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Schwimmflügel

Bei Schwieger-Oma an der olympischen Riviera.

Die Welt, eine permanente Erschütterung.

Aber der Olymp steht noch. Das ganze Massiv.

An den Stränden davor: Europäische Tourist*innen Liege an Liege, die ihr Fett bräunen. Hoffentlich bleibt es beim Fett. Zumindest im Urlaub scheint friedliche Koexistenz auf engstem Raum möglich.

Über den Strand fliegen täglich Apache-Helikopter, zu Übungszwecken. Weiter draußen über dem Wasser: Überschallflieger. Meine Tochter in Schwimmflügeln. Ich neben ihr in der Brandung, plötzlich in die 80er-Jahre versetzt. Überschallflieger über der Schaukel, zur Abschreckung. Kalter Krieg. Das klang gefährlich, in meinen Kinderohren. Fast so gefährlich wie Tschernobyl.

Mit meiner Tochter schwimmen üben, in einem Meer, das gar nicht so weit von hier auf die Strände des Gaza-Streifens trifft, das Ufer Syriens, des Libanons, auch Israels, auch Tunesiens, Libyens, Algeriens.

An einem Strand eines Landes stehen, in dem die Demokratie erfunden wurde. An einem Strand, ein bisschen wie gegenüber. Grenzenlos stehen wollen, an diesem Strand. Aufs Wasser schauen. In den Himmel, mit seinem Lärm. Auf die fast nackten Leiber mit den Streifen von Schwimmkleidung über Brüsten, Vulven, Penissen, Hintern.

Einen sieben- oder achtjährigen Jungen sehen, der von seinen Eltern angewiesen wird, in die auslaufenden Wellen am Strand zu pinkeln. Weil sie nicht in einer der vielen Tavernen entlang des Strands nach einem Klo fragen wollen? Weil das so üblich ist, wo sie herkommen? In ihrer Familie? Weil Jungs früh lernen sollen, das Terrain um sie her rücksichtslos für die eigenen Bedürfnisse zu nutzen? Warum? Hygienisch macht es auf eine Art Sinn, aber. Beim Schwimmen ins Wasser pinkeln ist etwas anderes. Das macht meine Tochter auch. Wie wächst dieser Junge auf? Was lernt er? Was wird er nie mehr verlernen? Das Mittelmeer, ein riesiges Water Closet? Begreift er es so? Ist das sein Bild vom Meer, in diesem Moment des Pinkelns? Was bringen wir unseren Kindern bei?

Mit meiner Tochter fische ich beim Schwimmen üben hier und da Plastik aus dem Wasser. Wir werfen es in die Mülleimer der Beach-Clubs. Sehr deutsch. Denken wahrscheinlich einige. Die Beach-Clubs vor Ort kümmern sich nur nachlässig um den Müll am Strand. Um Zigarettenkippen gar nicht. Die überall im Sand stecken, zwischen den Steinen liegen. War ich auch einmal so rücksichtslos, damals, als ich noch rauchte? So naiv? So geprägt? In Australien ist mir das Verbot, Zigarettenkippen auf den Boden zu werfen im Jahr 2000 zum ersten Mal begegnet. Da hatte ich schon einiges angerichtet. Zum Glück konnte ich es verlernen, erst das eine, dann das andere.

Was müssen wir verlernen, um wieder rücksichtsvoll miteinander umzugehen? Was hält uns zusammen? Was erhält die Demokratie, die uns frei sein lässt?

„Wer in der Demokratie die Wahrheit sagt, wird von der Masse getötet.“ Platon.

„Immer sind es die Schwächeren, die nach Recht und Gleichheit suchen, die Stärkeren aber kümmern sich nicht.“ Aristoteles.

„Aus der Demokratie entwickelt sich, wenn Freiheit im Übermaß bewilligt wird, die Tyrannei.“ Platon.

„Ich habe überhaupt keine Hoffnung mehr in die Zukunft unseres Landes, wenn einmal unsere heutige Jugend die Männer von Morgen stellt. Unsere Jugend ist unerträglich, unverantwortlich und entsetzlich anzusehen.“ Aristoteles. Und: „Ungebildete Menschen bringen bei jeder Gelegenheit Sprichwörter an; denn solche Gemeinplätze haben den Vorteil, der mangelhaften Bildung der Zuhörer zu entsprechen.“ Aristoteles.

Trotzdem.

Perikles: „Die Demokratie darf die Staatsmacht nicht einer Minderheit, sondern nur dem ganzen Volke anvertrauen. Die Gleichheit vor dem Gesetz bedingt, dass alle Mitbürger(*innen) die gleichen Rechte genießen, dass kein Volksteil seine Sonderinteressen auf Kosten der übrigen Bürger(*innen) durchzusetzen versucht.“ Und: „Zum Glück brauchst du Freiheit, zur Freiheit brauchst du Mut.“

Was sagten die Frauen des antiken Griechenlands? Was hätten sie geschrieben? Wie sähe die Welt heute aus, wenn Frauen seit der Antike hätten mitregieren, mitbestimmen können?

Es ist schwül. Dunkle Wolken brauen sich über dem Olymp zusammen. Es donnert. Zeus schleudert einen Blitz. Genervt, weil er heute und auch am kommenden Wochenende mit der Care-Arbeit dran ist? Was, wenn Hera sich mal die sexuelle Freizügigkeit von Zeus erlaubt hätte?

Müde von Mythen im Sand liegen. Wütend auch. Und geil von der Sonne.

Szenenwechsel. Ich stehe vor dem Heiligtum der Isis, Göttin der Geburt und Wiedergeburt. In Hotpants stehe ich, bei 30 Grad im Schatten unter einem Walnussbaum. Schaue ins Quellwasser der Tempelanlage. Eine Herde junger Priesteranwärter marschiert in langen Hosen vorbei, ein orthodoxer Priester vorne, einer hinten, beide in Schwarz mit Man-Bun. Ich beiße in einen Pfirsich, der Saft läuft mir am Kinn entlang, tropft auf den Boden. Ich beiße und kaue und schaue. Überlege, was die Jungen da noch verlernen können, ohne “entsetzlich anzusehen” zu sein. Einer der Priester starrt mich an. Vielleicht, weil ich schaue. Den Blick erhebe. Ich starre zurück. Wische mir mit dem Unterarm den Saft vom Kinn. Fülle dann meine Trinkflasche neben ihm am Trinkwasserbrunnen. Raum einnehmen. Als Frau. Was immer das auch sein soll: „Frau“. Raum einnehmen, das lerne ich, seit ich 40 bin. Das fällt mir mit jedem Monat leichter. Weil Frauen ab 40 aufhören, zu existieren, angeblich. Ich teste das, im Raum. Das Gesellschaftsnarrativ. Steht mir nicht länger im Weg. Erst wog die 4 vorne, dann spürte ich die Befreiung. Weg mit all den ERzählungen. Ich bin ü 40. Ich kann jetzt in Pfirsiche beißen und während mir der Saft vom Kinn tropft Patriarchen in die Augen sehen. Ich kann sie mit ihren Narrativen konfrontieren. Die ich ihnen längst nicht mehr abnehme, denen ich nicht mehr glaube und die ich abgelegt habe wie Ketten. Ich fühle mich leicht. Mein Fahrwasser trägt mich.

Ich sehe die Anarchie weltweit. Die entstanden ist, weil jahrtausendealte Narrative ins Wanken geraten sind, bröckeln, sich auflösen. Es gibt kein Zurück. Die Chance ist nicht die Schamlosigkeit, die Chance ist die Freizügigkeit.

Meine Tochter mit ihren Schwimmflügeln, die gar nicht mehr aus dem Wasser will. Der heiße Sand. Die heiße Luft. Die Schönheit des giftigen Oleanders in voller Blüte. Der Duft der Feigenbäume, die allmählich reifenden Früchte. Die Steine, die Wasserschuhe, die Beine in den Wellen.

Überall Badende. Lieben sie das Meer?

Ich höre jemanden sagen, der Fisch hier sei gut. Ich höre jemanden sagen, das Wasser sei warm. Ich höre jemanden etwas sagen und verstehe die Sprache nicht. Und wieder und wieder und verstehe auch diese Sprache nicht. Das ist das angenehme am Urlaub, denke ich manchmal, das man die Sprache nicht versteht und beginnt, sich anders zu verständigen, mit Händen, mit Füßen.

Ich höre jemanden sagen, jemand habe gesagt, man solle Gaskocher kaufen, für den Ernstfall, für den Kriegsfall. Ein paar Säcke Reis einlagern, Konserven. Manche Leute machen sich viele Gedanken.

Ich vertraue meinem Mund. Dem Pfirsich. Für den ich keinen Gaskocher brauche. Mein Mund ist viel mächtiger als ein Atombunker. Ich kann ihn weit aufmachen. Der Saft, der mir vom Kinn tropft, lässt die wilden Kräuter wachsen, aus denen dieser besondere Tee gemacht wird. 33 Kräuter, von Hand gesammelt, wie die Dame im Kräuterladen erklärt. Ich probiere aus einem Plastikbecher, der hier immerhin nicht im Meer landet – und in ein paar Jahren ein Pappbecher sein wird, davon bin ich überzeugt. Weil alles irgendwann aufhört zu rauchen. Wenn ich den Willen aufbringe.



 

 

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