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Regulierung als Repression? Die neue Lust an der digitalen Kontrolle

Plötzlich sind sie sich einig: Friedrich Merz, Karin Prien und Bodo Ramelow. Was wie ein schlechtes Kabarett klingt, entpuppt sich als symptomatische Allianz in der schleichenden Normalisierung eines autoritären Reflexes: die Rufe nach mehr Regulierung sozialer Medien. Die Begründungen unterscheiden sich leicht in Ton und Pathos, doch die Richtung ist dieselbe: Der Staat müsse eingreifen, um die Demokratie zu schützen. Die bösen Mächte im Netz müssten gebändigt werden. Hass, Desinformation, Verrohung. Begriffe, die als moralische Prädikate fungieren und dabei eine politische Funktion erfüllen: Kontrolle wird zur Tugend, und Widerstand zur Gefahr.

Dabei ist das juristische und regulatorische Netz längst gespannt. Der Digital Services Act (DSA) auf europäischer Ebene, das Digitale-Dienste-Gesetz in Deutschland, Uploadfilter im Urheberrecht und neue institutionelle Akteure wie HateAid als "Trusted Flagger" definieren bereits heute, was gesagt, gezeigt und geteilt werden darf. Doch all das scheint nicht zu genügen. Der neueste Vorstoß kommt von Bodo Ramelow, Bundestagsvizepräsident, der nach einer Morddrohung den Plattformen Identitätsverifikation und Haftungspflichten aufzwingen will. "Solange Hass anonym verbreitet werden kann", sagt er, "bleibt die Gefahr real". Das mag menschlich verständlich sein, aber politisch ist es der nächste Tropfen, der das Fass der digitalen Selbstbestimmung weiter aushöhlt.

Von der Ausnahme zur Regel: Die Verschiebung des Sagbaren

Friedrich Merz formuliert es besonders geschickt: Wer "alles unbesehen erlaube", der "liefere die Meinungsfreiheit ihren Feinden aus". Das ist der rhetorische Kunstgriff dieser neuen Regulierungsideologie: Sie stilisiert sich selbst als Verteidigung der Freiheit, während sie deren Substanz aushöhlt. Die Meinungsfreiheit endet dort, wo jemand "Fake News" ruft, die Wahrheit wird zur Verhandlungssache des Staates. Die Opposition wird zum Partner der Macht. Merz, Prien, Ramelow – sie alle fordern, was der DSA bereits vorgedacht hat: Eine durchregulierte digitale Öffentlichkeit.

Dabei ist der DSA kein bloßes Verbraucherschutzgesetz, sondern ein europäisches Infrastrukturprojekt der Wahrheitspflege. Plattformen müssen Desinformation entfernen, "systemische Risiken" bekämpfen, Inhalte proaktiv filtern und mit "vertrauenswürdigen Hinweisgebern" kooperieren. Die Transparenzpflichten überdecken dabei die eigentliche Gefahr: Der Staat definiert, was ein Risiko ist. Und wer das Risiko definiert, kontrolliert das Narrativ.

Die moralische Aufladung der Regulierung

Was Merz mit Memes und Ramelow mit Hasskommentaren begründen, ist kein technokratischer Wunsch nach Ordnung, sondern ein kulturpolitischer Vorstoß: Die digitale Arena soll gesäubert, gezähmt, zivilisiert werden – und zwar nach dem Bild der jeweils Herrschenden. Wer heute von "kruden Theorien" spricht, meint meist das, was außerhalb des Meinungskorridors liegt. Karin Prien spricht offen von der Notwendigkeit staatlicher Steuerung der Debatte, um das "liberale System" zu retten. Doch wie liberal ist ein System, das seine Kritiker nur erträgt, wenn sie sich staatlicher Definitionen von Rationalität und Anstand unterwerfen?

Was hier entsteht, ist keine offene Debatte, sondern eine epistemische Kuratierung: Wahr ist, was nicht stört. Gut ist, was der Regierung nützt. Demokratie wird zur Simulation, wenn ihre wichtigsten Akteure den Meinungskampf durch Regulierung ersetzen wollen.

Die USA warnen – und das zu Recht

Während die EU immer tiefer in die Infrastruktur der Öffentlichkeit eingreift, regt sich in den USA Widerstand. Die Electronic Frontier Foundation (EFF), das Cato Institute oder auch der Supreme Court warnen vor Eingriffen in die redaktionelle Freiheit von Plattformen. Das TikTok-Verbot in Montana wurde als verfassungswidrig gekippt. Altersverifikationsgesetze scheiterten an der Privatsphäre. Section 230 bleibt der juristische Schutzschirm für digitale Rede. Der Tenor ist klar: Zensur durch Regulierung ist keine Lösung, sondern ein Risiko.

Doch Europa hat sich anders entschieden. Die EU-Kommission finanziert NGOs, die Plattformen mit Hinweisgeber-Status kontrollieren. Trusted Flagger wie HateAid erhalten Vorfahrt bei der Löschung. Der Staat baut sich ein Schattenregime der digitalen Hygiene auf – mit moralischem Mandat, aber ohne demokratische Kontrolle.

Die Gefahr der Selbstverständlichkeit

Was Merz, Prien und Ramelow eint, ist weniger ihr ideologisches Profil als ihre Selbstverständlichkeit. Die Regulierung ist nicht mehr Ausnahme, sondern Standard. Wer sie kritisiert, gilt als Rückwärtiger, als Komplize der Trolle, als Verteidiger des Hasses. So entsteht das eigentliche Problem: Die Normalisierung der Kontrolle. Die Entfremdung der Politik von der Idee, dass Bürger sich ihre Meinung selbst bilden dürfen – auch dann, wenn sie irren.

Karl Popper erinnerte uns daran, dass eine offene Gesellschaft nicht daran scheitert, dass in ihr Unwahrheiten gesagt werden – sondern daran, dass sie nicht mehr kritisiert werden dürfen. Die aktuelle Lust an der Regulierung sozialer Medien verrät ein tiefes Unbehagen gegenüber dieser Offenheit. Anstatt Vielfalt zu ertragen, soll sie kanalisiert, gefiltert, gesäubert werden. Doch wer beginnt, Kommunikation an normativen Leitplanken auszurichten, führt nicht Ordnung herbei, sondern Stabilisierung durch Angst: vor dem Falschen, dem Abweichenden, dem Unkontrollierbaren. Die Frage lautet nicht, wie wir Ordnung schaffen – sondern ob wir das Chaos der Freiheit aushalten. Wer das nicht kann, sollte nicht von Demokratie sprechen.?

Es ist kein Zufall, dass Politiker über Parteigrenzen hinweg auf dasselbe Mittel setzen. Die Angst vor Kontrollverlust, vor Chaos, vor Dissens – all das wird projiziert auf die sozialen Medien. Doch anstatt die Zivilgesellschaft zu stärken, technologische Mündigkeit zu fördern und Medienkompetenz zu vermitteln, setzt man auf Regulierung. Das ist bequem, populär und fatal.

Topic Gesellschaft

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