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Warum unser Body Count niemanden etwas angeht

Viele junge Männer beurteilen Frauen anhand der Zahl ihrer Sexualpartner:innen. Den Rechten gefällt das. 

„Du hast ein neues Match!“ Diese Benachrichtigung poppte da gerade auf meinem Bildschirm auf – und ich spürte direkt, wie mein Körper Dopamin ausschüttete. Hatte mich einer der cuten Typen gematcht, die ich gestern Abend nach rechts geswiped hatte? War es vielleicht sogar dieser eine, dessen Profil mir besonders gut gefiel? Ich öffnete die App und da war er. Nennen wir ihn Max, auch wenn er natürlich anders hieß, aber der Name bietet sich an, weil sich unser darauffolgendes Gespräch noch als maximal unangenehm entpuppen würde.

Er slidete mir mit einem kreativen „Hey“ in die DMs, und weil ich ihn süß fand, stieg ich auf diese Begrüßung ein, die, seien wir ehrlich, meilenweit vom Bare Minimum des Dating-App-Einmaleins entfernt ist. Aber weil ich es als Frau, die Männer datet, durchaus gewohnt bin, meine Ansprüche flexibel (und vor allem niedrig) zu halten, antwortete ich ihm und gab alles, um eine witzige, flirty Konversation in Gang zu bringen. Vergeblich. 

Alles, was er zustande brachte, waren sexuelle Anspielungen, die viel zu früh und viel zu unvermittelt kamen, und die er durchzog, obwohl ich nicht darauf einstieg. Gedanklich war ich schon dabei, Max ad acta zu legen und den Chat einschlafen zu lassen, als er eine Nachricht schickte, die mich sprachlos machte: „Wie hoch ist eigentlich dein Body Count?“

Bis zu diesem Moment hatte mich noch nie ein Mann nach der Anzahl der Menschen, mit denen ich im Laufe meines Lebens Sex hatte, gefragt. Aber von TikTok wusste ich, dass diese Frage gerade so einige Menschen umtrieb. Immer wieder bekam ich Videos von Straßenumfragen ausgespielt, in denen Männer vor allem junge Frauen zu ihrem Body Count befragen oder ihren Count sogar von anderen Passant:innen erraten lassen. 

Ich antwortete Max kurz und knapp, dass ich nicht hier sei, um mich von ihm in eine Schublade stecken zu lassen. Er versuchte, sich rauszureden, es sei ihm doch eigentlich egal, mit wie vielen Typen ich was gehabt hätte, schrieb er genervt und versuchte dabei, mir das Gefühl zu geben, als wäre meine Reaktion gerade total falsch. Ich löste unser Match auf.

Für viele der Befragten in den zahllosen Body-Count-TikToks scheint es jedenfalls ganz normal zu sein, sich für die Anzahl der eigenen Sexualpartner:innen zu rechtfertigen oder andere Frauen anhand ihres Aussehens zu beurteilen. Denn das ist der Kern der Body-Count-Debatte – Be- und Verurteilung. Die Logik lautet wie folgt: Ist der Body Count niedrig, ist die Frau prüde, aber in den Augen vieler auch braves Wifey-Material. Ist der Body Count hoch, ist die Frau als „Slut“ abgestempelt, ihr „Wert“ sinkt. In den Kommentaren zu solchen TikToks sieht man, wie viele Nutzer:innen diese Debatte tatsächlich bewegt. „4 ist zu viel“, „Frauen lügen, es ist immer die doppelte Zahl“: Statements wie diese häufen sich. Klar ist: Das Sexualverhalten von Frauen wird hier von der selbstbestimmten Privatsache zur Frage, die zur öffentlichen Diskussion steht. 

Apropos „4 ist zu viel“: Das sehen nicht nur random TikTok-User:innen so, sondern auch Andrew Tate. Denn auch der misogyne, höchst problematische „Influencer“ teilt seine Meinung dazu, wie viele Sexualpartner:innen eine Frau haben darf, ein bisschen zu gerne mit. Eine Frau, die über drei Partner:innen hatte, lehnt er ab, schrieb er einmal auf X (ehemals Twitter). Er war seit 2017 jahrelang auf der Plattform gesperrt – bis Elon Musk sie 2022 übernahm. Außerdem: Der einzig akzeptable Body Count vor der Ehe sei Null, und Frauen sollten ihren Count am besten direkt auf der Stirn tragen, denn das würde 99 Prozent aller Probleme dieser Welt lösen, weil dadurch der „moralische Verfall“ gestoppt werden könne. Mehrere Studien (Öffnet in neuem Fenster) zeigen übrigens, wie groß Tates Einfluss insbesondere unter jungen Männern ist, und das, obwohl er im Lauf der Jahre wegen Vorwürfen der Körperverletzung und Vergewaltigung angezeigt und unter anderem wegen Verdachts auf Menschenhandel festgenommen und angeklagt wurde. 

Das Offensichtliche zuerst: Der Body Count ist kein unverfängliches Dating-Thema, sondern ein Instrument des Slutshaming. Aber es geht all jenen, die finden, dass Frauen vor ihnen im besten Fall Jungfrauen sein sollen, nicht nur darum. Es geht hier auch um sexuelle Formbarkeit, Macht und Kontrolle. Hatte jemand noch nie Sex, weiß diese Person klarerweise nicht, was ihr beim Sex gefällt – und vor allem auch, was ihr nicht gefällt. Es braucht Erfahrung, um sich selbst und den eigenen Körper kennenzulernen. Hat man diese nicht, ist es für diese Typen viel einfacher, einem ihre Vorlieben und ihren Willen aufzudrücken. 

Dass das Ganze nur so vor Sexismus trieft, zeigt sich auch an der Doppelmoral, die das Thema prägt. Denn während Frauen für die Zahl ihrer Partner:innen zur Rechenschaft gezogen werden, dürfen Männer so viel Sex haben, wie sie eben wollen, und werden auch noch dafür gefeiert. Auch die zutiefst misogyne Annahme, dass Männer von Natur aus einen höheren Sexdrive hätten und diesen auch ausleben „dürfen“, um dadurch die Menschheit zu erhalten, wird immer wieder als Rechtfertigung für diese Sicht der Dinge herangezogen. Dass frauenfeindliche Annahmen wie diese auch unter jungen Menschen auf dem Vormarsch sind, passiert natürlich nicht zufällig in Zeiten, in denen konservative, rechte und sexistische Kräfte auf dem Vormarsch sind. Sie sind tief in diesen Ideologien verankert. 

Nach den bisherigen Partner:innen einer Person zu fragen, kann übrigens auch normal sein, zum Beispiel in einer Beziehung und in respektvollem Ton, so ganz ohne Shaming. Aber in Straßenumfragen, in Tinder-Chats oder leider viralen Tate-Videos geht es um genau das: Frauen sollen beschämt werden, denn das hält uns klein. Wir sollen uns dafür schämen, dass wir gerne Sex haben, uns ausprobieren wollen, Spaß haben und unsere Sexualität nicht entlang von konservativen, frauenfeindlichen Gendernormen und den Hirngespinsten der Online-Bros definieren. 

Fragt euch jemand nach eurem Body Count, entscheidet ihr, ob ihr darüber reden wollt. In vertrauensvollen, sicheren Situationen kann es sich richtig anfühlen, in anderen übergriffig und falsch. Egal, ob wir darüber sprechen und diesen Teil unseres Lebens mit jemandem sharen wollen: Das gibt niemandem das Recht, uns dafür zu verurteilen, als gute oder schlechte Frau abzustempeln. Und tut er es trotzdem: Boy, bye.

Eine Bare Minimum-Gastkolumne von Verena Bogner, Autorin und Journalistin aus Wien.

In BARE MINIMUM gibt eine anonyme Autorin einen Einblick in das Datingleben einer heterosexuellen Frau in ihren Zwanzigern und lässt nun Gastautorinnen von ihren Dating-Erfahrungen erzählen. Die Kolumne erscheint jeden Monat, exklusiv für all unsere Steady-Abonnent*innen. Schenkt doch einer Person eine Mitgliedschaft und somit diese Kolumne, und unterstützt unseren jungen Journalismus:

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