräumarbeiten in Berlin eingesetzt wurden. Als die Rote Armee das Lager am 24. April 1945 erreichte, hatte die SS die rund 1500 Insassen bereits ins KZ-Sachsenhausen verbracht und von dort auf die Todesmärsche in Richtung Ostsee geschickt. …“