Auf den Spuren Hannah Arendts in New York: Das Treffen mit Seyla Benhabib
Drehreisen wie jene, die jüngst für die ARTE-Hannah Arendt-Dokumentation nach New York mich führte, zu erleben, das ist ein Privileg. Im Kontext solcher Produktionen erfahre ich Gesprächsituationen - zumindest, wenn ich die richtigen Redakteure an meiner Seite weiß und die Interviews auch führen kann, ohne das Gegenüber auf prima konsumierbare 30 Sekunden-Statements zu trimmen und so in die Unsicherheit oder gar Widerstände zu treiben -, die mich inspirieren, im besten Fall das Gegenüber auch und in hoher Intensität geführt werden können. Es bildet sich eine seltsame Schmelztiegel-Situation, wenn es gelingt, dass beide, meine Interviewpartner wie auch ich, irgendwann die Kamera und den Mann am Ton auszublenden, einen Fokus schaffen, in dem der Dialog frei das Thema verdichten kann. In diesem Fall das Leben und Denken Hannah Arendts.
Auf ein Gespräch im Zuge meines New York-Besuchs habe ich mich besonders gefreut: auf das mit Seyla Benhabib. In den klimatisierten Räumen der Columbia Law School befragte ich sie. Jüngst ehrte man sie mit dem Adorno-Preis (Öffnet in neuem Fenster) – die Lektüre ihres 1986 auf Englisch, 1992 in deutscher Übersetzung veröffentlichten Werkes „Kritik, Norm, Utopie" bildete einen entscheidenden Einfluss in meinem Denken rund um Moral und Gesellschaft. Ich las es in den frühen 90er Jahren im Rahmen eines Seminars bei Anke Thyen, von der ich sehr viel lernte.
Die Diskussionen rund um Moralphilosophie waren damals von vier Frontstellungen geprägt. Zentral der sehr intensiv geführte Streit rund um „die Postmodernen". Gemeint waren Denker wie Jean-François Lyotard, Jacques Derrida und Michel Foucault. Ihnen diagnostizierten viele einen antimodernen, manche - konkret Jürgen Habermas - gar einen „neokonservativen" Affekt gegen moralischen Universalismus. Also einer Position, die Moral nicht als etwas Kulturspezifisches, lediglich auf Tradition bezogenes Gefüge von Konventionen und Tugenden begreift, sondern als ein Ensemble von Regeln, Werten und Prinzipien, die für alle Menschen gleichermaßen Geltung beanspruchen können.
Beispiele hierfür sind die Allgemeinen Menschenrechte oder der Kategorische Imperativ Immanuel Kants: „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde."
4 Fronten gegen den moralischen Universalismus in den 80er und 90er Jahren
Der prominenteste "Postmoderne" Jean-François Lyotard habe, so die Interpretationen, den Wunsch nach der Emanzipation aller Menschen gleichermaßen als lediglich „große Legitimationserzählung" denunziert, die nur nivellieren und gleichschalten solle. Der Vater der zeitweise populären "Dekonstruktion", Jacques Derrida, habe in seiner Kritik des abendländischen „Logozentrismus" die der Vernunft gemäße Moralbegründung dem Zersetzenden einer nur noch aus sich verschiebenden Differenzen bestehenden Sprachphilosophie geopfert und dabei on top den Gattungsunterschied zwischen Literatur und Philosophie eingeebnet. Michel Foucault schließlich denunziere den moralischen Fortschritt, etwa im der Etablierung des Rechtsstaats, als reine Macht und führe so in den Relativismus - eine Story, die jüngst eher schlecht als recht von Susan Neiman wieder aufgekocht wurde in “Links ist nicht woke”.
Die zweite Front bildeten die „Neoaristoteliker", die in ihrem „Abschied vom Prinzipiellen" (Odo Marquardt) nur noch Traditionen gelten lassen wollten. Wichtig sei, wie etwas geworden sei; diese Üblichkeiten gelte es zu pflegen. Ein universeller Anspruch wird aufgegeben. Sehr verkürzt dargestellt.
Die dritte Front war die Kritik an dem allseits als autoritär kritisierten Jürgen Habermas und dessen Mitstreiter Karl-Otto Apel. Deren am Konsens orientierte Diskursethik und die damit einhergehenden Referate von zu beachtenden Kommunikationsregeln wurden oft verlacht mit Sprüchen wie „näheres regelt ein Bundesgesetz". Dies geschah dann, wenn die beiden Philosophen ihre Thesen von der „kontrafaktischen Antizipation der Bedingungen einer idealen Sprechsituation" formulierten. Dabei listeten sie das Antizipierte – die Voraussetzungen, die gemacht werden müssen, wenn man Normatives, also Regeln des Zusammenlebens, diskutiert – wie Paragraphenwerke auf. Das erschien unsexy verglichen mit der sprachlichen Wucht der Postmodernen, fast bürokratisch. Lyotard-Zitate konnte man auf Party-Flyer drucken, Habermas oder Apel eher nicht.
Zwar waren die von beiden so grundlegenden wie moralisch gehaltvollen Bedingungen von Kommunikation solche, die jede Emanzipationsbewegung für sich in Anspruch nahm - formale Gleichheit, Wechselseitigkeit, Ehrlichkeit, Partizipationsmöglichkeiten oder ersatzweise die hypothetische Diskussion der Interessen und Bedürfnisse Exkludierter (also z.B. Geflüchteter). Aber vielen erschien das zu „kognitivistisch", als als reine "Hirnwichserei". In der Praxis stoße man sowieso überall auf das Gegenteil: die nackte Machtentfaltung. Insofern sei mit diesem Idealismus auch praktisch wenig anzufangen, da Anwendungsfragen kaum zu beantworten seien.
Analog formierte sich die vierte Front: die feministische Kritik. Die kantisch-habermasianisch verkopfte Herrenmoral mit ihren hehren Prinzipien schließe alles aus, was gesellschaftlich Frauen zugewiesen würde. Fürsorge, sich um Andere kümmern und auf sie bezogen sein, Empathie, der gesamte soziale Raum, in dem nicht erst mal eine Geschäftsordnung das Zusammenleben regele – all das falle unter den Tisch.
Formale Gleichheit und materiale Differenz
Diese Diskussionen prägten Jahre meines Studiums, in dem ich meinerseits stark auf die Sichtweisen Marginalisierter und Ausgegrenzter achtete. Einen Schlüsseltext für mich bildete der Aufsatz „Das geheime Subjekt Lyotards" von Herta Nagl-Docekal. Sie vertrat überzeugend, dass pluralistische Ansätze notwendig auf so etwas wie den Grundsatz der Kantischen Rechtslehre angewiesen seien. Grob besagt dieser, dass meine Freiheit da ende, wo die des Anderen anfange.
Man glaubt es kaum: Als wir auf dem Gelände der Columbia-University ein paar Impressionen drehten, da schoss mir all dieses wirklich durch den Kopf. Weil ich ja gleich auf Seyla Benhabib treffen würde. Es sind Themen, die sie implizit oder explizit in ihrem Werk diskutiert - und die sie zum Denken Hannah Arendts hin öffnet.
Ich schrieb dann irgendwann eine Hausarbeit mit dem Titel „Formale Gleichheit und materiale Differenz". Ich konnte nicht wissen, dass Seyla Benhabib 1999 ihre Horkheimer-Vorlesungen zum Thema "Kulturelle Vielfalt und demokratische Gleichheit" halten würde; ein ähnlicher Ansatz.
Meine These: Wenn allen gleiche Rechte zugestanden würden, dann sei das zugleich die Möglichkeitsbedingung der freien Entfaltung aller Individuen.
Ich glaube, dass all das trotz aller Verdichtung über rein anekdotische Relevanz oder autobiographische Notizen hinausweist. Denn nichts ist in Zeiten eines offen rassistisch auftrumpfenden, queerfeindlichen und neo-autoritären, teils vernichtungswilligen Ethnonationalismus derzeit stärker unter Beschuss als universalistische Positionen. Allgemeine Menschenrechte gelten oft nur noch als optional zu achten oder gar hinderlich. Verfassungen werden angekratzt bis abgeräumt, die Genfer Konvention attackiert und Empathie hat eh jeder nur noch selektiv und auf die Eigengruppe bezogen - oder eine andere, die dazu benutzt wird, Selbstbilder zu stützen.
So siegen allerorten Varianten des Völkischen, des „Wir zuerst", des „die müssen weg, damit wir leben können". So etwas wie wechselseitige Perspektivenübernahme ist ziemlich out.
Angesichts dessen, dass ich gerade an einem Hannah Arendt-Film arbeite, ist das eine erschlagende Situation. Ich habe den Eindruck, dass das, was sie über Totalitarismus schrieb , neu etabliert und durchgesetzt wird. Die "3 Säulen der Hölle", wie sie es nannte – Antisemitismus (und dabei explizit der „Rasse-Antisemitismus" der Nationalsozialisten), Kolonialismus sowie Totale Herrschaft – werden wieder durchgesetzt. Und verschwunden waren sie nie.
Als Antwort lässt sich nur eine Rückkehr zu universalistischen Positionen reformulieren. Nur wie?
Seyla Benhabibs Transformation der Diskursethik
Bei der Lösung, die ich damals im Zuge meines Studiums zu finden glaubte, kam vor allem die feministische Perspektive zu kurz. Dort, wo ich dennoch auf sie zurückgriff, verdankte ich den Zugang Seyla Benhabib. Sie studierte und promovierte in den Zirkeln rund um Jürgen Habermas. Beeindruckend entwickelt sie in ihrem ersten Werk „Kritik, Norm, Utopie" eine Transformation der Diskursethik . Dabei geht sie zunächst von Hegel aus und setzt sich sodann mit der älteren Kritischen Theorie Adornos und Horkheimers auseinander und deren Kritik instrumenteller Vernunft - um final den "kognitivistischen Habermas" in ein Konzept tatsächlicher Zwischenmenschlichkeit zu verwandeln.
Sie folgt dabei der feministischen Kritik Carol Gilligans an abstrakter Prinzipienethik– diese habe oben bereits paraphrasiert, z.B. der Kategorische Imperativ ist gemeint. Dieser Typus, vor allem von Kant geprägt, grenzt alles aus, was die Erfahrungswelt von Frauen umfasst. Die Herren diskutieren über den öffentlich geltenden Rechtekatalog, während Frauen sich derweil im Privaten um die Kinder kümmern sollten. Ganz klassisch. Gilligan setzte stattdessen auf eine Fürsorgeethik, die jüngst noch in Sabine Harks Formel von der „Sorge um sich, um Andere und die Welt" erweitert wurde.
Benhabib plädierte dem folgend für eine Orientierung am Konkreten Anderen. Statt nur auf allgemeine Regeln sich zu beziehen, sei in moralischen Fragen die Sichtweise des tatsächlichen und spezifischen menschlichen Gegenübers Anlass zur empathischen Perspektivenübernahme. Dessen Bedürfnisse und individuell gelebten affektiven Dimensionen des Lebens könnten nicht ausgeklammert werden unter Berufung auf ein Abstraktum wie „Gleichheit, Freiheit, Solidarität" – so, sehr frei und schlicht zusammengefasst, die These.
Für mich erklang das einst ein Weckruf, mich nicht in Begründungsfragen aufzureiben, die den Anderen als Person nur ausblendeten. Auch für die Arbeit mit Menschen vor der Kamera später wurde es zum Kriterium für eigenes Handeln und Kommunizieren, das ich zu berücksichtigen versuchte.
Der Kategorische Imperativ Kants formuliert Maximen, Absichten, lediglich in Relation zur Form des Gesetzes oder der Gesetzmäßigkeit, der Regelhaftigkeit dessen, was als moralisch richtig gelten könne. Somit seien individuelle Handlungsgründe auf ihre Verallgemeinerungsfähigkeit hin zu überprüfen, nicht etwa hinsichtlich der Anliegen von Mitmenschen in der eigenen Küche, der Nachbarschaft oder dem Sportverein. Kann ich wollen, dass ganz allgemein Menschen andere Menschen aus Eigennutz töten? Nein, kann ich nicht – es würde nur noch Mord und Totschlag herrschen - so Kants Ansatz. (Kant berücksichtigt Handlungsfolgen gar nicht, nur die Widerspruchsfreiheit der Begründung, aber so kann man das populär weiterdenken.)
In der berühmten Zweck-Formel des Kategorischen Imperativs ergänzt er etwas überraschend: „Handle so, dass du die Menschheit sowohl in deiner Person als auch in der Person eines jeden anderen jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst." Wo die Menschheit plötzlich herkommt in dieser Formulierung, das ist zumindest umstritten. Die Zweck-Mittel-Relation hingegen ergibt sich aus dem Kategorischen: Andere Imperative wie „Feuer löscht man mit Wasser, es sei denn, es brennt Öl" betreffen die Wahl der Mittel in der empirischen Welt. Der Kategorische Imperativ hingegen folge reiner Vernunft, so Kant - Zweck-Mittel-Relationen könnten da gar nicht auftauchen.
Was bei all dem dann verschwindet – und da hat Seyla Benhabib recht – das ist das konkrete Gegenüber, der wirkliche Mensch, das Individuum. Menschheit, schön und gut, aber der begegnet man selten. Mir begegnen Kollegen, Freunde, manchmal Neonazis, wenn sie gegen eine Pride Parade demonstrieren, usw.
Im Gefolge Schopenhauers (in dem auch Gilligan steht) wurden so häufig „Mitleidsethiken" formuliert. Angesichts des Leids Anderer solidarisiere ich mich empathisch mit diesen, weil ich weiß, was es heißt, zu leiden. Ich versuche handelnd und fürsorglich, dieses Leid zu mindern und so zu helfen. Solche affektiven Reaktionen haben jedoch in der Regel eine geringe Reichweite, betreffen eher emotional nahestehende Personen, und tendieren dazu, nur von kurzer Dauer zu sein. Zudem werden sie eher „unter Gleichartigen" mobilisiert. Sie können zudem auch einfach ausgeknipst werden, wenn Autorität, Macht oder menschenrechtswidrige Begründungen hinzutreten oder das Gegenüber als Feind begriffen wird.
Benhabib sah hingegen den Konkreten Anderen nicht als temporäres Objekt der Einfühlung, sondern als Ergänzung zur mit formaler Gleichheit, Wechselseitigkeit und Inklusion operierenden Diskursethik von Jürgen Habermas. Damit schloss sie diese Lücke zwischen abstrakten Prinzipien und empathischer Mitmenschlichkeit angesichts der Begegnung zwischen wirklichen Menschen.
Die Wendung zu Hannah Arendt
Es ist jedoch auch kein Zufall, sondern eine Art Notwendigkeit des Denkens, dass Benhabib sich zunehmend auch Hannah Arendt zuwandte. Diese knüpfte auch an Immanuel Kant an, jedoch nicht an Prinzipienethik, sondern insbesondere an dessen Konzeption reflektierender Urteilskraft. Dieses menschliche Vermögen vermittelt das Besondere und das Allgemeine - wie Benhabib das in ihrer Konzeption in der Relation zwischen abstrakten Prinzipien und konkreten Personen eben auch durchführte. Das Fehlen der Urteilskraft, so Kant in einer Fußnote der „Kritik der reinen Vernunft", die Arendt gerne zitierte, sei schlicht Dummheit. Nur den Kategorischen Imperativ aufsagen, das kann ja jeder. Tatsächlich hat Adolf Eichmann sich auf diesen sogar berufen - dazu später mehr -, gekoppelt an Kants Konzeption der Pflicht.
Bei Kant kommt Pflicht ins Spiel, weil man seiner Ansicht nach nicht einfach nur Neigungen folgen solle – Impulsen, Affekten, sinnlicher Befriedigung. Vielmehr gelte es, sich erst einmal zu überlegen, welche Gründe eine Handlung anleiteten. Bei ihm gründet die Pflicht dazu in der „Zwei-Reiche-Lehre": der Unterscheidung zwischen intelligibler, also mentaler, und sinnlich erfahrbarer, empirischer Welt. In der empirischen Welt herrsche ein undurchdringliches Netz von Kausalitäten, so Kant. Freiheit sei hier gar nicht zu denken. Lasse ich mich sinnlich affizieren – greife ich spontan zum Apfel, weil er so lecker aussieht – dann ist der Grund meines Handelns außerhalb meiner selbst. Was ich tue, ist Effekt, verursacht durch etwas in der Welt. Bei Befolgen eines Befehls verhält es sich ähnlich.
Vermittele ich hingegen meine Absicht mit der Frage, ob sie dann, wenn sie für alle als Regel gelten würde, begründungsfähig wäre, dann denke ich erst einmal nach - handele also autonom, unabhängig von externen Impulsen. Im Falle einer knappen Apfelernte mit notwendigen Zuteilungen für jeden Einzelnen gleichermaßen wird die Dimension des Themas vielleicht deutlich. Das ist dann Pflichtbefolgung nach Kant: Erst einmal nachdenken und die mögliche Universalisierbarkeit prüfen, und dann bekommt jeder nur einen halben Apfel.
Omri Boehm zitierte hierzu mehrfach ebenfalls im Interview für die Hannah Arendt-Dokumentation, anschließend an das mit Seyla Benhabib geführt und Thema im nächsten Text zur New York-Reise: „Niemand hat das Recht, zu gehorchen" – eine Aussage Arendts. Weil Gehorchen eben Unmündigkeit und somit paradoxerweise Pflichtverweigerung sei: die berühmte selbstverschuldete Unmündigkeit, von der in Kants Schrift „Was ist Aufklärung?" die Rede ist.
Die Banalität des Bösen
Arendts Beschäftigung mit Eichmann erklärt in diesem Kontext weitere Dimensionen des Themas. Als ich in New York in der Hotellobby mal wieder auf die Kamera in meiner Hand angesprochen wurde – ich passte auf sie für den Kameramann Jan Kerhart auf – und erläuterte, dass wir eine Dokumentation über Hannah Arendt drehten, kam als Antwort: „Ach ja, das ist doch die mit der ‚Banalität des Bösen'?" Auf Englisch, natürlich.
Auf diese Formel kam Arendt durch Adolf Eichmann, den Bürokraten, der „ja nur seinen Job gemacht habe". Am 105. Sitzungstag des Eichmann-Prozesses in Jerusalem behauptete dieser an der Durchführung des Holocausts so maßgeblich Beteiligte, er habe immer der Forderung gemäß gelebt, „dass das Prinzip meines Wollens und das Prinzip meines Strebens so sein muss, dass es jederzeit zum Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung erhoben werden könnte, so wie Kant das in seinem Kategorischen Imperativ ungefähr ausdrückt". Um danach ins Schlingern zu kommen und zu belagen, er habe bei der Abwicklung der Deportation von Juden ja unter Zwang gehandelt und hätte dem so nicht folgen können, wie er gewollt hätte.
Hannah Arendt reagierte zu Recht empört. Sie kommentierte:
Ein stupides Regelbefolgen sein nun gerade nicht geboten, so Arendt. Die Urteilskraft, die Allgemeines und Besonderes unabhängig von Befehlslagen vermitteln könne, habe einem Schreibtischtäter wie Eichmann gefehlt. Die Urteilskraft hat für Arendt insofern eine politische Dimension, als sie als Reflektion konkreter Umstände und historischer Situationen gemeinschaftliches Handeln anleiten kann - in der Welt, und dabei keinesfalls einer nur intelligiblen.
Fragmentarische Geschichtsschreibung und In-der-Welt-Sein
In Benhabibs Buch über „Hannah Arendt – Die melancholische Denkerin der Moderne", erstmals 1996 auf Englisch erschienen, rückt Seyla Benhabib zweierlei in den Mittelpunkt. Zum einen die von Walter Benjamin durch Arendt übernommene Methode der „fragmentarischen Geschichtsschreibung" – als aktualisierende Reflektion politischer Verhältnisse in der Vergangenheit . Diese können nicht selbst wie im Falle marxistischer oder hegelianischer Geschichtslogiken aus eben diesen Entwicklungslogiken regelhaft abgeleitet werden. Man kann jedoch urteilend Fragmente so verdichten und anordnen, dass etwas verständlich wird und so aktuelle Probleme erhellt. Michel Foucault folgte später, ob von ihr inspiriert oder auch nicht, einem ähnlichen Ansatz.
Tatsächlich irritiert vor allem in Arendts „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft" der – wäre das Werk von einer Historikerin verfasst – ungewöhnliche Umgang mit Quellen. Die Belege sind nicht lediglich Akten und Dokumenten entnommen; auch die Literatur von Marcel Proust oder Joseph Conrad zieht Arendt gleichwertig heran. Sie führt komplexe Interpretationen der gesellschaftlichen Position von Juden und Homosexuellen in Pariser Salons durch - ein eher ungewöhnlicher Ansatz. Sie mischt analytische und narrative mit essayistischen Schreibpraxen und entfaltet so ihre eindrucksvollen Darstellungen komplexer historischer Stoffe – häufig mit Sarkasmus durchsetzt und ohne Angst vor Wertungen. Die immense Wirkung ihres Werkes dürfte sich auch dieser unorthodoxen Stilistik verdanken. Das Konkrete wird urteilend aus dem Gegenstand heraus, nicht aus präfigurierten Systematiken entwickelt.
Zum zweiten arbeitet Benhabib sich Martin Heidegger verdankende Unterströmungen im Werk Arendts heraus, doch ihre Methode sei es, den Seinsdenker, der zum Nazi wurde, „vom Kopf auf die Füße zu stellen". Sie rückt dabei die auch auf dieser Essay-Seite schon häufiger ausgeführte Konzeption des In-der-Welt-Seins heraus. Nicht hier Subjekt, da Objekt – wir sind immer schon leiblich eingebunden in die Welt belebter und unbelebter Objekte wie auch in Zwischenmenschlichkeiten, also soziale Bezüge, intersubjektive Handlungs- und Interpretationszusammenhänge, und gehen mit diesen Zusammenhängen praktisch um.
Der Totalitarismus, so Arendt, entfaltet seine furchtbare Macht, indem er dieses Eingebundensein zerstört und Personen vollständig entmenschlicht. Er beraubt sie all der Möglichkeiten des gemeinschaftlichen Handelns, Kommunizierens, der freien Körperlichkeit. Er entledigt sie jeder Individualität, jedes kreativen Vermögens, allem, was Menschen erst zu Menschen macht. Und er sortiert sie zugleich aus der Menschheit aus. Totalitäre Systeme reduzieren Menschen auf das rein Kreatürliche, die schlichte Körperfunktion, und vernichten final noch diese.
All diese Themen behandelte Seyla Benhabib mit mir im Gespräch; dieses für ein TV-Publikum zu verdichten und zugleich zu übersetzen wird mich vor einige Herausforderungen stellen.
Das Recht, Rechte zu haben
Die Analysen Arendts erfolgen am Leitfaden der Lager – jener des sowjetischen Gulags, aber ebenso der nationalsozialistischen Konzentrations-, Arbeits- wie Vernichtungslager. Die Gleichsetzung des Gulag mit Auschwitz führte zu Recht zu harscher Kritik. Ihrer Analyse der Entmenschlichung widerspricht das nicht. Sie erweitert diese Sicht auch auf die Situationen, in die Flüchtlinge gestoßen wurden und werden – ganz so, wie sie selbst eine war, als sie als Staatenlose im Pariser Exil lebte.
Ihre besondere Aufmerksamkeit gilt dabei dem Widerspruch zwischen Staatsbürgern gewährten Rechten. Staatsbürgerrechte werden unter Bezugnahme auf allgemeine Menschenrechte hergeleitet. Und doch wird im Falle Staatenloser oft auf die Achtung der Menschenrechte verzichtet. Seyla Benhabib hat zu diesem Widerspruch zwischen universalistischer Herleitung und partikularer Anwendung viel geschrieben, Arendt verfasste hierzu in „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft" eindrucksvolle Passagen – über jene, die über den Globus getrieben werden und, von keinem Staat geschützt, nur noch über das nackte Leben verfügen. Viele von ihnen sterben.
Wenn nur Staaten Rechte gewähren, ansonsten aber politisch-praktisch sie niemanden mehr sonderlich interessieren, dann kann man noch so sehr universale Moral aus der Vernunft heraus begründen: sie bleibt ohnmächtig. Auf solche Gedanken reagierte später z.B. die Genfer Konvention - doch nicht zufällig gerät sie angesichts des allseits zur Macht drängenden Ethnonationalismus derzeit unter Beschuss oder wird einfach ignoriert.
Arendts forderte im Gegenzug das Recht aller gleichermaßen ein, überhaupt Rechte zu haben. Diese Forderung verdankt sich der Reflektion globaler Flüchtlingsbewegungen und wird in diesem Zusammenhang auch immer wieder aufgegriffen.
Es handelt sich hier klar um einen moralischen Universalismus; einen, der zudem mit dem Begriff der „Menschheit" operiert – aus der Juden von den Nationalsozialisten kurzerhand herausdefiniert wurden.
Seyla Benhabibs Forderung, die Situation des konkreten Anderen nicht aufgrund eines Rekurses auf allgemeine Prinzipien mal eben so weg zu abstrahieren, ist mit diesen Analysen leicht zu verbinden. Das, was Arendt zufolge Menschen erst zu Menschen macht, ist individuell verschieden ausgeprägt und zu achten - und doch gilt für alle gleichermaßen das Recht, Rechte zu haben. Benhabib erarbeitete, diese Gedanken ausbauend und dabei Ansätze aus der Kritischen Theorie von Adorno bis Habermas mit jenen Arendts verbindend, ein komplexes philosophisches Werk, das sich den explizit Rechten der Anderen widmete, zudem das Kosmopolitische in einer Ära zu denken versuchte, in denen Menschenrechte zunehmend keine Berücksichtigung mehr erfahren. Sie schrieb Bücher über das Exil, auch das Arendts in Paris, und über Politik in dunklen Zeiten. Alles Varianten eines moralischen Universalismus, der sich im Politischen doch entfalten sollte und immer wieder von den Mächten des Partikularen, von Nationalismen und ökonomischen Zweckerwägungen, vernichtet zu werden droht - und der die Menschlichkeit eines und einer jeden dabei nicht dem Prinzipiellen opfert.
Das Gespräch mit Seyla Benhabib für die Dokumentation enttäuschte mich nicht. Ganz im Gegenteil. Ich fühlte mich intellektuell zu Hause. Als ich kurz meinen Werdegang schilderte, dass mein der Gutachter und Prüfer meiner Magisterarbeit zudem Martin Seel war, den man als Vertreter der 3. Generation Kritischer Theorie betrachten kann, äußerte sie, ich würde ja auch “zur Familie” gehören. Das schmeichelte mir selbstverständlich enorm. Es war eine schöne und inspirierende Begegnung.
Das Thema moralischer Universalismus blieb mir der New York-Reise weiter treu. Mein nächster Gesprächspartner sollte Omri Boehm sein. Dieser hat unter anderem bei Seyla Benhabib in Yale studiert und jüngst ein Essay mit dem Titel "Radikaler Universalismus" veröffentlicht. Darum wird es im nächsten Teil dieser Drehreise-Erinnerung gehen.