DAS KOLLEKTIVE WIR-UNWOHLSEIN
LITERATUR-KRITIK & KOMMENTAR
Oder auch: Das kollektive Wir-Unwissen(, das wir gern mit ausgreifender Meinung kombinieren und teilen).
An sich sollten nach einer geplanten Eröffnung am Donnerstagabend heute die 20. Deutsch-Israelischen Literaturtage unter dem Motto „Alles anders“ in der Heinrich-Böll-Stiftung in Berlin fortgesetzt werden. Leider wurden sie am 17. Juni mit Blick auf die sich durch den Krieg gegen das iranische Regime und dessen Atomprogramm veränderte Lage abgesagt: „Die Deutsch-Israelischen Literaturtage leben von einem gemeinsamen Raum, in dem die Erfahrung der Literatur und der Austausch darüber im Zentrum steht. Angesichts der veränderten Sicherheitslage im Nahen Osten seit dem 13. Juni ist ein solches Zusammentreffen in Berlin nun nicht mehr möglich“, heißt es in einer Mitteilung der Organisator*innen.
„Unsere Gedanken gelten allen Menschen vor Ort, die mit Angst und Ungewissheit in die Zukunft blicken.“ - Statement der Organisator*innen der Deutsch-Israelischen Literaturtage
So ist es israelischen Autor*innen und Künstler*innen nicht möglich nach Berlin zu reisen. Stichworte: gesperrter Luftraum und verschärfte Zivilschutzregeln. (Andrea Kiewel, die neuerdings verlobt ist, etwa konnte am vergangenen Wochenende ebenfalls nicht aus Tel Aviv, wo sie lebt, ausreisen, und musste im ZDF Fernsehgarten von Joachim Llambi vertreten werden). „Als veranstaltende Institutionen werden wir in den nächsten Wochen zusammenkommen und unter Berücksichtigung der Entwicklungen vor Ort über die nächsten Schritte beraten“, heißt es abschließend in dem kurzen Absage-Statement.
https://steady.page/de/thelittlequeerreview/posts/c65512b4-3012-486c-a59e-14866bf88896 (Öffnet in neuem Fenster)Zusätzlich dürfte hinzugekommen sein, dass die Deutsch-Israelischen Literaturtage 2025, eine Kooperation der Heinrich-Böll-Stiftung, der Stiftung Deutsch-Israelisches Zukunftsforum und des Goethe-Instituts, bei der aktuell aufgeheizten, insbesondere in Berlin sehr hetzerischen, ja anti-israelischen und anti-jüdischen Stimmung (erst gestern wurden auf der antisemitischen Demonstration “United4Gaza” wohl auch Flaggen des so genannten „Islamischen Staates (IS)“ gezeigt (Öffnet in neuem Fenster)) ohnehin ein risikoreiches Unterfangen gewesen wären.
„Wir werden noch nicht alle da sein, wir werden erst so nach und nach eintreffen, über die Jahre hinweg wird immer jemand dazu kommen und jemand wegbleiben, manche werden auch nie wiederkommen, ohne sich verabschiedet zu haben, und uns erst einmal auch nicht auffallen. Mit unserer Vollzähligkeit wird ohnehin nicht zu rechnen sein. Wir wissen noch nicht, auf was wir uns da einlassen.“ - Kathrin Röggla, Laufendes Verfahren, S. 10
Das ist bedauerlich, wäre doch gerade der oben erwähnte „gemeinsame Raum“ dringend nötig. Allein ihn sich zu nehmen, scheint dieser Tage komplex bis unmöglich geworden zu sein. Zumindest in diesem Fall. Gern hätten wir neben dem heutigen Programm vor allem am Eröffnungsabend, den Shelly Kupferberg moderiert hätte, dem Gespräch zwischen Dror Mishani und Kathrin Röggla beigewohnt (traditionell treffen ein*e deutschsprachige*r und ein*e israelische*r Autor*in aufeinander). Es sollte um nicht wenig gehen: „Einseitige Narrative, Anfeindungen und Worthülsen – die Zeit ist voll davon. Wann finden wir wieder Worte, auf die es ankommt und auf die wir bauen können? Und wie erzählen wir von all dem, was uns momentan bewegt und umtreibt?“
Beide so wortwirksamen wie sprachkritischen Schreibenden hätten uns sicherlich einiges zum Denken und Debattieren mit auf den Weg gegeben. Alternativ kann mensch zu Kathrin Röggla (Öffnet in neuem Fenster)s jüngstem Roman greifen, der 2023 für den Deutschen Buchpreis nominiert war und sich von der Zuschauer*innen-Empore des Oberlandesgerichts München aus mit dem NSU-Prozess auseinandersetzt, der von 2013 bis 2018 die Menschen beschäftigte. Oder sie unterhielt, wie den „Gerichtsopa“ in Laufendes Verfahren, der das alles „[e]infach nur spannend, besser als TV (Öffnet in neuem Fenster)“ findet.
https://steady.page/de/thelittlequeerreview/posts/83aaef7c-351d-458b-b644-c9c7586e5dce (Öffnet in neuem Fenster)Ein Satz, der nicht nur in das Buch und zu der auftretenden, gruppenbezogenen Figur passt, sondern auf die letzten Jahre, in denen wir leben. Der Angriffskrieg von Putins Russland gegen die Ukraine. Die Klimakrise, die als die große kommende Fluchtursache unterschätzt und ohnehin von vielen trotz Hitzetoten in der Familie noch immer kleingeredet wird. Die Lage im Nahen Osten. Das Erstarken des rechten Randes, das Wiederaufbäumen der Rechtsextremisten, die sich so lange als Ottonormalverbraucher tarnten und die wir ließen, war es doch bequemer. Der Backlash gegen menschenwürdige gesellschaftliche Fortentwicklung, gleich ob es um die Rechte und Gleichstellung von Frauen, BiPoc, Queers und Co. geht in Europa, Lateinamerika und den USA. Überhaupt, die USA: Land of the free stupiditeeeee, möchte ich mittlerweile beinahe trällern.
Ja, das Leben sticht die Fiktion zuletzt nicht selten aus. Womöglich erleben deshalb autofiktionale Romane sowie essayistische Erzählungen und wahre oder von realen Ereignissen inspirierte Geschichte literarische Umsetzungen (wie auch filmische) ein scheinbar nicht enden-wollendes Hoch.

Dazu passt Rögglas Roman-Essay im Wir-Ton ganz hervorragend, allein schon, weil er sich so zeitlos liest, dass er auch nach zig Jahren noch zur Hand genommen werden können dürfte, begleitet von dem Gedanken: „Damals wie heute, lauter seltsame Leute.“ Dies wohl bezogen auf die Hauptangeklagte Beate Zschäpe und Unterstützer*innes des NSU, es ging im Prozess an 438 Verhandlungstagen um zehn Morde, zwei Sprengstoffanschläge, fünfzehn Raubüberfälle und dreiundvierzig Mordversuche, die wechselnden Verteidiger*innen, aber auch das Publikum. Die „Nachwendenazis“, die „Emporennazis“, der erwähnte „Gerichtsopa“, die „Halb- und Volljuristen, Erklärburschen erster Güte“, neben denen unser „Wir“ immer sitzt, der „O-Ton-Jurist“, „Bloggerklaus“, die „Vornamenyildiz“, die zur „Nachnamenyildiz“ und schließlich „Grundsatzyildiz“ wird und natürlich die „Omagegenrechts“.
Staatsanwälte, Verfassungsschützer*innen und Behörden überhaupt, die Protokollantin, die mit der Hauptangeklagten schäkert:
„Das Gericht wird zu einer falschen Intimität kommen, das sagen nicht nur wir, sondern sämtliche Beobachter, mit denen es uns gelingt, ins Gespräch zu kommen. Die Leute sitzen sich ja schon beinahe auf dem Schoß, im übertragenen Sinne. Die Protokollführerin schäkert mit der Hauptangeklagten, eine Nebenklagevertreterin befreundet sich mit den Verteidigern, [...]. Jemand wird sagen, jaja, fünf Jahre sind eine ganz schön lange Zeit, in der man festwachsen kann im Gericht.“ - S. 133f.
Nicht zuletzt auch die Täter-Eltern, die alles (weg)erklären und Opfer-Eltern, die vor Rätseln stehen bleiben. Mit den Täter-Eltern taucht auch „der Osten“ auf, von dem das „West-Wir“ nicht genug versteht, in München schon einmal gar nicht. Da treffen sich neben verschiedenen Zeitebenen, es geht doch um die Kindheit der (mutmaßlichen) Täter*innen, die Erziehung durch die Eltern, auch zwei verschobene Lebensebenen, die einander dazu noch nur aufgrund weitergegebener Wahrnehmungen „kennen“. So jedenfalls kann der Subtext an der einen oder anderen Stelle interpretiert werden.
https://steady.page/de/thelittlequeerreview/posts/46625637-c422-4d13-9f93-928b5ed2a8a1 (Öffnet in neuem Fenster)Überhaupt darf mensch manches interpretieren im Werk der 1971 in Salzburg geborenen, nun in Köln lebenden Autorin. Sie nutzt Sprache unter anderem, um einzelne Worte und Wahrnehmungen, die aus ihnen entstehen, zu dekonstruieren. Neben guter Kenntnis des Menschlichen sowie der Fakten, Kathrin Röggla selbst war an einigen Verhandlungstagen in München zugegen, studierte unter anderem Akten und vertiefte sich in Protokolle, ging „ins Thema“, ist in der schon nicht selten bitterbös satirisch anmutenden Bestandsaufnahme einer sich dem eigenen (rechtsstaatlichen) Funktionieren versichern wollenden Gesellschaft doch so einiges auf der Metaebene abgehandelt.
Dieser gegenüber stehen recht deutliche und im Kontext logische, sich in verschiedener Form wiederholende und diverse Handelnde, oder teils Nicht-Handelnde, betreffende Satzfragmente, Sätze, Absätze. Etwa wenn „die Lücken im Gedächtnis [...] immer schon weiter sein [werden], als der Moment ihrer Befragung, sie werden vorauseilen, und Detaillücken werden sich flugs neben Riesenlücken ausbreiten, das Dummgestellte wird neben dem scharf konturierten Unwissen auftauchen [...].“ Oder das Nicht-Verstehen als eine altbekannte, behördliche Strategie. Oder der scheinbar in vielerlei Hinsicht und in unzähligen Situationen gültige Gedanke:
„Sie verschweigen hier nichts, aber kein Wort zu viel, ja?“ - S. 159
Hush, Hush, Baby – und ab zur Aussage, in die Bundespressekonferenz, aufs Podium, in den Seminarraum, zur Demonstration. Sei offen, aber bedeck dich (oder je nach Religion, geschlechtlicher Identität und sexueller Präferenz gleich auch deine „Scham“). In Zeiten, in denen jedes Verhalten, jede Optik sofort nicht nur Assoziation und Interpretation, sonder auch Be- und teils Abwertung erfährt, ist Rögglas Laufendes Verfahren, das vor mancher Polemik nicht zurückschreckt, noch einmal anders zu lesen, als vor zwei Jahren. Keine lange Zeit und doch eine, in der die Welt sich noch weniger erklärbar verdreht, dafür umso meinungswilliger aufgebrezelt hat. Wäre es nicht historisch belegt sexistisch konnotiert, würde ich sagen wollen, manch eine Meinung trägt ihre Dünnhäutigkeit zu Markte.
https://steady.page/de/thelittlequeerreview/posts/60685671-4f9a-4ebb-9ef2-ad47568c558f (Öffnet in neuem Fenster)Im dritten und letzten Teil von Rögglas griffigem Roman, „Manöver“, gibt es Innenansichten einiger der Beobachter*innen, die nicht selten eine Wir-Gegen-Die-Mentalität, ein Stehen auf der richtigen Seite der Geschichte und ein inhärentes Ausgrenzen der „Anderen“ auswringen. Besonders witzig dabei der „Gerichtsopa“, der in seiner Tirade, dass das Gericht für alle da sei, auch „für die, die so Ottonormalverbraucher seien und geradeheraus reden könnten – nicht nur für die Diversen, das möchte er schon sagen dürfen“, in einer weiteren Aufzählung jener, die scheinbar nicht „ottonormal“ seien und jener, die es eben sind, doch alle abdeckt. Inklusion bei gleichzeitiger Beschwerde eigener und dem Versuch der Exklusion anderer. Das ist sprachlich stark und sehr wohl die Ironie, die vielen jener, die von „schreiender Minderheit“ und „schweigender Mehrheit“ sprachen und sprechen, nicht bewusst ist.
Was bleibt also in diesen Zeiten, in denen versucht wird, tatsächlich einigen von uns ihre Räume (oder in verpöntem Woke: Safe Spaces), Paraden, Zusammenkünfte, Symbole zu nehmen und Nationalflaggen zu verbrennen? Zeiten, in denen doch endlich wieder mal was gesagt werden können muss (...)? Zeiten, in denen es vielen gelingt, Dinge nicht nur zu sagen, sondern sie auch auszuführen? Worte und Taten der Wut auf alle, die nicht wie sie sind, des Hasses, der Menschenverachtung? Zeiten, in denen Worte wie jene, die „Gerichtsopas“ Tochter einmal an ihn richtete, zu stimmen scheinen:
„>>Es hat sich gezeigt, dass sich Reue nicht lohnt, sondern Schweigen.<<“ - S. 177
Das Lesen bleibt, das Denken, vielleicht das Hoffen. Für manche Beten, bitteschön, gönnt euch. Für andere, zwischen dem Tippen erregter Kommentare, ein Reality-Format und zuckerreduzierter Energy Drink. An sich würde doch jede*r nun sagen: Und aufstehen. Engagiert euch! Tragt etwas zur Verbesserung bei. Steht für euch ein. Fütter deine Angst und mach Mut aus ihr. Es liegt in deiner, meiner, unserer Hand. Ach ja? Vielleicht einfach links-nationalistischer, populistischer, Fakten mehr so als Fun lesender Israelhasser werden. Da wüsste das Ich-Wir zumindest eine Gruppe hinter sich und wäre zu vielen Seiten und Himmelsrichtungen anschlussfähig. Eine wahre Einheit.
„>>Natürlich ist die Vergangenheit niemals einfach vergangen, das wissen wir. Und die Zukunft ist noch nie ausgegangen, auch wenn das leichthin gesagt wird.<<“ - S. 187
Und damit: Gute Nacht und viel Glück.
AS
PS: Es ist übrigens nicht die erste Absage bzw. Verschiebung. Bereits im Herbst 2023 wurden die Deutsch-Israelischen Literaturtage nach dem Terroranschlag der Hamas, der die aktuellen Auseinandersetzungen hervorbrachte, auf das Frühjahr 2024 verschoben.
https://steady.page/de/thelittlequeerreview/posts/85eb6dca-eb26-4aba-b3c0-35f871f4e12d (Öffnet in neuem Fenster)PPS: Von Kathrin Röggla ist im März 2025 ebenfalls bei S. Fischer der Essay Nichts sagen. Nichts hören. Nichts sehen. erschienen. Wir wollen uns dem in Kürze widmen.
PPPS: Den Buchpreis 2023 durfte übrigens Tonio Schachinger für sein Echtzeitalter in Empfang nehmen. In Anbetracht der Tatsache, dass die meisten unserer Meinung nach stärkeren Titel es nicht von der Long- auf die Shortlist schafften, ist das schon in Ordnung. Es kann nicht immer die Möglichkeit des Glücks gewinnen, was?!

Eine Leseprobe findet ihr hier (Öffnet in neuem Fenster).
Kathrin Röggla: Laufendes Verfahren (Öffnet in neuem Fenster); Juli 2023; 208 Seiten; Hardcover, gebunden mit Schutzumschlag; ISBN: 978-3-10-397155-2; 24,00 €