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🧠 Serotonin, ADHS & Hormone - ADHS bei Frauen und die Rolle vom Serotonin

Warum viele neurodivergente Frauen in ihrem Zyklus oder der Perimenopause aus der Balance geraten

Viele Frauen mit ADHS erleben es immer wieder:
Sie funktionieren gut – bis es plötzlich nicht mehr geht.
Sie fĂŒhlen sich stabil – bis der Körper kippt.
Sie arbeiten konzentriert – bis sie nicht mehr schlafen können, nicht mehr denken, nicht mehr fĂŒhlen wie vorher.

Oft kommt dieser Einbruch monatlich wieder. Oder er beginnt schleichend – irgendwann in den Vierzigern. Was viele nicht wissen: Das hat nicht nur mit ADHS oder Stress zu tun. Sondern mit Serotonin, Östrogen – und ihrem Zusammenspiel.

Eine neue Studie von Faraone et al. (2025) macht deutlich, warum wir ĂŒber ADHS bei Frauen nicht mehr ohne hormonelle und serotonerge Perspektive sprechen können.

🧬 Serotonin – der unterschĂ€tzte Mitspieler bei ADHS

Lange Zeit lag der Fokus bei ADHS auf Dopamin und Noradrenalin – zwei Botenstoffen, die Aufmerksamkeit, Motivation und Impulskontrolle beeinflussen. Auch die gĂ€ngigen Medikamente (Methylphenidat, Amphetamine) wirken auf diese Systeme.

Doch wer ADHS tiefer verstehen will – besonders bei Frauen – muss einen weiteren Neurotransmitter mitdenken: Serotonin (5-HT).

Serotonin steuert nicht nur unsere Stimmung, sondern auch:

  • wie wir mit Stress umgehen

  • ob wir schlafen können

  • ob wir gereizt oder stabil sind

  • wie stark unser Schmerzempfinden ist

  • wie unser Körper auf Reize reagiert

Kurz: Serotonin ist ein Orchesterleiter fĂŒr emotionale Selbstregulation.

📊 Was zeigt die aktuelle Forschung?

In einer groß angelegten LiteraturĂŒbersicht untersuchten Faraone und Kolleg:innen ĂŒber 49.000 Studien zu ADHS und KomorbiditĂ€ten.
Sie fanden:

  • 182 Erkrankungen, die bei Menschen mit ADHS signifikant hĂ€ufiger vorkommen

  • Bei 135 dieser Erkrankungen (darunter Depression, Angst, MigrĂ€ne, Reizdarm, Hauterkrankungen) gab es Hinweise auf eine serotonerge Beteiligung

Das bedeutet: ADHS ist hĂ€ufig nicht nur eine Frage der Konzentration – sondern auch eine Frage von Serotoninbalance.

Das erklĂ€rt, warum so viele Betroffene zusĂ€tzlich unter Schlafstörungen, chronischen Schmerzen, Reizbarkeit, Stimmungsschwankungen oder körperlichen Beschwerden leiden – oft ohne eindeutige Ursache.

Quelle: Faraone et al. (2025). Neuroscience and Biobehavioral Reviews, DOI: 10.1016/j.neubiorev.2025.106275 (Öffnet in neuem Fenster)

Mich interessierte speziell die Rolle von Serotonin bei ADHS-Frauen


🧠 Wie Serotonin in den ADHS-Netzwerken mitmischt

ADHS ist keine Einbahnstraße im Gehirn – sondern ein komplexes Zusammenspiel mehrerer Netzwerke, die unterschiedlich betroffen sein können. Die aktuelle Neurobiologie unterscheidet dabei mindestens vier große funktionelle Netzwerke, die bei ADHS gestört sein können (aus dem Artikel)

1. Executive Control Network (ECN)

→ Steuerung von Aufmerksamkeit, Planung, Impulskontrolle

Zentrale Strukturen:

  • Dorsolateraler prĂ€frontaler Cortex (DLPFC)

  • Dorsaler anteriorer cingulĂ€rer Cortex (dACC)

  • Basalganglien, Thalamus, Substantia nigra, Pons

Rolle von Serotonin:
Serotonin moduliert die AktivitĂ€t im prĂ€frontalen Cortex (PFC) ĂŒber 5-HT1A- und 5-HT2A-Rezeptoren.
Es beeinflusst:

  • kognitive Kontrolle (z. B. bei Entscheidungen, Aufgabenwechsel)

  • emotionale Hemmung (z. B. ImpulsunterdrĂŒckung bei Frust)

  • Stressresistenz im PFC bei hoher Reizbelastung

→ Wenn der Serotoninhaushalt gestört ist, wird die Exekutivkontrolle instabil, ĂŒberreizt oder entkoppelt – ein typisches ADHS-Muster.

2. Reward Network (Fronto-striatal)

→ Motivation, Belohnungsverarbeitung, Lustprinzip

Zentrale Strukturen:

  • Orbitofrontaler & ventromedialer prĂ€frontaler Cortex

  • Ventraler Striatum (inkl. Nucleus accumbens)

  • Amygdala, Thalamus, Substantia nigra

Rolle von Serotonin:
Serotonin wirkt im Belohnungssystem modulierend auf Dopamin:

  • Es hemmt impulsive Reaktionen auf Belohnungsreize

  • Es bremst das Sucht- oder Reizsuchverhalten (z. B. durch 5-HT2C-Rezeptoren im Nucleus accumbens)

  • Es reguliert das emotionale Gewicht von Belohnungen (Amygdala, OFC)

→ Bei zu wenig Serotonin wird das Belohnungssystem ungefiltert: Reize wirken ĂŒberstark, Frustrationstoleranz sinkt, ImpulsivitĂ€t steigt. Genau das zeigen viele Menschen mit ADHS, besonders mit Suchtneigung oder ReizĂŒbersteuerung.

3. Alerting Network (Fronto-parietal)

→ Reaktionsbereitschaft, Wachsamkeit, Filterung

Zentrale Strukturen:

  • Frontaler Cortex

  • Parietaler Cortex

  • Thalamus

Rolle von Serotonin:
Serotonin sorgt hier fĂŒr eine Stabilisierung der Reizverarbeitung:

  • Es hilft, zwischen wichtig und unwichtig zu unterscheiden

  • Es schĂŒtzt vor sensorischer Überflutung

  • Es dĂ€mpft ĂŒbertriebene Alarmsignale

→ Wenn dieses Netzwerk ĂŒberfordert ist, fĂŒhlen sich Betroffene stĂ€ndiger ReizĂŒberflutung ausgesetzt – sie sind aufnahmefĂ€hig, aber erschöpft. Typisch bei ADHS mit starker ReaktivitĂ€t oder HochsensibilitĂ€t.

4. Default Mode Network (DMN)

→ Selbstwahrnehmung, TagtrĂ€umen, innere Aufmerksamkeit

Zentrale Strukturen:

  • Medialer prĂ€frontaler Cortex

  • Posteriorer cingulĂ€rer Cortex

  • Amygdala, Hippocampus, Temporallappen

Rolle von Serotonin:
Serotonin sorgt im DMN fĂŒr:

  • Stabile Selbstwahrnehmung

  • Reduktion von GrĂŒbeln

  • Wechsel zwischen Innenwelt und Außenfokus

→ Bei ADHS ist das DMN oft ĂŒberaktiv oder entkoppelt, was sich z. B. als „Verlorengehen in Gedanken“, TagtrĂ€ume oder sich selbst verlieren zeigt. Bei Serotonindefizit wird dieser RĂŒckzug verstĂ€rkt – etwa in der prĂ€menstruellen Phase oder bei Depression.

đŸ§© Gesamtbild:

Serotonin wirkt wie ein Regisseur, der die LautstÀrke in den Netzwerken fein abstimmt.
Fehlt dieser Regisseur – etwa durch genetische PrĂ€disposition, Trauma, hormonelle Schwankungen oder Stress – entstehen typische ADHS-PhĂ€nomene:

  • Reizoffenheit ohne Filter

  • ImpulsivitĂ€t ohne Bremse

  • GrĂŒbeln ohne Ausstieg

  • Leistungseinbruch ohne Vorwarnung

💬 Fazit

Die bei ADHS betroffenen Netzwerke sind alle serotoninabhĂ€ngig – wenn auch auf unterschiedliche Weise. Serotonin reguliert nicht „nur“ Stimmung, sondern ist zentral fĂŒr Reizverarbeitung, Emotionsregulation und Impulskontrolle.

Die aktuelle Forschung, z. B. von Faraone et al. (2025), fordert deshalb zurecht:
👉 Wir mĂŒssen Serotonin in der ADHS-Therapie viel stĂ€rker mitdenken – besonders bei Frauen, die zusĂ€tzlich durch hormonelle Serotoninschwankungen (PMDD, Perimenopause) belastet sind.

🌾 Was passiert vor der Periode – oder in der Perimenopause?

Viele Frauen mit ADHS berichten:

„Zwei Wochen im Monat funktioniere ich – und zwei Wochen lang kĂ€mpfe ich gegen mich selbst.“

Vor der Periode (Lutealphase) sinkt der Östrogenspiegel – und mit ihm auch:

  • die Serotoninproduktion

  • die Wirksamkeit von Dopamin

  • die emotionale StabilitĂ€t

Was bleibt, ist ein Gehirn im Ungleichgewicht.

Typische Symptome:

  • erhöhte Reizbarkeit

  • GefĂŒhl der ÜberwĂ€ltigung

  • Schlaflosigkeit oder GrĂŒbelattacken

  • Schmerzempfindlichkeit oder MigrĂ€ne

  • depressive oder dissoziative ZustĂ€nde

Manche erleben das als PMDD (prĂ€menstruelle dysphorische Störung) – eine schwere Form von PMS, die weit ĂŒber „ein bisschen Stimmungsschwankung“ hinausgeht.

Andere spĂŒren diese Verschiebung ab Mitte 40: in der Perimenopause. Dort sinkt Östrogen nicht mehr zyklisch – sondern zunehmend unregelmĂ€ĂŸig. Und das hat Auswirkungen auf Stimmung, Konzentration, GedĂ€chtnis, Schlaf, Haut, Gewicht und mehr.

🧠 Warum ist das bei ADHS besonders relevant?

Frauen mit ADHS haben oft sowieso eine geringere GrundstabilitĂ€t im Serotoninsystem. Wenn dann noch zyklische oder hormonelle EinbrĂŒche hinzukommen, entsteht eine Art „Doppel-Belastung“:

  • Die Neurotransmitterregulation ist labil

  • Das Hormonsystem sendet widersprĂŒchliche Signale

  • Die exekutive Funktion wird ĂŒberfordert

  • Und das GefĂŒhl, sich nicht mehr auf sich selbst verlassen zu können, wĂ€chst

Manche beschreiben das als:

„Ich fĂŒhle mich wie ausradiert. Ich weiß, dass ich fĂ€hig bin – aber in diesen Tagen ist alles wie weg.“

💊 Was bedeutet das fĂŒr Therapie und Selbsthilfe?

Es gibt keine „Einheitslösung“ – aber sehr wohl individuell sinnvolle Wege, wenn man versteht, was im Körper passiert.

Was möglich ist:

  • ADHS-Medikation: kann die exekutiven Funktionen stĂ€rken, hilft aber oft nicht gegen die emotionale Achterbahnfahrt.

  • SSRI/SSNRI: wirken auf das Serotoninsystem und können bei PMDD oder depressiver Lutealphase hilfreich sein – aber nicht gegen alle ADHS-Symptome.

  • Östrogentherapie (z. B. bioidentisch/transdermal): kann helfen, wenn hormonelle InstabilitĂ€t im Vordergrund steht.

  • Zyklus-Tracking & flexible Strategien: helfen, sich selbst besser zu verstehen und gezielt zu steuern (z. B. Emoflex, Selbstcoaching, Anpassung von Aufgaben & PrioritĂ€ten).

Was es braucht, ist ein Modell, das versteht:
🟡 ADHS, Serotonin und Hormone sind keine getrennten Baustellen – sie wirken zusammen.

💬 Fazit: ADHS ist bei Frauen ein dynamisches System – kein Defekt

Wenn du dich regelmĂ€ĂŸig ĂŒberfordert fĂŒhlst, obwohl du dein ADHS gut kennst

Wenn du deine Tage als neurologischen Ausnahmezustand erlebst

Wenn du dich ab Mitte 40 nicht mehr wiedererkennst


Dann bist du nicht empfindlich.
Du bist biologisch in Resonanz.
Und du hast das Recht, verstanden und begleitet zu werden – in deiner individuellen Neurohormondynamik.

Es wird Zeit, dass wir weibliches ADHS nicht mehr als Sonderfall behandeln – sondern als das, was es ist:
🧠 ein komplexes, zyklisch getaktetes, neurobiologisch sensibles System.

Du möchtest dich mit anderen ADHSlern zu diesen Themen austauschen? Dann hĂŒpf in meine ADHS-Community auf Skool. Ich arbeite gerade an einem Workbook genau zu diesem Themengebiet (frĂŒhere BĂŒcher sind u.a. zu AuDHS, ADHS kindgerecht erklĂ€rt oder gerade ja ADHS auf Reisen)

Damit unterstĂŒtzt du auch ganz tatkrĂ€ftig meine ADHS-AufklĂ€rungsarbeit


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