Rhetorische Pudding-Attentate: Was ist eigentlich ein "Kulturkampf" und was nicht?
Alle reden vom "Kulturkampf" – die meisten derart besinnungslos und fadenscheinig, dass sich das hinter ihnen stehende Interesse als Analyse tarnt. Es geht darum, etwas zur Disposition zu stellen, zur Verhandlungsmasse zu erklären, was durch das Grundgesetz und die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte wie auch die EU-Menschenrechtskonvention längst geklärt und rechtlich abgesichert ist.
Das ist die These des folgenden Textes: Es geht im Falle des Kulturkampfs darum, Rechtsstaat, Gewaltenteilung und die Verfassung selbst abzuräumen, um so wahlweise einem autoritären, freiheitsfeindlichen Konservatismus oder in manchen Fällen gleich dem Faschismus den Weg zu ebnen.
Ein aktuelles Beispiel für die konservative Variante: Aussagen Andreas Rödders, Lautsprecher der sogenannten "Denk"fabrik R21, werden im SPIEGEL folgendermaßen zusammengefasst:
"In den Jahren nach der Finanzkrise habe sich im Westen eine grüne Hegemonie breitgemacht. Klimaschutz sei ein zentrales Thema geworden, Gleichstellung oder die Willkommenskultur. Plötzlich hätten sich Sprachvorschriften wie das Gendern verbreitet. Damit konfrontiert, hätten alle, die nicht links und woke seien, nur zwei Möglichkeiten: dagegenhalten oder geschehen lassen."
(DER SPIEGEL 31/2025)
Typisch für diesen Aktivismus gegen die Verfassung ist, dass unterschiedliche Phänomene strategisch miteinander assoziiert werden (Dank an Simon Strick, dem ich diese Erkenntnis verdanke). Die radikale politische Rechte operiert durchgängig so – sie argumentiert nicht, sie assoziiert. Sie verbindet unterschiedliche gesellschaftliche Phänomene so miteinander, dass daraus ein für sie operationalisierbarer Brei entsteht. Einer, den sie dann auf andere werfen können - eine Art rhetorisches Pudding-Attentat.
Zunächst wird willkürlich ein historisches Ereignis als auslösend behauptet, die Finanzkrise – die tatsächlich ganz andere Folgen nach sich zog als die genannten. So zum Beispiel die Bankenrettung, Konsumanreize wie die Abwrackprämie und die Griechenland-Politik Schäubles und Merkels. Letztere fügte der EU schweren Schaden zu, weil der Eindruck entstand, dass Deutschland zur Absicherung seiner ökonomischen Dominanz über Leichen zu gehen bereit sein könnte.
Stattdessen wird nun Klimaschutz mit der Finanzkrise vermengt. Man braucht nur das Urteil des Verfassungsgerichts zum Klimaschutz zu lesen, um zu erkennen, dass hier nicht plötzlich und schon gar nicht aufgrund diffuser "grüner Hegemonie" etwas gespenstisch den Diskurs heimsuchte, sondern dass es sich um ein Thema von Verfassungsrang handelt:
Wo genau ist da jetzt "Kultur"?
Ähnlich verhält es sich mit Gleichstellung: Diese ergibt sich aus dem Diktum "Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich" wie auch dem Diskriminierungsschutz, also Artikel 3 des Grundgesetzes – nicht aufgrund einer Wagner-Oper oder von Tischsitten. Auch in der EU-Menschenrechtskonvention ist der Diskriminierungsschutz verankert.
Anders verhält es sich mit "Willkommenskultur" – das ist eine Reaktion auf Gebote wie jene der Genfer Konvention, und die Grundrechtsartikel zum Schutz der Menschenwürde beziehen sich auch nicht exklusiv auf Staatsbürger, auch wenn manche das so gerne hätten. Hier wurden diese Rechte in einer tatsächlich kulturellen Praxis mit einem Rahmen versehen, der die Menschenwürde Geflüchteter ernstnahm.
Wieder ein anderes Phänomen ist gendergerechte Sprache, zu der es nirgends "Vorschriften" gab außer eines gewissen moralischen Drucks. Vorschriften administrativer Art erließen stattdessen diverse Ministerien gegen das "Gendern"; ob rechtmäßig, das werden vielleicht noch Gerichte klären – falls jemand klagt.
Die Diagnose Rödders ist somit durchgängig falsch bis perfide und manipulativ. Manche bekommen dank so etwas offenkundig sogar Professuren.
Was ist eigentlich "Kultur"?
Um noch klarer zu machen, worum es geht, lohnt es sich, vielleicht ein wenig Klarheit in dem Gerede rund um "Kultur" zu schaffen. Was ist überhaupt "Kultur"?
Claude Lévi-Strauss hatte eine einfache Antwort: Das Rohe repräsentiert die Natur, das Gekochte die Kultur, und das Verfaulte/Fermentierte eine Art "Rückkehr zur Natur" – aber mittels kultureller Transformation. Anders formuliert: Natur ist das Unbearbeitete, Kultur das, was sie durch Technik und Arbeit transformiert; bewusstes und gesteuertes Verderben- und Verfallenlassen öffnet Kultur wieder dem Natürlichen.
Dieser Klarheit folgen aktuelle Debatten nicht. Es ist viel von Kulturkämpfen, kulturellen Differenzen, Leitkultur, Kulturverfall, nationalen Kulturen und Kulturstaatsministern die Rede, aber was das nun genau meint, wird zumeist vorausgesetzt.
Neben der Natur-Kultur-Differenz fügte mein wohl wichtigster Lehrer Herbert Schnädelbach noch die Unterscheidung zwischen "Kultur" und "KULTUR" hinzu. Erstere, die klein Geschriebene, beinhaltet die Künste inklusive Architektur, Mode und Design.
Letzteres prägt Leben als von vielen geteilte Lebensform. Hegelianer sprechen von "Sittlichkeit"; Kultur so verstanden ist der Gesamtzusammenhang von geteilten Weltdeutungen/Situationsinterpretationen, regelmäßigen Praxen und eingeübten beziehungsweise tradierten Interaktionsmustern. "Kultur" – Blockflöte, Ölgemälde, Fotografie, "Dark Romance"-Literatur – ist Teil dessen, ebenso kollektive Vergnügungspraxen wie Schlagermove oder Volksfeste.
Grob können folgende Bereiche als zu "KULTUR" gehörig betrachtet werden:
Sprache gilt durchgängig als zentraler Kulturbaustein oder deren Medium – ob als Identitätsmarker, Kommunikationsmittel oder Träger von Weltanschauungen.
Rituale und Zeremonien– von religiösen Festen über Lebenszyklus-Rituale bis hin zu säkularen Feierlichkeiten. Sie strukturieren kollektive Erfahrungen. Dazu gehören auch spirituelle Praktiken. Säkulare Rituale wie Pop-Konzerte, Stammtische, Selbsterfahrungsgruppen oder Fußballspiele können an ihre Stelle treten.
Werte- und Normensysteme finden sich in allen Kulturen. Vor der formalisierten und institutionalisierten Justiz situierte Vorstellungen von Recht und Unrecht, Ehre, Familie, Geschlechterrollen oder Gemeinschaft können als Teilbereiche von Kultur verstanden werden – ebenso der Umgang mit dem eigenen Körper und dem der anderen.
Alltagspraktiken – von Essgewohnheiten über Kleidung bis hin zu sozialen Umgangsformen. Regionale Küche, Begrüßungsrituale oder Gastfreundschaft bilden kulturelle Praxen. Letztere können jedoch auch als normativ – also als moralische Regeln – oder religiös grundiert oder als mit beidem gesättigt betrachtet werden.
Künstlerische Ausdrucksformen – also "Kultur".
Geschichtsnarrative und kollektive Erinnerung wirken häufig kulturprägend – von Gründungsmythen bis zu Heldengeschichten. Kulturen schaffen selektiv ihre eigene Historie, sie behaupten Ursprünge und leiten aus diesen Traditionen ab oder erfinden sie.
Soziale Organisationsformen – Familienstrukturen, Hierarchien in Schützenvereinen, Geschlechterrollen.
Teile dessen festigten sich im Verlauf der Historie als Verrechtlichung. Dadurch erfahren sie jedoch einen Funktions- und Bedeutungswandel, sind in anderen Begründungszusammenhängen zu diskutieren und gelten nicht einfach unbefragt als Sitten und Gebräuche.
Die skizzierten Bereiche stützen einander. Herr Rödder behauptet nun im SPIEGEL:
"Politik ist immer auch Kampf und Kultur immer auch Gegenstand von Auseinandersetzung. Ich halte Kulturkämpfe deshalb für einen ganz regulären und normalen Gegenstand demokratischer Politik."
(DER SPIEGEL 31/2025)
Empirisch mag das so sein; aber ist das richtig und wenn ja, dann in welcher Hinsicht?
Zunächst einmal ist Politik zumindest im Geltungsbereich des Grundgesetzes keine Frage dessen, ob man sich affirmativ zu schwäbischen Trachtengruppen verhält oder wie man etwas formuliert. Parlamente als Rahmen für Politik fungieren als gesetzgebende Instanzen. Sie haben dabei die Verfassung zu achten, nicht die Befindlichkeiten von Stammtischen in Mecklenburg-Vorpommern. Administrationen als Teil der Exekutive können Prioritäten setzen und Kultur X gezielt fördern, zum Beispiel dem HSV im Zuge der Olympia-Bewerbung ein neues Stadion schenken – aber nur im Rahmen geltender Gesetze.
"Kulturkampf" im 19. Jahrhundert
Deutlich, worauf ich hinaus will, wird dies vielleicht am Beispiel einer historischen Sequenz, die in Geschichtsbüchern als "Kulturkampf" gelabelt wird: Bismarcks Auseinandersetzung mit der Katholischen Kirche. Im Zuge derer wurde zum Beispiel die Zivilehe eingeführt (Öffnet in neuem Fenster).
Bismarck stärkte hier den Staat gegenüber einem damals noch hegemonialen Teilbereich von Kultur: der Religion. Er setzte dieses durch mittels der Etablierung rechtlicher Institutionen, die sich zwar an religiösen Vorbildern orientierten, aber als staatlich geregelte fungierten. Man kann von Bismarck ansonsten halten, was man will, der Mechanismus ist entscheidend und setzte fort, was mit der Einführung und Transformation des Code Civil (Öffnet in neuem Fenster)im formal noch gar nicht existenten Deutschland begann – dieser ermöglichte zum Beispiel die rechtliche Gleichstellung von Juden.
Beide Maßnahmen, die rechtliche Einhegung der Katholischen Kirche wie bereits zuvor die Gleichstellung von Juden, zogen heftige Reaktionen nach sich. Man kann die Geschichte des Antisemitismus im 19. Jahrhundert als empörte Reaktion auf deren Emanzipation rekonstruieren – eine, die zunächst, zum Beispiel in Richard Wagners antisemitischen Schriften sowohl im Bereich des oben als "KULTUR" Verstandenen, Lebensformen, Sitten und Gebräuche, aber auch im als "Kultur" skizzierten Feld sich artikulierte. Später schlug der Antisemitismus ins Biologistische um.
Der Grund: Mit Darwin und anders Gobineau sowie "Erfahrungen" rund um Kolonialismus und der Notwendigkeit, diesen auch zu legitimieren, flutete ein Mix aus Evolutions-, Kultur- und "Rasse"theoremen den Meinungsmarkt und wirkte bis tief in den Antisemitismus hinein. Dieser wurde nun so diskutiert, als handele es sich um den Kampf gegen eine andere "Rasse", eine vermeintlich minderwertige - wie in den Schriften Houston Stewart Chamberlains zum Beispiel, dem Schwiegersohn Richard Wagners. Bei der Biologisierung von Kultur besteht immer die Tendenz zu faschistoiden Entwicklungen – sie verwandeln "Kulturkämpfe" in die vermeintlich objektiv-natürliche Notwendigkeit von gesellschaftlichen Maßnahmen.
Aktuelle Parallelen: Angriffe auf das Recht
In beiden Beispielen wird deutlich, dass das, was sich als "Kulturkampf" behauptet, gar keiner ist – es geht um die Attacken aus dem Bereich der "KULTUR" auf Rahmenbedingungen und Entwicklungen des Rechts. So auch heute wieder.
Damals ging es um die rechtliche Gleichstellung von Juden, heute von trans Menschen – auch hier weichen die Kulturkämpfer auf Biologie aus.
Ähnlich im Falle des Schwangerschaftsabbruchs – wie zu Bismarcks Zeiten tauchen wieder katholisch-naturrechtliche, also religiöse Argumentationen auf, die das Selbstbestimmungsrecht von Frauen unterminieren wollen. Obwohl sie formal so tun, als ginge es ihnen um Menschenwürde, achten sie nur die einer befruchteten Eizelle, nicht die der Schwangeren und deren Recht auf körperliche Selbstbestimmung.
Im Falle von Schwulen und Lesben sollen in den Augen mancher in den letzten Jahrzehnten – wie im Falle des Selbstbestimmungsgesetzes auch – teilweise durch das Verfassungsgericht angestoßene Gleichstellungsregelungen wieder rückgängig gemacht werden. Oft werden Queers, ebenfalls biologistisch, nun für den "Volkstod" verantwortlich gemacht, sollen also zur Fortpflanzung verdammt werden.
Auch im Falle des Themas Islam und Muslime, ein weiteres "Kulturkampf"thema, geht es um Attacken auf die Religionsfreiheit, ebenfalls ein Recht von Verfassungsrang. Würden nun Muslime tatsächlich dafür plädieren, Varianten der Scharia in die deutsche Gesetzgebung einzubauen, dann wäre das formal eine analoge Argumentation wie die von CDU-Bundestagsabgeordneten, die nun ihrer Version des "christlichen Menschenbildes" oder katholischer Naturrechtsvorstellungen Gesetzesrang zusprechen wollen. Das entspricht nicht der Verfassung. Religiöse Vorstellungen sind im Rahmen der Religionsfreiheit legitim, können aber nicht als Begründung für Gesetze angeführt werden.
Letztlich handelt es sich gar nicht um "Kultur-", "Identitäts-" oder "Anerkennungskämpfe" – zumindest nicht auf der hier diskutierten Ebene. Anerkennungskämpfe sind u.a. solche, die auf Emanzipation in der Gesetzgebung und den Schutz vor Diskriminierung zielen – in so ziemlich allen aktuell in angeblichen "Kulturkämpfen" ausgetragenen Konflikten sind diese Schlachten auf Ebene des Rechts jedoch längst geschlagen. Eigentlich. Es geht um einen Rollback. Der nun im Rahmen von KULTUR sich stets gewalbereit durchsetzen will.
Gesellschaft versus Kultur
Begreift man provisorisch Gesellschaft als das institutionelle Gefüge in sozialen, also intersubjektiven Zusammenhängen – also
- Gewaltenteilung, Grundgesetz und diesem nicht widersprechen dürfende Gesetze im Strafrecht, Bürgerlichen Gesetzbuch, Betriebsverfassungsgesetz usw., also Einzelnormen,
- die Organisation von Arbeit, Wohnen, des Umgangs mit natürlichen Ressourcen
- das Bildungswesen
- die Zivilgesellschaft, also außerstaatlichen Formen der Vergemeinschaftung wie Vereinen usw.
dann sind es diese Bereiche, die von "Kulturkämpfern" wie Rödder angegriffen werden, indem sie an die Stelle von Gesellschaft als im Verfassungsrahmen situiert wieder KULTUR als Legimationsmodus von Institutionen setzen wollen.
Sie wandeln so fortwährend gesellschaftliche Fragen in kulturelle um – auch solche, auf die Politik gar keinen Zugriff haben dürfte, nimmt man die Verfassung ernst, ohne massiv in Freiheitsrechte einzugreifen. Sie machen damit genau das, was sie in die "Gegenseite" hineinprojizieren, obwohl diese analoge Forderungen nie gestellt hat.
Wenn zum Beispiel Queers ihr Recht auf Sichtbarkeit in Öffentlichkeiten einfordern, dann im Rahmen jenes auf die freie Entfaltung der Persönlichkeit – die sie Nicht-Queers ja nicht absprechen. Niemand fordert ein Ehe-Verbot für Heterosexuelle.
Wenn BPoC für diskriminierungsfreie Räume kämpfen und gleiche Lebenschancen, dann unter Rekurs auf den Diskriminierungsschutz im Grundgesetz wie auch in der europäischen Menschenrechtskonvention. Das ist die Ebene von Gesellschaft, nicht von "KULTUR".
Kulturkämpfe als demokratiefeindliche Bewegungen
Mit anderen Worten: Es gibt "KULTUR"kämpfe, so zum Beispiel, wenn Neonazis Queers in ländlichen Regionen des Ostens attackieren oder Moscheen abfackeln wollen. Aber das ist rechtlich verboten. Es gibt auch "Kulturkämpfe" rund um Theater, Musik, Literatur, bildende Kunst – die können aber auf Ebene der Gesellschaft nur dann eine Rolle spielen, wenn geltendes Recht verletzt wird.
Ansonsten gibt es wie im 19. Jahrhundert Kämpfe gegen die Emanzipation von Minderheiten und deren Lebensformen. Die sollte man dann aber anders nennen.
Im Rahmen des Grundgesetzes sind es schlicht demokratiefeindliche Bewegungen, die eine Tyrannei der Mehrheit durchsetzen wollen. Was dabei herauskommt, kann man derzeit in den USA beobachten …