Autismus und Gewichtszunahme unter Medikamenten
„Plötzlich zugenommen?“ – Wie Medikamente das Gewicht bei Autismus beeinflussen und warum Neuroleptika nicht die erste Wahl sein sollten

Von Dr. Martin Winkler, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie
"Ich esse gar nicht mehr als sonst – aber meine Hose passt plötzlich nicht mehr."
Solche Sätze höre ich häufig von jungen Menschen aus dem Autismus-Spektrum – besonders rund um den Übergang ins Erwachsenenalter oder nach Beginn einer neuen Medikation. Eine neue US-Studie hat diesen Zusammenhang nun systematisch untersucht – mit spannenden (und auch alarmierenden) Ergebnissen. Zeit für einen genaueren Blick auf das Zusammenspiel von Medikamenten, Gewicht und Autismus – und warum gerade der Einsatz von Neuroleptika kritisch zu hinterfragen ist.
🧮 Was ist der BMI – und was kann er (nicht)?
Der Body Mass Index (BMI) ist eine Zahl, die sich ergibt, wenn man das Körpergewicht (in Kilogramm) durch die Körpergröße (in Metern) zum Quadrat teilt.
Beispiel: 75 kg bei 1,70 m → 75 / (1,70 × 1,70) ≈ 25,95 → laut Standard-Kategorisierung: „Übergewichtig“.
ABER:
Der BMI unterscheidet nicht zwischen Fett- und Muskelmasse. Er ignoriert Körperproportionen, neurobiologische Besonderheiten, Bewegungsverhalten und Esskultur. Und: Bei neurodivergenten Menschen – etwa mit Autismus oder ADHS – kann er schnell von Medikamenten, hormonellen Besonderheiten oder Schlafstörungen beeinflusst werden.
Trotzdem nutzen viele Ärzt:innen den BMI als Richtwert – was gerade bei autistischen Jugendlichen zu Missverständnissen führen kann.
🧪 Was zeigt die aktuelle Studie zu Autismus, Medikamenten und BMI?
Die Studie von Hart et al. (2025) untersuchte 216 autistische Jugendliche und junge Erwachsene (AYAs, age 16–25), die in ein spezialisiertes Erwachsenen-Zentrum überführt wurden (CAST Clinic, Ohio (Öffnet in neuem Fenster)). Dabei wurden BMI-Werte und Medikamentendaten über mehrere Jahre hinweg ausgewertet.
📌 Zentrale Ergebnisse:
Der BMI stieg bei fast allen über die Jahre an.
Besonders rund um den Wechsel von der Kinder- in die Erwachsenenmedizin kam es bei vielen zu einem plötzlichen Gewichtssprung.
ADHS-Medikamente wie Methylphenidat oder Lisdexamfetamin waren bei 16-Jährigen mit einem niedrigeren BMI assoziiert (−1,63 kg/m²), dieser Effekt ließ aber pro Jahr um +0,38 kg/m² nach.
Antipsychotika (Neuroleptika) erhöhten den BMI anfangs deutlich (+0,84 kg/m²), der Zuwachs nahm mit den Jahren leicht ab (−0,18 pro Jahr).
SSRI/SNRI und andere Psychopharmaka zeigten keinen signifikanten Einfluss auf den BMI.
Das bedeutet: Der Einfluss von Medikamenten auf das Gewicht ist altersabhängig und dynamisch. Was mit 16 noch deutlich wirkt, kann mit 20 ganz anders aussehen.
💊 Neuroleptika bei Autismus – ein notwendiges Übel oder überflüssige Routine?
Antipsychotika (auch „Neuroleptika“) wie Risperidon, Aripiprazol oder Olanzapin werden bei Autismus häufig verschrieben – teils zur Reduktion von Reizbarkeit, Schlafproblemen oder sogenannten „herausfordernden Verhaltensweisen“. Aber: Diese Medikamente wirken ursprünglich auf das Dopamin-System und wurden für psychotische Erkrankungen wie Schizophrenie entwickelt.
Sie haben nachweislich starke Nebenwirkungen:
Gewichtszunahme (durch Appetitsteigerung, Insulinresistenz)
Bewegungsstörungen (Dyskinesien, Akathisie)
emotionale Abstumpfung
erhöhte Sedierung
langfristig erhöhtes Risiko für metabolisches Syndrom und Diabetes
(Quelle: Kaar et al., 2020)
Und dennoch: In vielen Leitlinien – vor allem aus den USA – sind sie als erste medikamentöse Wahl bei Autismus zugelassen, insbesondere bei Reizbarkeit (FDA-Zulassung für Risperidon und Aripiprazol ab 5 Jahren).
In der Praxis zeigt sich aber: Nicht das „Verhalten“ braucht Dämpfung – sondern die Ursache, z. B. Reizüberflutung, Schmerz, unverstandene Bedürfnisse – braucht Verständnis.
Neuroleptika sind keine Kommunikationserleichterer, sondern oft „Problemüberdecker“.
🎯 Was wäre ein besserer Behandlungsansatz – was ist der Goldstandard heute?
✅ 1. Nichtmedikamentöse, neuroaffirmative Interventionen
Psychoedukation für Familien & Fachkräfte
Reizabschirmung, Struktur, Autonomie
gezielte Unterstützung bei Exekutivfunktionen
Coaching-Ansätze, Skill-Training, ggf. Emoflex bei Stress
körperorientierte Verfahren bei Unruhe und Anspannung
✅ 2. Sorgfältig geprüfte ADHS-Medikation
Wenn zusätzlich ADHS besteht: Stimulanzien wie Methylphenidat, Lisdexamfetamin sind bei guter Begleitung oft hilfreich – auch bei Autist:innen.
Diese verbessern nicht nur Aufmerksamkeit, sondern teils auch Reizfilterung und Emotionsregulation – bei geringerem Risiko für Gewichtszunahme.
✅ 3. Krisenbezogener, befristeter Einsatz von Neuroleptika
Nur bei akuter Gefährdung oder massiver Übererregung – in niedriger Dosis und zeitlich begrenzt.
Regelmäßige Reevaluation: Was verändert sich? Was bleibt?
🛠 Was können Eltern und Betroffene konkret tun?
🧾 Verläufe beobachten
➡️ Führe ein einfaches Symptom- und Gewichtstagebuch. Kleine Trends sind oft aussagekräftiger als Einzelmessungen.
💬 Kritisch nachfragen
➡️ „Was genau soll das Medikament verbessern?“
➡️ „Welche Alternativen gibt es?“
➡️ „Gibt es einen Exit-Plan?“
📣 Symptome sind Botschaften, keine Fehler
➡️ Wenn Verhalten sich verändert, fragt: Was will es ausdrücken? Nicht: Wie kann ich es unterdrücken?
👣 Kleine Routinen, die Sicherheit geben
➡️ Tägliche Bewegung (auch barfuß im Garten zählt!), Rituale rund um Essen & Schlafen, Akzeptanz für neurodiverse Körpersignale.
🧠 Fazit: Medikamente sind Werkzeuge – keine Wundermittel
Die neue Studie zeigt: Gewichtszunahme bei jungen Autist:innen ist kein individuelles Versagen, sondern oft ein systemisches Phänomen – bedingt durch Alter, Medikamente und Versorgungsübergänge.
Neuroleptika können kurzfristig beruhigen, aber langfristig belasten. Ihr Einsatz sollte stets hinterfragt, begründet und begleitet werden.
Es ist Zeit für eine Medizin, die neurodivergente Entwicklungsverläufe ernst nimmt – ohne vorschnelle Pharmalösungen. Stattdessen: Mehr Zuhören. Mehr Begleiten. Mehr Vertrauen in Selbstregulation und neuroaffirmative Wege.
📚 Quellenangabe
Hart, L.C., Sirrianni, J., Rust, S., & Hanks, C. (2025). Varying Effects of Antipsychotics and Attention-Deficit Hyperactivity Disorder Medications on Body Mass Index among a Cohort of Autistic Youth. Journal of Pediatrics: Clinical Practice, 17, 200159. https://doi.org/10.1016/j.jpedcp.2025.200159 (Öffnet in neuem Fenster)