Allegro, ma non tanto - Kapitel 04
Hallo ihr Lieben,
ich hoffe ihr hattet eine gute Woche und ein tolles Wochenende vor euch.
Hier kommt das vierte Kapitel. Wie immer: Falls ihr neu dabei seid, findet ihr das Erste hier (Öffnet in neuem Fenster).
Wenn ihr das Projekt unterstützen wollt und Zugang zur Audioversion bekommen möchtet, dann könnt ihr das hier tun:
Hier (Öffnet in neuem Fenster) gibt es eine gute Anleitung, wie ihr die Audioversion als Podcast abonnieren könnt, wenn ihr Unterstützer*innen seid. Falls irgendwas nicht klappt, meldet euch gerne bei mir (Ich glaub, man kann sogar einfach auf diese Mail antworten und das kommt dann bei mir an)
Das wars auch schon, viel Spaß beim Lesen und/oder Hören. Wenn euch das Projekt gefällt, empfehlt es gerne weiter, ob auf Social Media oder im "echten" Leben.
Ganz liebe Grüße aus einem sehr vollen ICE,
Lukas <3
Zusammen Häuser auszurauben, ist letztlich wie eine Hochzeit. Eigentlich ist es sogar besser. Weniger Papierkram, mehr Steuervorteile und es ist auch mehr Gewicht auf dem Ja-Wort. Wenn eine Ehe zu Bruch geht, gibt es im schlimmsten Fall Tränen, einen dreckigen Scheidungskrieg, vielleicht eine zwischen die Räder gekommene Kindesentwicklung. Wenn unsere Beziehung auf unschöne Weise enden sollte, wandert einer von uns ins Gefängnis. Oder beide. Davon sind wir momentan so weit entfernt, dass ich es nicht einmal für möglich halte. Aber das ist vorher ja bekanntlich immer so.
Vielleicht ist das Geheimnis einer guten Beziehung ein Geheimnis. Also ein Geheimnis zu haben. Wir haben uns ja nicht wirklich verändert, seit wir unsere Auftritte auch zusätzlich dazu nutzen, die Reichen um einige ihrer Besitztümer zu erleichtern. Trotzdem verstehen wir uns seitdem viel besser, sind uns noch vertrauter. Es ist die eine Sache, die nur wir wissen und die nur wir wissen dürfen. Egal, in welchen Kreisen wir uns aufhalten, wir gehören nie ganz dazu. Das war früher auch so, aber jetzt ist es selbst gewählt. Jetzt ist da immer noch diese zusätzliche Ebene, das "Wenn die wüssten."
Seit wir gemeinsame Sache gegen die Gesellschaft machen, sind die Fronten ganz klar geworden: wir gegen die. Wenn wir uns früher gestritten haben, dann eigentlich nur, weil einer von uns beiden im Stress diese simple Aufteilung vergessen hatte, mit dem angestauten Frust eines ganzen Tages nach Hause kam und ihn auf die andere Person losließ. Wir waren oft aufeinander wütend, wo wir auch zusammen wütend hätten sein können. Die Einbrüche haben all das gelöst. In einer positiven Spirale aus Zugehörigkeitsgefühl, weniger Arbeit und mehr Geld hat sich der Stress weitestgehend verflüchtigt. Mit Verwunderung beobachte ich, wie gelassen wir jetzt manche Dinge hinnehmen, über die wir uns früher stundenlang hätten aufregen können.
Ich konzentriere mich wieder auf dein und Bennos Musizieren. Normalerweise würde ich zu diesem Stück durch ein riesiges Haus stromern und Schränke öffnen, aber heute gibt es nichts zu holen. Wir spielen heute im Altenheim "Zur goldenen Weide", in dem seit ein paar Monaten auch Bennos Großmutter wohnt. Es ist Sonntag Vormittag und alle haben, zur Feier des Tages, einen Sekt zum Frühstück bekommen. Die Fenster des kleinen Saales wurden aus Gründen der Akustik geschlossen und die Frühlingssonne ist für diese Jahreszeit schon erstaunlich stark. Entsprechend sind knapp zwanzig der anwesenden fünfundzwanzig Rentner*innen ein paar Minuten nach Beginn des Konzertes eingeschlafen. Debussy in d-Moll für Violoncello, Klavier und einen Chor aus sanft vibrierenden Nasenscheidewänden.
Unter anderen Umständen hätten wir so einen Auftritt gar nicht angenommen. Oder nur, wenn berechtigte Aussicht auf ein paar daraus entstehende Folgeauftritte bestünde. Das ist heute fast ausgeschlossen. Die wenigsten der anwesenden Rentner*innen haben Geld und ihre Familien erst recht nicht. Es ist eins von diesen günstigen Altersheimen, in denen das Geld auf Umwegen seinen Weg in die Kassen findet. Regelmäßig werden komplett sinnlose Untersuchungen durchgeführt, die dann über die Krankenkassen abgerechnet werden. Da wird geröntgt, Blutdruck gemessen, eingecremt, kognitiv getestet. Im Großen und Ganzen ein opferloses Verbrechen, und die Bewohner*innen haben was zu tun. Natürlich fährt irgendwo irgendwer einen Sportwagen, der genauso gut ein neuer Bodenbelag und regelmäßig frische Blumen in der Cafeteria hätte sein sollen. Aber das ist ja nicht verboten. Und immerhin ist das Pflegepersonal hier, laut Bennos Großmutter, "weitestgehend in Ordnung."
Benno ist dieser Auftritt sehr wichtig. Man hat es ihm angesehen, als er uns gefragt hat. Da wir keine Unmenschen sind, tun wir ihm den Gefallen und spielen noch mal wie früher, ganz klassisch. Das Heim selbst zahlt uns keine Gage, aber wir dürfen danach einen Hut rumgeben. Da die Leute hier wenig Geld haben, ist es sogar halbwegs realistisch, dass ein bisschen was zusammenkommt. Falls es doch sehr wenig werden sollte, wird Benno sich schlecht fühlen und auf seinen Anteil verzichten wollen, was wir dann, nach einigem Hin und Her, ablehnen werden.
Auf dem Weg hierher habe ich in Benno zum ersten Mal so etwas wie Nervosität gesehen, was mehr als untypisch für ihn ist. Er ist der klassische Begleitpianist, ein musikalischer Fels in der Brandung. Oft wirkt es, als wüsste er schon vorher, wo man sich verspielen oder versingen und noch wichtiger, wo man danach wieder einsetzen wird. Ansonsten ist er unscheinbar und gut gelaunt. Benno ist einer von diesen Menschen, die sich so eine Naivität bewahrt haben. Die Fähigkeit jedem Rückschlag, jeder schlechten Nachricht etwas Positives abzuringen und am Ende doch wieder voller Hoffnung in die Zukunft zu schauen. Eine Naivität, die mich mitunter zynisch werden lässt, obwohl ich weiß, dass sie eigentlich wunderschön ist. Etwas in mir wartet trotzdem darauf, dass er damit auf die Fresse fliegt. Weil ich mir einreden will, dass es alle irgendwann erwischt.
Mit seinen für einen Klavierspieler etwas zu breiten Schultern sitzt er an dem leicht verstimmten Klavier, einen Meter von seiner Großmutter entfernt, und macht das beste daraus. Vor allem das zweigestrichene G auf der Klaviatur ist bemerkenswert unsauber. Aus einem grazilen Lauf der Melodie sticht es so sehr heraus, dass du dein Gesicht verziehst. Nur für den Bruchteil einer Sekunde, aber lange genug, um sowohl mir als auch Benno aufzufallen. Als sich die Melodie wenig später wiederholt, lässt er die Note einfach weg. Ein kurzes, dankbares Lächeln deinerseits ist seine Belohnung. Du bist wunderschön. Ich schaue mich um, ob es sonst jemand bemerkt hat, nur um daran erinnert zu werden, dass die meisten ohnehin schlafen.
Und hier in diesem kleinen Saal, in den schräg wärmende Sonnenstrahlen hineinfallen, vor dem sich die endlosen Grüntöne des Frühlings in den Bäumen und Sträuchern zusammenfinden, in dem die ausnahmsweise zufriedenen Rentner*innen vor sich hin dösen, habe ich plötzlich eine unfassbar traurige Wut im Bauch. Wie wir unser Talent verschwenden. Ausgebreitet vor einer Horde Schlafenden liegt euer vorsichtiges Spiel und wird nicht mal wahrgenommen. Ein Leben mit einem Instrument. Ein paar in einen Hut geworfene Münzen.
Ich schaue auf die schlafenden Rentner*innen um mich herum. Am liebsten würde ich sie schütteln und anschreien, gefälligst zuzuhören. Gleichzeitig richtet sich meine Wut gar nicht gegen sie. Vermutlich hatten sie der Welt auch was zu bieten, haben es vielleicht immer noch, und vermutlich hat auch das niemanden interessiert. Bemitleiden muss man sie eigentlich. Da passiert einmal etwas Außergewöhnliches in ihren Leben zwischen Tabletten, Spaziergängen und geschmacklosem Essen und ihre Körper, erschöpft von einem Glas Sekt, machen sofort schlapp. So plötzlich wie die Wut aufgekommen ist, ist sie auch wieder weg.
Ich sehe Bennos Großmutter mittig in der ersten Reihe sitzen. Sie könnte wacher nicht sein und dürfte jeden Moment platzen vor Stolz. Sie hat sich extra herausgeputzt, würde in jeder guten Staatsoper nicht weiter auffallen. Eine glücklich, alte Frau. Wenn man ein Auge dafür hat, kann man sehen, wie ihre Finger sich zur Musik bewegen, selbst unsichtbare Tasten anschlagen, eine stille Begleitung zur Begleitung. Bei ihrem Anblick weicht das letzte bisschen Wut und an ihre Stelle tritt Entschlossenheit: Wir sind Verbündete. Wir und die Rentner*innen in diesem heruntergekommenen Altenheim. Unbeachtet vom Rest der Welt, immer einen Tag nach dem nächsten. Und während ihr die letzten Takte spielt und ein unterbezahlter Pfleger die Kaffeemaschine im Vorraum anschmeißt, bin ich mir sicherer denn je, dass wir in dieser Geschichte die Guten sind.
In Bennos klapprigem Auto fahren wir zurück in die Stadt. Du sitzt auf dem Rücksitz und zählst das Geld aus dem Hut. Wir haben die Fenster nach unten gekurbelt und atmen die frische Luft. Benno trommelt auf dem Lenkrad "Have you ever seen the rain" mit.
"Leute, wir sind reich", sagst du, "97 Euro und 50 Cent."
"Scheiße, das tut mir leid", sagt Benno und muss lachen. Wir lachen auch.
"Das lohnt sich nicht mal aufzuteilen", sagst du, "lasst uns einfach davon frühstücken gehen."
"Gute Idee", sagt Benno und schaut zu mir: "Was meinst du?"
"Let’s do it", sage ich.