Smarte Entscheidungswerkzeuge statt Aushandlungsprozesse
In der letzten Zeit ist mir immer wieder dasselbe Phänomen begegnet, sei es im Gespräch mit Menschen aus einem selbstorganisierten Kollektivbetrieb, bei einem Vortrag über die Realisierung von Gesellschaftsutopien oder bei einem Input zu Beteiligungsformaten. In all diesen Situationen bin ich Menschen/Initiativen begegnet, die tolle, inspirierende Arbeit machen, die ich sehr schätze und von denen ich lernen kann. Aber es gibt diese eine Sache, die für mich immer wieder nicht stimmig ist und ich wichtig finde, im Diskurs rund um kollektives Gestalten zu adressieren: Wenn ich danach frage, wie denn konkret Entscheidungen gemeinsam getroffen werden, erhalte ich immer wieder die Antwort: „Das sind dann Aushandlungsprozesse“. Und oft kommt dann noch der Nachsatz, dass diese Prozesse oft anstrengend sind, und manchmal wird auch von „Kompromiss“ gesprochen.
Erstmal: Gute Kooperation sollte sich leicht und im besten Fall energetisierend anfühlen, nicht anstrengend und auszehrend. Ich bin tief überzeugt: Wenn wir gemeinsam als Menschen eine regenerative Zukunft gestalten wollen, geht das nur, wenn unsere Kooperation auch regenerativ gestaltet ist. Wenn wir nach partizipativen Prozessen extrem ausgelaugt und fertig sind, ist das kein gutes Zeichen. Natürlich ist es ok, ein bisschen Energie auch zu „verbrauchen“, aber die Kooperation sollte grundsätzlich innerhalb unserer Kapazitäten stattfinden. Egal ob im Unternehmen, der lokalen Initiative, der großen oder kleinen Politik, oder, oder, oder… Jede Organisation/Gruppe, die darauf ausgerichtet ist, unsere Welt schöner, statt schlechter zu machen, sollte aus meiner Sicht regenerativ kooperieren – in Sinne der beteiligten Menschen und im Sinne der Wirkung in der Welt.
Nun aber noch zu dem fast wichtigeren Thema: „Aushandlungsprozesse“. Um es kurz zu sagen: Da bin ich kein Fan von! In einem Podcast hat mal jemand, dessen Namen ich leider nicht mehr weiß, sinngemäß gesagt: Wenn man Gruppenstrukturen nicht explizit auf Gleichstellung („equality“) hin designt, werden sich in der Gruppe die bestehenden gesellschaftlichen Machtdynamiken reproduzieren. In solchen undefinierten Aushandlungsprozessen werden also überproportional Menschen sprechen und gehört werden, die in Machtpositionen sind, keine Behinderung haben, extrovertiert sind, cis-männlich, hetero, weiß, neurotypisch usw… Und nicht nur, weil sie sich eher trauen und sich den Raum selbstverständlicher nehmen, sondern weil wir es ihnen unbewusst auch eher zutrauen, ihnen eher den Raum geben etc. … (Yes, wir alle haben unbewusste Vorurteile und handeln unbewusst danach, auch wenn wir uns das nicht wünschen.)
Und all das wollen wir doch nicht, oder? 😉 Es gibt viele gute Gründe, warum es moralisch, ökonomisch und politisch wichtig ist, auf Gleichstellung hinzuwirken. Dafür werde ich jetzt nicht weiter argumentieren. Aber wir halten fest: Allein deshalb sollten wir Gruppen nicht einfach sich selbst überlassen, sondern die Entscheidungsprozesse bewusst designen.
Es gibt noch weitere gute Gründe gegen unstrukturierte „Aushandlungsprozesse“: Diese führen oft implizit zu Mehrheits- oder Konsensentscheidungen. Beides ist nicht wirklich gut. Bei Mehrheit werden für ein gutes Ergebnis relevante Minderheitenperspektiven ignoriert und Menschen, die nicht gehört wurden, sehen sich dem Ergebnis auch weniger verpflichtet. Und Konsensentscheidungen bedeuten, dass alle für etwas sein müssen. Dadurch kommt es oft zu sog. Kompromissen bzw. der Einigung auf den kleinsten gemeinsamen Nenner - also nicht zu den bestmöglichen Ergebnissen. Zudem sind Konsensprozesse oft lang, ermüdend und zäh.
Was dann? Ich bin ein Fan von sog. Konsent-basierte Verfahren. Diese sind lösungsorientiert, perspektivenintegrierend und effizient. Bei diesen Entscheidungsverfahren wird nicht gefragt, ob alle für einen Vorschlag stimmen, sondern ob es einen Einwand gibt. Ein Einwand bedeutet, dass der Vorschlag nicht sicher genug ist, ihn auszuprobieren. Einwände sind sehr willkommen und dann wird geschaut, wie der Einwand in den Vorschlag integriert werden kann. Auf diesem Grundprinzip basierend gibt es verschiedene Konsent-Variationen. Deren Beschreibung würde den Umfang dieses Artikels sprengen.
Wichtig ist: Die Konsent-Verfahren sind erstmal ungewohnt. Sie erfordern oft ein anderes Denken und Miteinander-Umgehen als in klassisch hierarchischen Entscheidungsprozessen oder eben auch in Mehrheits-/Konsens-Verfahren. Eine geübte, starke Moderation ist für das Gelingen entscheidend.
Konsent-basierte Methoden halte ich für ein extrem hilfreiches Tool, wenn wir gemeinsam effektiv und effizient Entscheidungen treffen wollen. Dabei ist noch eine Sache zentral: vorher festlegen und transparent machen, welche Entscheidungsmethoden für einen bestimmten Prozess (im Falle einmaliger Gremien ö.ä.) oder bestimmte Themenbereiche (im Falle eines Teams o.ä.) verwendet werden. Es macht keinen Sinn, erst mitten im Prozess anzufangen, auszuhandeln, wie man entscheidet.
Wollt ihr in euren Teams, Organisationen, Initiativen oder Projekten aus Aushandlungsprozessen aussteigen und habt Bock auf effektive Entscheidungen jenseits von Mehrheit und Konsens? Dann meldet euch gerne bei mir unter mail@lynvonderladen.de (Öffnet in neuem Fenster). Sein es Trainings zu Entscheidungsmethoden, individuelle Teambegleitungen (Öffnet in neuem Fenster) oder als Prozessmoderatorin (Öffnet in neuem Fenster) für spezifische Termine – ich unterstütze euch liebend gerne bei diesem so wichtigen Baustein effektiver Zusammenarbeit 😊
Und wie immer: Schreib mir gerne, wenn du Gedanken hast zu diesem Artikel. Ich freue mich über Rückmeldungen!
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Herzliche Grüße
Lyn
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Über Lyn von der Laden
Als freiberufliche Wirtschaftspsychologin begleite ich Teams und Organisationen, ihre Zusammenarbeit wirksam, anpassungsfähig und freudvoll zu gestalten. Mehr zu mir und meiner Arbeit findest du auf www.lynvonderladen.de (Öffnet in neuem Fenster)