Zum Hauptinhalt springen

"Ich wiege mich jeden Morgen und habe solche Angst zuzunehmen"

Liebe Leserin,

heute ist es Freitagnachmittag und Sie lesen den Info-Letter zu Systemischer Therapie bei belastetem Essverhalten von mir, Nora Stankewitz, Systemischer Therapeutin und Beraterin für Intuitiv Essen lernen.

Heute:
✔ Leserinnen-Frage: Ständige Angst zuzunehmen
✔ Danke für Ihre Antworten
✔ Beratung beginnen

#1 – Die Leserinnen-Frage

"Liebe Frau Stankewitz, ich beschäftige mich seit einiger Zeit mit intuitivem Essen und merke, dass ich theoretisch alles verstehe. Aber praktisch werde ich von einer ständigen Angst vor Gewichtszunahme blockiert. Ich wiege mich jeden Morgen und wenn die Zahl auch nur ein bisschen höher ist, bin ich den ganzen Tag schlecht drauf und esse weniger. Ich kontrolliere mein Gewicht mehrmals täglich und rechne ständig aus, was ich 'noch essen darf'. Gleichzeitig schäme ich mich für diese Obsession - ich weiß ja, dass es nicht gesund ist. Meine Freundinnen verstehen das nicht, die sagen einfach 'hör doch auf, dich zu wiegen'. Aber die Angst ist so stark! Woher kommt diese panische Angst vor Gewichtszunahme? Und wie kann ich lernen, meinem Körper zu vertrauen, wenn ich so viel Angst habe? Gibt es auch andere Frauen, die so extreme Angst haben wie ich?" – Sarah, 28 (Name geändert)

#2 – Meine Antwort: Sie sind nicht allein mit dieser Angst

Liebe Sarah,

vielen Dank für Ihre Frage. Sie fragen, ob es andere Frauen gibt, die so extreme Angst haben wie Sie – und ich kann Ihnen versichern: Sie sind definitiv nicht allein.

Die Angst davor dick zu werden oder zu sein ist leider sehr verbreitet – und das Problem

Die Angst vor Gewichtszunahme kennt fast jede Frau in unterschiedlichen Nuancen. Das ist das traurige Ergebnis einer Diätkultur, die uns von klein auf vermittelt, dass unser Wert an unserem Gewicht hängt und dass Gewichtszunahme gleichbedeutend mit Versagen ist. In einer Gesellschaft, in der dicke Körper beschämt werden und Menschen mit Mehrgewicht für “selbst schuld“ bezichtigt werden, ist diese Angst leider nicht verwunderlich, wenngleich ihre Folgen schwer sind. Diese Angst ist der Beginn des Problems in einer gewichtszentrierten Gesundheitsversorgung. Ich möchte Sie dazu einladen, auch diese gesellschaftliche Dimension in Ihr Erleben einzubeziehen und gerne auch wütend zu werden auf solch eine Destruktivität im Umgang mit Körpern. Denn tatsächlich findet diese Problem zwar auch auf individueller Ebene statt und fügt Menschen großen Schaden zu, wenngleich die Behebung des Problems eben nicht Ihre individuelle Aufgabe sein kann.

Bevor ich mich hier jetzt aber in Rage darüber schreibe, komme ich zurück zu Ihrer individuellen Ebene.

Die Funktion der Gewichtskontrolle

Aus systemischer Sicht erfüllt Ihr Verhalten – das ständige Wiegen, Rechnen und Kontrollieren – eine wichtige Funktion: Es gibt Ihnen möglicherweise Sicherheit und Kontrolle in Ihrer als nicht so sicher erlebten Welt?! Die Waage wird dabei zu einem vermeintlich objektiven Maßstab dafür, wie "gut" Sie sind, wie Ihr Tag verlaufen soll, wie Sie sich fühlen "dürfen".

Was die Waage wirklich (nicht) aussagt

Wichtig zu verstehen ist: Das tägliche Wiegen sagt nichts über Ihre körperliche Konstitution aus. Ihr Gewicht wird durch sehr viele Faktoren beeinflusst – den Zyklus, Wassereinlagerungen, Verdauung, Salzkonsum, Stress, Schlafqualität, körperliche Aktivität am Vortag und vieles mehr. Selten zeigt eine Gewichtsschwankung von einem Tag auf den anderen eine tatsächliche Zu- oder Abnahme von Körperfett an (was die meisten hineininterpretieren). Sie messen also hauptsächlich normale körperliche Schwankungen und interpretieren diese möglicherweise als Erfolg oder Versagen.

Der Fokus beim intuitiven Essen

Zum Prozess des Intuitiv-Essen-Lernens gehört es dazu, die Angst vor Gewichtszunahme anzuerkennen und gleichzeitig sich auf den Weg zu machen, den Fokus vom Gewicht zu verschieben hin zu der Frage: Wie kann ich dafür sorgen, dass ich mich wohler fühle – körperlich wie seelisch?

Diese Fokusverschiebung ist nicht einfach und passiert nicht über Nacht. Es bedeutet, nach und nach zu erkunden: Was tut meinem Körper gut? Was nährt mich wirklich? Wie kann ich für meine emotionalen Bedürfnisse sorgen? Was brauche ich, um mich energievoll und ausgeglichen zu fühlen?

Warum "einfach aufhören" nicht funktioniert

Ihre Freundinnen meinen es gut, wenn sie sagen "hören Sie doch auf, sich zu wiegen". Aber sie verstehen nicht, dass diese Kontrolle momentan eine emotionale Funktion für Sie erfüllt. Einfach aufzuhören, ohne Alternativen zu entwickeln, kann die Angst sogar verstärken. Es ist wie wenn jemand mit Höhenangst gesagt bekommt: "Springen Sie einfach – haben Sie keine Angst."

Der Weg zu mehr Körpervertrauen

Körpervertrauen entsteht nicht durch das Überwinden von Angst, sondern durch das behutsame Erkunden neuer Erfahrungen neben der Angst. Hier sind einige Schritte, die helfen können:

1. Die Angst verstehen lernen: Fragen Sie sich: Was glauben Sie, würde passieren, wenn Sie zunehmen? Welche konkreten Befürchtungen stehen dahinter? Oft geht es nicht wirklich um das Gewicht, sondern um tieferliegende Ängste vor (gesellschaftlicher) Ablehnung, Kontrollverlust oder dem Verlust der eigenen Identität.

2. Die Waage zunächst weglassen: Für den Prozess des intuitiven Essens ist es wichtig, das Wiegen zunächst wirklich wegzulassen. Die täglichen Gewichtsschwankungen verstärken die Angst und halten Sie in dem Kontrollkreislauf gefangen. Suchen Sie sich Unterstützung dabei – sei es durch eine Freundin, die die Waage für eine Zeit bei sich aufbewahrt, oder durch professionelle Begleitung.

3. Alternative Orientierungsquellen entwickeln: Was könnte Ihnen außer der Zahl auf der Waage Orientierung geben? Wie fühlt sich Ihr Körper an? Haben Sie Energie? Schlafen Sie gut? Können Sie sich bewegen, wie Sie möchten? Wie ist Ihre Stimmung und Ihr Wohlbefinden?

Die Scham darf auch da sein

Sie schämen sich für Ihre "Obsession" – und auch diese Scham ist verständlich. Sie wissen intellektuell, dass das Verhalten nicht hilfreich ist, können aber nicht einfach aufhören. Das ist kein Zeichen von Schwäche, sondern zeigt, wie tief diese Muster verwurzelt sind und dass Ihre Unterstützung Ihnen dabei helfen darf, auf emotionale Ressourcen zugreifen zu lernen.

Ein Perspektivwechsel

Stellen Sie sich vor, eine gute Freundin würde Ihnen genau das erzählen, was Sie mir geschrieben haben. Was würden Sie ihr sagen? Würden Sie sie verurteilen oder mit Mitgefühl reagieren? Können Sie sich selbst die gleiche Freundlichkeit schenken?

Der Weg von der Angst zum Vertrauen ist kein linearer Prozess. Es geht nicht darum, nie wieder Angst zu haben, sondern darum, neben der Angst auch andere Gefühle und Erfahrungen zu machen. Mit der Zeit können diese neuen Erfahrungen stärker werden als die Angst.

Liebe Sarah, Sie verdienen ein Leben, in dem eine Zahl auf der Waage nicht über Ihre Stimmung und Ihr Selbstgefühl entscheidet. Dieser Weg braucht Zeit und Geduld – und er ist möglich.

Noch ein Lesetipp: Im Februar habe ich den Info-Letter zum Thema „Vom Wunsch doch noch abzunehmen“ geschrieben.

#3 – Danke für Ihre Antworten

Nach meiner Bitte im letzten Newsletter mir diese 3 Fragen zu beantworten…

- Gefällt euch/Ihnen mein Infoletter in Du- oder Sie-Ansprache besser?
- Ist dir/Ihnen die Ausführlichkeit meiner Texte angenehm?
- Möchtest/Möchten du/Sie den Infoletter lieber morgens oder abends bekommen?

…wird der Info-Letter vorerst am Freitagnachmittag bei Ihnen eintrudeln und auch weiterhin per Sie. Vielen Dank für Ihre Rückmeldungen!

 

#4 – Belastetes Essverhalten verstehen und überwinden – Beratungsplätze

Schreiben Sie mir gerne hier für Ihren Terminwunsch, um sich in Ihrem Prozess raus aus belastetem Essverhalten von mir hier vor Ort oder via Video-Beratung begleiten zu lassen. Im ersten Gespräch nehmen wir uns Zeit zu erkunden, worum Ihnen es genau geht und wohin Ihre Reise gehen soll.

Ich wünsche Ihnen jetzt ein erholsames Wochenende. Sie lesen nach meiner Sommerpause am 8. August wieder von mir.

Herzlich und bis bald,
Ihre
Nora Stankewitz
Systemische Therapeutin (DGSF)
Beraterin für Intuitives Essverhalten

0 Kommentare

Möchtest du den ersten Kommentar schreiben?
Werde Mitglied von Emotionales Essverhalten verstehen und überwinden und starte die Unterhaltung.
Mitglied werden