Mythos Führungskraft - oder warum ich gemeinsam geführte Teams schätze

Mythos Führungskraft? Das klingt vermutlich erstmal komisch. Schließlich sind Führungskräfte auf eine Art ziemlich real: Alleine in Deutschland gibt es etwa 2 Millionen Menschen, die die Position Führungskraft innehaben.
Ich bin allerdings überzeugt, dass die Erwartungen, die an diese Position geknüpft sind, kaum erreichbar sind. Und dass daher die Führungskraft, wie sie traditionell verstanden wird, eigentlich ein Mythos ist.
Wie komme ich darauf?
Zusammen mit anderen Organisationsentwicklerinnen habe ich mir vor einiger Zeit mal in einer Organisation die Position „Führungskraft“ vorgeknüpft, all ihre Verantwortlichkeiten zusammengesucht und auf Rollen aufgeteilt. Wir sind damals auf 13 (!) Rollen gekommen
Hier zur Übersicht die 13 Führungsrollen mit ihrem jeweiligen Rollenzweck (ohne die dazugehörigen Verantwortlichkeiten):
Kompass – Stellt sicher, dass das Team eine klare Ausrichtung hat
Kommunikator:in – Stellt die Vernetzung des Teams innerhalb der Organisation sicher
Ökonomin – stellt die finanzielle Gesundheit des Teams sicher
Moderator:in – Ermöglicht klar ausgerichtete, effiziente und motivierende Meetings
Transparenzmeister:in – Gewährleistung der teaminternen Transparenz über die teaminterne Arbeit, insbesondere Entscheidungen und Ergebnisse
Teamentwicklung – Unterstützt Teammitglieder und das Team als Ganzes in der Weiterentwicklung
Neubesetzer:in – Stellt Neubesetzungen sicher
On- und Offboarder:in – Stellt ein gutes Onboarding und Offboarding sicher
Gesundheitshüter:in – Unterstützt die Gesundheit der einzelnen Teammitglieder
Arbeitsort- und Arbeitsmittelbereitsteller:in – Sicherstellung, dass alle im Team einen Arbeitsort sowie die notwendigen Arbeitsmittel und Berechtigungen besitzen, und damit umgehen können
Belehrungsmeister:in: Sicherstellung aller Belehrungen und wichtiger arbeitsrechtlicher und – organisatorischer Informationen für das Team.
Arbeitszeitenmeister:in: Stellt sicher, dass Anforderungen aus Team und Organisation an Arbeitszeiten und Dienstreisen eingehalten werden können.
Formale Führungsrolle: Übernimmt Ermahnungen, Abmahnungen und Kündigungen
Das ist ganz schön viel. Und wenn ich auf diese Liste zurückschaue, fällt mir auf, dass wir den großen Bereich der „fachlichen Führung“ in den Rollen nicht berücksichtigt haben. Nicht von jeder Führungskraft wird fachliche Führung erwartet, aber sicherlich von vielen. Und möglicherweise fehlen darüber hinaus noch weiteren Verantwortlichkeiten.
Aus meiner Sicht reicht aber schon diese unvollständige Übersicht, um stark ins Zweifeln zu kommen, dass all diese Rollen von einer Person kompetent abgedeckt werden können. Dabei betrachte ich das Ganze sowohl hinsichtlich des Zeitaufwandes als auch inhaltlich.
Unrealistische Erwartungen an Führungskräfte
Zeitaufwand: Zu den 13 Rollen gehören insgesamt über 50 Verantwortlichkeiten. Das klingt viel. Gleichzeitig sind einige der Rollen auch nur punktuell relevant, z.B. bei Neubesetzungen. Ich persönlich glaube, dass ohne fachliche Führung diese Rollen zeitlich in einer Vollzeitstelle theoretisch machbar sind. Je nach dem wie viel fachliche Beteiligung von der Rolle Führungskraft erwartet wird, könnte es allerdings schon schwierig werden, alle Verantwortlichkeiten ausreichend im Blick zu behalten.
Die eigentliche Herausforderung sehe ich allerdings inhaltlich: Die 13 Rollen erfordern ganz unterschiedliche Kompetenzen. Als Kompass z.B. brauchst du strategischen Weitblick, während in den administrativen Rollen Liebe für das Detail und für Dokumentation gefordert ist. Und während du dafür zuständig bist, das Team auf hohe Leistung einzuschwören, sollst du gleichzeitig eine vertrauensvolle Ansprechperson in Gesundheitsfragen sein. Und dann aber auch wieder die Person sein, die Ermahnungen und Kündigungen ausspricht. Du solltest fit darin sein, Teammitglieder zu entwickeln und auch noch genau wissen, was für Neuzugänge das Team braucht. Ein guter Recruiter sein. Außerdem bestens vernetzt sein und gut in die Organisation rein kommunizieren können. Ein Top-Meetingmoderator sein – strukturiert, empathisch und gleichzeitig durchsetzungsstark. Und natürlich sollst du oft auch noch fachlich spitze sein.
Ich glaube, dass kaum ein Mensch das alles kann.
Ich erinnere mich z.B. noch wie eine Führungskraft, der ich die obige Rollenübersicht gezeigt hatte, zu mir sagte: „Ich gehe selbst gehe nicht gut mit meiner Gesundheit um. Wie soll ich da denn eine gute Gesundheitshüter:in sein?“ Auch habe ich großartige Strategen erlebt, die aber ihre Meetings grauenhaft moderiert haben. Und sehr empathische Führungskräfte, die immer ein offenes Ohr hatten. Die Leistung im Team hat aber sehr gelitten, weil diese Führungskräfte sich nicht getraut haben, das Team mit problematischen Dynamiken zu konfrontieren und Konsequenzen zu ziehen.
Ist die Antwort dann, dass nur Führungskraft werden kann, wer all diese verschiedenen Kompetenzen in sich vereint? Dann bleiben sicherlich viele Stellen offen.
Führung teilen
Ich persönlich schätze gemeinsam geführte Teams (auch „Selbstorganisation“ oder “kollektive Führung” genannt). Hier gibt es keine Führungskraft. Führungsaufgaben werden stärken- und interessensbasiert auf Teammitglieder verteilt. Das bedeutet nicht, dass jede:r Führungsrollen übernehmen muss. Es ist völlig in Ordnung, wenn Menschen ausschließlich fachliche Rollen übernehmen möchten. Die Verteilung der Rollen hängt von den Stärken und Interessen der Teammitglieder ab. Manchmal haben auch nur zwei bis drei Teammitglieder alle Führungsrollen inne.
Ich fand das als Teammitglied in meinem alten, selbstorganisierten Team sehr entlastend. Ich selbst konnte mich z.B. in der Meetingmoderation austoben und weiterentwickeln, während ich mich hinsichtlich teamübergreifender Kommunikation voll und ganz auf eine andere, fitte und motivierte Kollegin verlassen konnte. Oder als ich länger krank war: Theoretisch hat jede Führungskraft eine Fürsorgepflicht. Aber erst durch dieses selbstorganisierte Team mit eigener Gesundheitsrolle habe ich erlebt, was es bedeutet, wenn die Fürsorgepflicht wirklich ernst genommen wird.
Möglicherweise denkst du jetzt: Aber vielleicht findet sich nicht für jede Rolle eine Interessent:in. Ja, das kann sein und dann braucht es eine gemeinsame Lösung. Oft geht es meiner Erfahrung nach aber auf. Ich erinnere mich an ein Team, das ich in die gemeinsame Führung begleitet habe. Das Team hatte gerade die Rolle „Belehrungsmeister:in“ eingeführt und stellte sich dieselbe Frage. Aber plötzlich rief eine Kollegin voller Begeisterung: „Das ist MEINE Rolle! Datenschutz, Feuerschutz,… total spannend!“. Und diese Kollegin wäre wiederrum vor Schreck weggelaufen, hätte man sie gebeten, regelmäßig die Meetings zu moderieren.
Aber es muss ja nicht gleich All-in sein. Gemeinsame Führung einzuführen (Öffnet in neuem Fenster) ist ein Weg, der nicht nur ein paar neue Rollen bedeutet, sondern ein ziemlich großer Wandel ist. Dieser Wandel betrifft neben neuen Strukturen oft auch Kultur, zwischenmenschliche Kompetenzen und individuelle Haltungen. Aus meiner Sicht ein sehr bereichernder Weg, aber auch achtsam zu wählen. (Mehr zu dem, was es zu beachten gilt, findest du hier (Öffnet in neuem Fenster)).
Eine andere Möglichkeit ist es, als Führungskraft seine Führungsrollen (möglichst konkret) zu bestimmen und dann zu schauen, welche Rolle man bereit ist, ins Team abzugeben und welche man behält. Anschließend können erstere dann stärkenbasiert verteilt werden. Dabei sollte das Team am besten mitbestimmen. Und natürlich braucht es dann zusätzlich eine Abmachung hinsichtlich fachlicher Entlastung der Personen, die neu Führungsrollen übernehmen.
(Wichtig: Die oben genannten Rollen sind ein Prototyp und ich empfehle nicht unbedingt, sie genauso zu übernehmen. Es macht das Sinn, was zu euch und eurem Kontext passt.)
Ich selbst habe beide Prozesse schon mehrfach begleitet: Den Weg in die komplette gemeinsame Führung sowie Teams, die ihre Führungskräfte behalten, aber einige Führungsaufgaben übernommen haben. Sinnvoll und achtsam umgesetzt, kann durch beide Wege viel Potenzial freigesetzt und die Wirksamkeit als Team gestärkt werden. Gerne begleite ich auch euch auf eurem individuellen Weg. Ihr erreicht mich über mail@lynvonderladen.de (Öffnet in neuem Fenster)
Außerdem wie immer: schreib mir gerne, wenn du Gedanken hast zu dem Artikel. Ich freue mich über Rückmeldungen :)
Herzliche Grüße
Lyn
(Foto von Paul Hanaoka auf Unsplash)
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Über Lyn von der Laden
Als freiberufliche Wirtschaftspsychologin begleite ich Teams und Organisationen, ihre Zusammenarbeit wirksam, anpassungsfähig und freudvoll zu gestalten. Mehr zu mir und meiner Arbeit findest du auf www.lynvonderladen.de (Öffnet in neuem Fenster)