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Autismus über 50

Während internationale Studien zeigen, dass bis zu 90 % der Autist:innen über 50 nie erkannt werden, feiern sich manche Unikliniken dafür, dass sie „die meisten Hilfesuchenden ohne Diagnose“ wieder nach Hause schicken.

Was als Qualitätsmerkmal verkauft wird, ist in Wahrheit Gatekeeping auf Kosten Betroffener – und eine Haltung, die wissenschaftlich längst widerlegt ist.

Die neue Übersichtsarbeit von Stewart & Happé (2025) zur Situation in England zeigt glasklar: Nicht Überdiagnostik, sondern massive Unterdiagnose ist das eigentliche Problem. Und genau das hat fatale Folgen für Gesundheit, Lebensqualität und Versorgung - und in Deutschland sieht es keinesfalls besser aus!

Die neue Übersichtsarbeit von Stewart & Happé (2025; Annual Review of Developmental Psychology, doi:10.1146/annurev-devpsych-111323-090813) rückt ein Thema ins Scheinwerferlicht, das in Versorgung und Forschung bisher viel zu oft übersehen wurde:

Autistisches “Altern”

. Was passiert jenseits von Schule, Ausbildung und frühem Berufsleben? Wie entwickeln sich Gesundheit, Lebensqualität und kognitive Funktionen in der Lebensmitte (40–64) und im höheren Alter (65+)? Und welche Versorgungsrealität steht diesen Entwicklungen gegenüber? –

Der Review bündelt internationale Daten und zeichnet ein klares, leider auch unbequemes Bild: Unterdiagnose, Versorgungsbarrieren und vermeidbare Risiken ziehen sich wie ein roter Faden durch die Lebensläufe vieler erwachsener und älterer Autist:innen.

Schon die Basis ist entlarvend: Während die weltweite Prävalenz stabil bei etwa 1 % liegt, bricht die dokumentierte Diagnoserate in höheren Altersgruppen drastisch ein. Für Großbritannien wird in den Gesundheitsdaten sichtbar, wie stark die Untererkennung mit dem Alter ansteigt – bis hin zu extrem niedrigen Diagnoseraten bei älteren Frauen. Gleichzeitig zeigt der Review, dass strukturelle Hürden in der Versorgung, kumulierte Gesundheitsrisiken und soziale Isolation deutlich zunehmen, je weiter das Leben fortschreitet. Das Ergebnis ist kein „schicksalhaftes Leiden an Autismus“, sondern eine Summe aus fehlender Passung von Umwelt, Medizin und Unterstützung – mit realen, oft schweren Folgen.

Infobox: Kernzahlen aus dem Review

  • Prävalenz: ca. 1 % weltweit.

  • Unterdiagnose: Diagnoseraten sinken mit dem Alter massiv; bei älteren Frauen werden in UK extrem selten Diagnosen dokumentiert (die Autor:innen sprechen insgesamt von sehr hohen Unterdiagnose-Raten bei 50+).

  • Demenzen: In Teilstichproben zeigen sich Prävalenzen von ~31–35 % bei Autist:innen > 65 J., verglichen mit ~10 % in der Allgemeinbevölkerung.

  • Soziale Isolation: In einer Vergleichsstichprobe waren 20 % der autistischen Erwachsenen sozial isoliert vs. 4 % in der Kontrollgruppe; Einsamkeit steigt mit dem Alter vor allem in der autistischen Gruppe.

  • Schlaf & psychische Gesundheit: Höhere Raten an Schlafproblemen in Gruppen mit vielen autistischen Merkmalen; enge Verknüpfung mit depressiver Symptomatik.

  • „Biologisches Alter“: Hinweise auf beschleunigte Alterung bei Erwachsenen mit vielen autistischen Merkmalen (Dunedin-Kohorte, Alter 45).

Was die Daten wirklich sagen – und was nicht

Unterdiagnose statt „Mode“: Der Review führt vor, wie groß die Lücke zwischen realer Prävalenz und dokumentierten Diagnosen in mittlerem und höherem Alter ist.

Besonders deutlich ist der Drop bei Frauen: Mit jedem Lebensjahrzehnt wird die Wahrscheinlichkeit einer dokumentierten Diagnose geringer – ein indirekter, aber starker Marker für historische Fehldiagnosen (z. B. Depression, „Persönlichkeitsstörung“) oder schlicht unerkannte Fälle.

Das ist kein definitorischer Taschenspielertrick, sondern hat praktische Konsequenzen: Ohne Diagnose fehlt der Zugang zu passgenauer Psychoedukation, Nachteilsausgleichen, therapeutischer Planung und sozialrechtlichen Hilfen.

Gesundheitliche Last kumuliert: Quer durch die Studienlage zeigen sich bei autistischen Erwachsenen höhere Raten körperlicher (kardiometabolische Erkrankungen, Autoimmunität, chronischer Schmerz), psychischer (Depression, Angst) und sensorisch-regulatorischer Probleme.

Besonders wichtig im Alter: Schlaf. In groß angelegten Datensätzen berichten Menschen mit vielen autistischen Merkmalen signifikant häufiger Ein- und Durchschlafprobleme, geringere Erholsamkeit und schlechtere Schlafqualität – Befunde, die eng mit depressiver Symptomatik verknüpft sind. Der Review betont, dass Schlaf ein veränderbarer Hebel ist, der gezielte Interventionen im Autismus-Kontext rechtfertigt.

„Pace of aging“ und Demenz: Der Review verknüpft zwei Linien: Zum einen Hinweise aus bevölkerungsbasierten Kohorten, dass sich bei Erwachsenen mit vielen autistischen Merkmalen eine beschleunigte biologische Alterung abzeichnet (z. B. im Dunedin-Projekt). Zum anderen finden sich für diagnostizierte Gruppen auffällig hohe Demenzraten im höheren Alter (in Subgruppen ~31–35 % > 65 J.) – deutlich über dem Bevölkerungsniveau. Das ist kein Anlass für Alarmismus, aber sehr wohl ein Auftrag an Versorgung und Forschung: Früherkennung, Prävention, Anpassung von Settings und die Frage, welche modifizierbaren Faktoren (Schlaf, Bewegung, Gefäßgesundheit, soziale Einbindung) in dieser Population besonders wirksam sind.

Lebensqualität: weniger ein „Autismus-Problem“ als ein Umgebungsproblem: Über viele Studien hinweg berichten autistische Erwachsene eine niedrigere Lebensqualität als Kontrollen. Entscheidend ist, wodurch sie beeinflusst wird: Subjektive soziale Unterstützung, die Häufigkeit von Kontakten und ganz konkret Instrumentalunterstützung wirken als starke Prädiktoren. Das Alter selbst erklärte in einer großen Stichprobe die Lebensqualität nicht; viel entscheidender waren Depression und Angst – also behandelbare, kontextnahe Faktoren. Besonders interessant: In direkten Vergleichen ist die Bedeutung sozialer Verbundenheit für das Wohlbefinden in der autistischen Gruppe größer als in der Kontrollgruppe. Das widerspricht dem verbreiteten Missverständnis, Autist:innen seien „von Natur aus weniger sozial“ – es zeigt im Gegenteil, wie zentral passende soziale Resonanzräume für Gesundheit und Lebensqualität sind.

Übergänge treffen härter: Menopause, Arbeitsplatzwechsel, Ruhestand – diese Übergänge sind in der Allgemeinbevölkerung schon herausfordernd, bei Autist:innen oft besonders. Interviews mit älteren autistischen Erwachsenen berichten von stärkerer Symptomlast in der Menopause, administrativen Hürden beim Zugang zu Hilfen, Unsicherheit über Zuständigkeiten (Psychiatrie, Geriatrie, Autismusdienste) und sensorischen Barrieren in medizinischen Settings. Beim Ruhestand fällt auf, dass frühzeitige, ungeplante Ausstiege häufiger vorkommen – nicht selten ausgelöst durch Gesundheitskrisen. Hier fehlen Konzepte für neurodivergensensible Übergangsbegleitung.

Zum Mythos „ToM-Defizit = kein Masking = späte Diagnosen ausgeschlossen“

Ein oft gehörtes Argument lautet: „Wenn Theory of Mind (ToM) bei Autist:innen eingeschränkt ist, können sie gar kein Masking betreiben – also auch keine späte Erkennung vorspielen; ergo ist die Erwachsenendiagnostik überzogen.“ Das ist in zweifacher Hinsicht falsch.

Erstens zeigt der Review zur sozialen Kognition im Alter kein eindimensionales Defizitnarrativ. Es gibt Hinweise auf altersbezogene Veränderungen, teils sogar schützende Effekte auf ToM-Leistungen in bestimmten Aufgaben und Subgruppen. Mit anderen Worten: ToM ist kein statisches Alles-oder-nichts-Phänomen. Zweitens ist Masking kein Monolith, der ausschließlich auf expliziter Perspektivübernahme fußt. Menschen lernen implizit: durch Beobachtung, Imitation, Skripte, Routinen, Feedback – und durch den starken Verstärker soziale Sanktionen. Viele (besonders Frauen und nicht-binäre Personen) berichten von jahrzehntelangem Masking, das soziale Erwartungen reproduziert, ohne „echte“ ToM in jedem Moment leisten zu müssen. Masking widerspricht Autismus nicht – es erklärt späte Diagnosen, Erschöpfung, Burnout, Depression und somatische Stressfolgen. Wer Masking als Gegenargument gegen Autismus anführt, verwechselt klinische Oberfläche mit neurobiologischer Realität.

Versorgung als Nadelöhr: Zugang, Wissen, Ambiente

Wenn Komorbidität hoch, Schlaf gestört, sensorische Belastbarkeit niedrig und soziale Netze klein sind, dann entscheidet oft das Setting darüber, ob Menschen Hilfe erhalten. Der Review benennt Hürden, die älteren Autist:innen in Interviews schildern: mangelnde Kontinuität, Unklarheit über Zugangswege („Wer ist zuständig?“), geringe Autismuskompetenz in Erwachsenen- und Altersmedizin, sensorisch ungünstige Praxis- und Klinikräume. Die Empfehlungen sind nüchtern – und umsetzbar: Personal schulen, sensory-friendly Räume gestalten, klare Pfade zwischen Psychiatrie, Geriatrie und Autismusdiensten schaffen, proaktiv statt reaktiv begleiten. All das sind low-tech-Hebel mit hoher Wirkung.

„Überdiagnostik“ – eine selbstgemachte Nebelkerze

Vor diesem Hintergrund wirkt es bizarr, wenn namhafte Universitätsprofessor:innen und Leiter:innen von Hochschulambulanzen öffentlich von einer „Überdiagnostik“ sprechen – und sich mancherorts sogar damit rühmen, dass in ihren Ambulanzen die meisten Hilfesuchenden keine Autismusdiagnose erhalten.

Dieses „Qualitätssiegel“ wird auf Kongressen und in Weiterbildungen wiederholt, als sei Zurückhaltung per se ein Gütekriterium. Der internationale Datenstand erzählt eine andere Geschichte: massive Unterdiagnose, insbesondere ab 40 und besonders bei Frauen; hohe psychische und somatische Last, die ohne korrekte Einordnung schlechter behandelt wird; soziale Isolation und Versorgungsbarrieren, die Betroffene nachweislich krank machen. Wer in diesem Kontext „Überdiagnose“ ruft, verkennt nicht nur die Evidenz – er verwechselt Gatekeeping mit Qualität. Für die klinische Realität bedeutet das: Menschen verlieren Jahre, oft Jahrzehnte, in denen Zugang zu Diagnose, Nachteilsausgleich, Psychoedukation, angepasster Psychotherapie und einem verstehbaren Lebensnarrativ verwehrt bleibt.

Ich fordere die Fachgesellschaften wie die DGPPN und die Verbände auf, sich hier entschieden neu zu positionieren und Gatekeeping zu verhindern bzw. sich für mehr qualitätsorientierte Diagnostik und Behandlungsoptionen für die Betroffenen einzusetzen

Was jetzt zu tun ist – konkret und sofort umsetzbar

  1. Diagnostik für 40+ professionalisieren – mit geschlechtersensibler Perspektive und einem klaren Blick auf Masking, Komorbiditäten und Lebenslauf-Narrative.

  2. Schlaf priorisieren – systematisch screenen, nicht nur „mitschleppen“; Schlaf ist ein veränderbarer Hebel mit hoher Transferwirkung auf Stimmung, Kognition und Alltagsfunktion.

  3. Settings anpassen – sensorisch, kommunikativ, strukturell. Kontinuität der Ansprechpersonen ist für viele älteren Autist:innen kein Luxus, sondern Voraussetzung für Inanspruchnahme.

  4. Soziale Verbundenheit als Therapie-Ziel definieren – nicht im Sinne „mehr Smalltalk“, sondern als passende, energieschonende Resonanzräume; Daten zeigen, wie stark soziale Unterstützung Lebensqualität treibt.

  5. Masking als Risiko verstehen – nicht als Gegenargument, sondern als Erklärungsfaktor für späte Diagnosen, Burnout, Depression und somatische Beschwerden.

  6. Gegen „Überdiagnostik“-Rhetorik Stellung beziehen – fachlich, ruhig, mit Daten. Anerkennung von Autismus im Erwachsenenalter ist kein Trend, sondern überfällige Korrektur eines historischen Bias.

Fazit: Der Review ist kein Alarmschrei, sondern eine Einladung zur Ernüchterung – und zur Neuausrichtung. Autistisches Altern ist real, vielfältig und – bei richtiger Begleitung – entwicklungsfähig.

Die zentrale Botschaft lautet: Nicht Autismus macht krank, sondern unpassende Umwelten, Barrieren und das Ausblenden neurodivergenter Bedürfnisse.

Wer das anerkennt, kann Therapien und Versorgungsstrukturen so gestalten, dass Lebensqualität tatsächlich steigt: mit besserem Schlaf, weniger Overload, mehr sozialer Passung – und mit der Würde, die eine späte, aber richtige Diagnose verschafft.

Die Gegenrede von „Überdiagnostik“ wirkt in diesem Licht wie das, was sie ist: eine Nebelkerze. Zeit, sie auszublasen – mit Evidenz, Haltung und praktischen Verbesserungen.

Engagiert Euch in den Selbsthilfeorganisationen und -gruppen. Werdet aktiv in eigener Sache, damit sich hier endlich auch in Deutschland was ändern kann.

Hier nochmal als Video-Übersicht (ggf. zum Teilen) erstellt mit NotebookLM

https://youtu.be/eHlD-oL6YOc (Opens in a new window)

LG Martin 🧠💡🌈👥🗣️✨🔗🎨💬🚀
https://steadyhq.com/de/adhsspektrum/ (Opens in a new window)

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