DER OZEAN, UNBEKANNTE TIEFEN...
SACHBUCH-&-FILM-KRITIK
...wir schreiben das Jahr 2025 und nehmen uns eines in diesem Jahr erschienenen Buches sowie einer Dokumentation an, die ein wenig Licht ins Dunkel (Öffnet in neuem Fenster) von teils über 3000 bis 4000 Metern Tiefe bringen. OZEANE – Die letzte Wildnis unserer Erde heißt das im Mai bei dtv veröffentlichte intensive Sachbuch von David Attenborough – der*die ein*e oder ander*e mag von ihm gehört haben – und Colin Butfield. Entstanden ist die Idee zu diesem Buch wiederum während der Dreharbeiten zu der Disney+-Dokumentation OZEANE mit David Attenborough (Öffnet in neuem Fenster), die am 8. Juni 2025, dem Welttag der Ozeane, ihre Premiere bei National Geographic feierte (wir erwähnten es bereits (Öffnet in neuem Fenster)).

Heute ist der Welttag eines Meeresbewohners, der, ob nun zu Recht oder Unrecht, von vielen Menschen und dem Haus-Pingiun gefürchtet wird. Nämlich der des Hais. Dass wir diesem im genannten Buch wie auch der Dokumentation (recht früh sogar) begegnen, dürfte nicht nur Meeres-Fans naheliegend erscheinen. Etwa dem Weißen Hai in der Hochsee, bezogen „auf den Teil der euphotischen Zone, also die obersten 200 Meter Wasser“ sowie in den Kelpwäldern der Ozeane, in denen neben einer bis zu 50 Meter hohen Riesenalge „noch weitere 134 Seetangarten [...] und zusätzliche 550 Arten Wald bildender Algen“ existieren (können).
In den etwa 10 000 Quadratkilometer großen Mangrovenwäldern der Sundarbans, in denen nur wenige der Bäume „tatsächlich zur Mangrovenbaumart Rhizophora“ gehören und die „in der Regel doch aus mehreren Baum- und Sträucherarten, die den dort herrschenden Bedingungen standhalten können“ (u. a. das sehr salzige Wasser) bestehen, können Haie gar über Fußabdrücke von Tigern laufen. Grund dafür sind die Gezeiten, also Ebbe und Flut. Zwei weitere Faszinosa dieser Gegend sind Kapuzineraffen, die die Gezeiten kennen und ihren Tagesablauf nach diesen ausrichten sowie der Krabbenfrosch, der nicht nur Krabben frisst, sondern seinen Harnstoff in einer so hohen Konzentration im Körper behält, dass es andere Lebewesen umbrächte. Dem Krabbenfrosch hingegen erlaubt das, „froh und munter in seinem Mangrovenhabitat“ leben zu können.

Mangrovenwälder erlauben es uns, so der Mensch sie entweder bewahrt oder sich um Renaturierung bemüht, ebenfalls sicherer zu leben. Sind sie doch nachweislich eine Barriere bei Stürmen und (Monster-)Wellen und dienen somit dem Katastrophenschutz. Zudem ist der Bereich auch eine wunderbare Kohlenstoffsenke: Ein Hektar bindet rund 907 Tonnen Kohlenstoff. Allerdings reicht das nicht ganz an den Südlichen Ozean auf dem lange unbekannten fünften Kontinent Antarktika mit all seinen Pinguinen, See-Elefanten, Tintenfischen und auch Haien heran, der laut der British Antarctic Survey die weltweit größte Hitze- und Kohlenstoffsenkgrube ist und durch den „drei Viertel der vom Menschen verursachten Klimaerwärmung absorbiert werden.“
https://steady.page/de/thelittlequeerreview/posts/8981dc84-05c9-44b8-8d84-81f32847f555 (Öffnet in neuem Fenster)An Unterwasserbergen in der Tiefsee, die mehr als 95 Prozent unserer Biosphäre ausmacht, treiben sich beispielsweise Hammerhaie gern rum. Überhaupt sind die Tiefseeberge äußerst belebte Orte. Warum? Das weiß mensch, wie so vieles, das unsere Ozeane angeht, noch nicht genau. Herrje, Forschende können selbst die Anzahl der Berge (alles ab 1000 Metern Höhe) nur schätzen. Was allerdings bekannt ist, ist, dass die Fischerei mit den elendigen Trawlern und ihren beschwerten Netzen das Leben an den Tiefseebergen vernichtet, für unendlich viel Beifang bedrohter und geschützter Tierarten wie u. a. Meeresschildkröten sorgt und ohnehin schlicht grausam ist. „Es ist, als würde man einen Wald abholzen, um einen Hirsch zu fangen“, steht es so passend wie erschütternd im Buch.
Die Dokumentation zeigt dazu erstmals eindrückliche, unschöne Bilder von Trawlern in flacheren Gewässern. Es spielt keine Rolle, was da abgemäht und abgeschlachtet wird. Tausende Jahre alte Korallenkolonien – weg. Delfine – Matsch. Fischarten, die erst nach sechs bis zehn Jahren laichen – erledigt. Das ist so abartig wie meist auch nicht einmal ökonomisch sinnvoll, wie uns Buch wie Film nicht nur an einer Stelle deutlich machen. Dabei auch immer wieder betonen, dass etwa Fangverbotszonen nicht Anti-Fischfang seien. Es gehe um kontrolliertes Fangen, quasi ein gut gemanagtes Meer. Dort, wo so etwas von Regierungen, Behörden, NGOs, Wissenschaftler*innen und vor allem engagierten Menschen vor Ort begleitet und gemeinsam umgesetzt wird, zeigt sich, dass dies für die Natur, den Tourismus, die Bewohner*innen und Lebensqualität förderlich ist.

Im Film betont David Attenborough, dass er in seiner ganzen Lebenszeit von bald einhundert Jahren so viel gesehen habe und wir wie er dennoch mehr von anderen Planeten wissen und wahrgenommen haben, als vom Ozean. Er spricht, da sind wir wieder bei Star Trek, vom „final frontier“. Dass die Einleitung des OZEANE-Buches „In der Lebensspanne eine Blauwals“ heißt, ergibt insofern Sinn, als dass diese um die einhundert Jahre beträgt - so er nicht zuvor gemeuchelt wird. (Übrigens stoßen wir später auf einen Grönlandwal, der über 100 Jahre mit einer Speerspitze im Körper geschwommen ist.)
https://steady.page/de/018e38c0-7a57-4e1c-b5b8-4c831b91d2f7/posts/8b92cd0e-8251-44fb-ab4a-942ee447bee5 (Öffnet in neuem Fenster)Anhand dieser Zeitspanne können die Autoren die Weiterentwicklung von Forschung und Darstellung, das Wachsen von Erkenntnis wie auch Ausbeutung („Der uralte Reisebegleiter der >>Entdeckung<< ist die >>Ausbeutung<<“) und nicht zuletzt Teile des Filmer- und Forscherlebens Attenboroughs nachzeichnen. Und uns natürlich ein paar der nötigen Wissens-Werkzeuge zur weiteren Lektüre an die Flosse geben. Eine solche fehlt in der sehenswerten Dokumentation natürlich, dafür ist sie so aufgebaut, dass jeder neue Themenbereich durch eine Art „previously in the Ocean“ aufgemacht wird.

Im Buch hingegen wird jedes der Kapitel von Korallenriffe - das uns sofort in eine faszinierende Welt zieht, erläutert, was Korallen eigentlich sind und bitter-ironisch feststellt, dass der Mensch nach dem Holozän gar nicht auf das von ihm eingeleitete Anthropozän eingestellt ist - über Tief- und Hochsee, den Kelp- und Mangrovenwäldern zu Ozeanischen Inseln und Tiefseegebirgen sowie Arktis und dem Südlichen Ozean aka der Antarktis, von einer Art Erlebnis- oder Lebensbericht David Attenboroughs eingeleitet. Da können wir uns in den 1950er-Jahren oder den 2000ern wiederfinden. Außergewöhnlich ist es jedes Mal.
https://steady.page/de/thelittlequeerreview/posts/2b645d20-d1a7-43fe-936e-2b9a1d0dcaed (Öffnet in neuem Fenster)Es folgen Beschreibungen des Lebens und der Risiken, Daten und Fakten sowie Erläuterungen von Forschungslage und (vom Menschen verursachten) Problemen. Da paaren sich verrückte Geschichte(n) mit seltsamen Namen (Oliv-Bastardschildkröte), krasse Zahlen, positive wie negative Kipppunkte mit Kontext, Kontext, Kontext. Abschließend werden Projekte und Kampagnen, Schutzmaßnahmen und Monitoring-Projekte geschildert, die für Renaturierung oder Bestandsschutz, Modernisierung, Klimaschutz und/oder Co. sorgen sollen. Das sind teils äußerst imponierende Beispiele, die zeigen, wie Engagement, Resilienz, Pragmatismus und letztlich Verstand und Herz so einiges Gute UND Nützliche bewirken können.

Wo die Dokumentation durch eine starke Bildsprache und natürlich Attenboroughs einnehmende Stimmfarbe punktet, schafft das von Jörn Pinnow bestens übersetzte Buch dies durch die Aufmachung. Natürlich finden sich Fotografien im Band. Wunderschön aber sind vor allem die bläuliche Färbung der angenehmen Schrift auf relativ dickem Blatt sowie die hervorragenden Illustrationen von Jennifer Smith, die nicht nur die einzelnen Kapitel einleiten, sondern diese immerfort durchschwimmen. So wie jene des Kelp-Curlers, der sein Haus frisst.
Mindestens sinnbildlich tun wir dies auch, wenn wir schauen, was wir mit der Welt, die besser „Ozean“ als „Erde“ heißen sollte, sind doch „mehr als 70 Prozent der Oberfläche unseres Planeten mit Salzwasser bedeckt“, so anrichten. Zum Schluss von OZEANE mit David Attenborough erfahren wir noch, dass sich die Ozeane während der Drehzeit stark erwärmt haben. Beide, Film und Buch, appellieren an uns, dass wir die Ozeane nicht als dunkle, ferne und bedrohliche Lebenswelten wahrnehmen sollten. Ganz im Gegenteil, fördern sie das Leben, tragen aus verschiedenen Gründen einen wesentlichen Teil zu unserem Überleben bei, denn ein gesunder Ozean sorgt „für Nahrung, Lebensunterhalt, Kohlenstoffspeicherung, die Stabilität des Planeten.“ Außerdem sind sie schlicht hochspannend und wunderschön.
https://www.youtube.com/watch?v=v5J7aP2FYH4 (Öffnet in neuem Fenster)In diesem Sinne seien euch sowohl die Dokumentation OZEANE mit David Attenborough als auch das Buch OZEANE – Die letzte Wildnis unserer Erde ans Herz gelegt. Sie sind zudem eine gute Maßnahme, um gegen die >>generationsübergreifende Umweltamnesie<< vorzubeugen, ein Phänomen, das Colin Butfield im Buch erläutert.
Und nun: Bye mit Hai!
AS
PS: Steven Spielbergs Der weiße Hai kehrt zu seinem fünfzigsten Jubiläum ab dem 5. August 2025 für eine kurze Zeit in unsere Kinos zurück.
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David Attenborough, Colin Butfield: OZEANE – Die letzte Wildnis unserer Erde (Öffnet in neuem Fenster); Mai 2025; Aus dem Englischen von Jörn Pinnow; 416 Seiten, zwei Fototeile und div. Illustrationen; Hardcover, gebunden mit Schutzumschlag; ISBN : 978-3-423-28466-0; dtv; 28,00 €

OZEANE mit David Attenborough ist seit dem 8. Juni 2025 auf Disney+ zum Streamen verfügbar (Öffnet in neuem Fenster). Regie: Toby Nowlan, Keith Scholey,Colin Butfield; Laufzeit ca. 85 Minuten; FSK: 6