EIN IMPULS
SACHBUCH-KRITIK (Öffnet in neuem Fenster)
Heute wird Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) sein Konzept für den freiwilligen Wehrdienst der Bundesregierung vorstellen. Dafür tagt das Kabinett ausnahmsweise im Verteidigungsministerium (zusätzlich soll heute der Nationale Sicherheitsrat gegründet werden). Die Debatte darüber ist bereits seit einer Weile im Gange. Manche haben lautstark zu Protokoll gegeben, dieses Land auf keinen Fall verteidigen zu wollen, andere betonen, dass die Landesverteidigung uns alle etwas angeht.

All das geschieht vor der immanenten Bedrohung durch Russland. Am Sonntag beging die Ukraine ihren Unabhängigkeitstag – ziemlich genau dreieinhalb Jahre nach der Vollinvasion im Osten des Landes. Die Ukrainer*innen kämpfen für ihr Land, doch die letzten Wochen haben allen, die fordern, zu einer Verhandlungslösung zu kommen, genug Stoff zum Nachdenken gegeben.
Treiber dessen ist der erratische US-Präsident Donald Trump (Öffnet in neuem Fenster), der die Ukraine zu einer Art Diktatfrieden zwingen wollte, mittlerweile aber erkennen muss, dass Putin ein anderes Kriegsende anstrebt. Dennoch bleibt die Frage: Was passiert „Wenn Russland gewinnt“? So der Titel eines kurzen Buches, das Carlo Masala im Frühjahr 2025 publizierte und das ein halbes Jahr später bereits in der 10. Auflage vorliegt.
Auf etwas mehr als 100 Seiten entwirft der bekannte Militärexperte ein Szenario, das der Realität einigermaßen nahe kommt, aber selbstverständlich nur eines von vielen möglichen ist, wie er mehrfach einräumt. In seinem Fall tritt die „Freie Ukraine“ große Teile ihres Territoriums ab, gleitet in eine kaum regierbare Situation ab und wird für den Rest des Szenarios allerdings irrelevant – ein kaltes Schlachtfeld, das gegen Ende des Büchleins noch etwas Aufmerksamkeit verdient hätte.
https://steady.page/de/018e38c0-7a57-4e1c-b5b8-4c831b91d2f7/posts/97450c4c-406f-4b65-a7cc-dfb8d3f510f3 (Öffnet in neuem Fenster)Der Schwerpunkt liegt jedoch auf einem Szenario im Frühjahr 2028, in dem die neue und vermeintlich moderate russische Staatsführung in einer nächtlichen Aktion eine mehrheitlich russischsprachige Stadt sowie eine strategisch wichtige Insel im NATO-Land Estland besetzt und weitere Angriffe mittels hybrider Kriegsführung in weiteren Ländern des Bündnisses durchführt. Das stiftet maximale Verwirrung und die Verbündeten sind mit dem noch immer erratischen US-Präsidenten konfrontiert, dessen Verbindlichkeit gegenüber der NATO mehr als fragwürdig ist.
Mehr soll an dieser Stelle nicht vorweggenommen werden, denn das Szenario hat viele Facetten und entwickelt sich sehr generisch aus seiner schrittweisen Erarbeitung. Klar, es handelt sich um eine von vielen möglichen Projektionen des Geschehens in der Zukunft, aber genau solche braucht es, um den Raum der Möglichkeiten diskursiv auszuloten.
Masala entwirft ein Gedankenspiel, das eine mögliche dunkle – und vermutlich noch lange nicht die dunkelste – Zukunft Europas für denkbar hält. Manche mögen sagen, dass das wieder Alarmismus sei und den „Kriegstreibern“ nach dem Mund rede. Das mag vielleicht so sein, aber das Problem ist: Das Szenario wird seitens der Fachöffentlichkeit doch als recht realistisch eingeschätzt und tauchte gerade in den Wirren der letzten Verhandlungswoche immer wieder in der Debatte auf.
https://steady.page/de/018e38c0-7a57-4e1c-b5b8-4c831b91d2f7/posts/ba8b6f09-1ebe-4a7f-8e8e-ad72c88826d1 (Öffnet in neuem Fenster)Es ist logisch, konsequent und zeigt, vor welchen Dilemmata wir künftig stehen könnten, wenn Russland diesen Krieg gewinnt. Und das macht es einerseits bedrohlich, andererseits aber überaus lesenswert. Gerade jetzt stehen entscheidende Weichenstellungen bevor und ein irgendwie gearteter schlechter Friedensschluss könnte hier falsche Impulse auslösen.
Und da sind wir wieder bei der Tagespolitik: Es geht um die Wehrpflicht. Es geht um den Haushalt 2027, der bald aufzustellen sein wird. Es geht um die Modernisierung des Staatswesens. Es geht um unsere künftige Energieerzeugung und welche wirtschaftlichen Schwerpunkte wir setzen wollen. Es geht um die belasteten Renten- und Sozialkassen. In all diesen und noch einigen anderen Bereichen steht die Bundesregierung vor entscheidenden Weichenstellungen. Ein falsch interpretierter „Friedensschluss“ könnte, gepaart mit einer ermatteten und durch Demagogen aufgestachelten Gesellschaft, mit hoher Wahrscheinlichkeit dazu führen, dass Reformbemühungen erlahmen, dass der Sicherheit und Verteidigung weniger Beachtung beigemessen wird, „denn die Gefahr aus Russland ist ja jetzt gebannt“.
https://steady.page/de/thelittlequeerreview/posts/c85b4d8d-b12a-4f73-af28-5fbcd9cd6a83 (Öffnet in neuem Fenster)Nein, das ist sie nicht und genau darauf macht Carlo Masala in seinem Szenario aufmerksam. Wer dieses vielschichtige und wichtige Szenario nicht bereits gelesen hat und wem die Sicherheit unserer Gesellschaft etwas bedeutet, sollte sich dieses Buch, das auch für sicherheitspolitisch weniger Bewanderte sehr gut lesbar und verständlich ist, schnellstens besorgen. Es dauert nicht mehr als einen Nachmittag, sich damit auseinanderzusetzen, aber es würde uns allen viel Zeit, Freiheit und Wohlstand rauben, wenn wir uns ob der Bedrohungslage aus Russland und autoritären Staaten nicht wappnen – auch geistig.
HMS
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Eine Leseprobe findet ihr hier (Öffnet in neuem Fenster).
Carlo Masala: Wenn Russland gewinnt. Ein Szenario. (Öffnet in neuem Fenster); März 2025, 10. Auflage; 119 Seiten; Klappenbroschur; ISBN: 978-3-406-82448-7; C.H. Beck Verlag; 15,00 €