Wenn der Staat morgens klingelt

Mittwoch, 6:00 Uhr morgens. Die Wohnungstür fliegt auf. In Gelsenkirchen, Köln, Bielefeld, Bonn, Düsseldorf, Münster. Über 180 Maßnahmen gegen sogenannte „digitale Hasskriminalität“. Beamte beschlagnahmen Telefone, sichern Laptops, erheben Daten. Der Innenminister nennt sie „digitale Brandstifter“, die sich nicht länger „hinter ihren Handys verstecken“ dürften. Was klingt wie ein Romananfang, ist Realität im Jahr 2025. Und es ist nicht das erste Mal. Bereits im Februar dokumentierte das US-Magazin 60 Minutes eine identische Aktion vor einem Jahr – eine Dokumentation, die international Entsetzen auslöste. Heute wiederholt sich das Spektakel. Wie ein algorithmisch perfektionierter Machtreflex, der gelernt hat, sich selbst zu inszenieren.
Doch was bedeutet es, wenn der Staat, begleitet von Kameras, mit der Wucht seiner Exekutive gegen Worte vorgeht? Was geschieht auf der Metaebene einer Gesellschaft, wenn Dissens kriminalisiert, Kritik pathologisiert und Abweichung verdächtigt wird?
Die Verschiebung des Koordinatensystems
Wir leben in einem politischen Klima, das zunehmend nicht mehr zwischen normativer Ordnung und affektiver Erregung unterscheidet. Der Diskurs wird nicht mehr durch Argumente moduliert, sondern durch Affekte reguliert. Hass, Hetze, Fake – das sind keine juristisch präzisen Kategorien, sondern Gefühlsbegriffe mit Gesetzeskraft. Was zählt, ist nicht mehr das Faktum, sondern das Framing. Nicht mehr das Gesagte, sondern das Gefühlte. Der Staat übernimmt die Rolle eines moralpädagogischen Algorithmus: Er sortiert, etikettiert, sanktioniert – nicht nach Wahrheit, sondern nach Verträglichkeit.
Damit erleben wir nichts Geringeres als eine tektonische Verschiebung im Verhältnis zwischen Staat und Öffentlichkeit. Wo früher das Risiko des freien Wortes als demokratische Notwendigkeit galt, wird es heute als Gefahr eingeordnet. Die Öffentlichkeit, einst Arena des Dissenses, wird zum hygienischen Raum moralischer Einmütigkeit umdeklariert.
Strafrecht war in der liberalen Ordnung ein ultima ratio – das letzte Mittel. Heute mutiert es zur ersten Geste. Es ersetzt nicht mehr nur die soziale Sanktion, sondern die Debatte selbst. Wer den öffentlichen Raum betritt, ist kein Bürger mehr, sondern potentieller Täter im Meinungsvollzug. Das neue Delikt heißt Abweichung. Der Verdacht reicht.
Das Strafrecht wird damit diskurspolitisch – es setzt nicht mehr nur Grenzen, es produziert Normalität. Es sagt nicht mehr nur: „Das darfst du nicht“, sondern: „So solltest du denken.“ Damit wird Recht zum Medium der Gesinnungspflege. Nicht nur die Inhalte, auch ihre Ästhetik, ihre Tonlage, ihre Ironie werden zur Sache der Ermittlungsbehörden.
Der Verlust der Ambiguitätstoleranz
Demokratie ist nicht die Kunst der Einigkeit, sondern die Praxis des Ertragens. Was verloren geht, ist die Ambiguitätstoleranz – jene kulturelle Fähigkeit, Mehrdeutigkeit nicht nur auszuhalten, sondern produktiv zu machen. Die Polizeiaktion gegen Likes und Posts, gegen Karikaturen und polemische Kommentare zeigt: Der Staat hat das Vertrauen in die Gesellschaft verloren. Und die Gesellschaft das Vertrauen in sich selbst.
Die neue Staatsraison lautet: Kontrolle durch Verunsicherung. Doch was als Schutz gemeint ist, wirkt als Drohung. Der berühmte „Chilling Effect“ ist längst keine Theorie mehr, sondern gelebte Wirklichkeit: Wer heute einen Witz macht, könnte morgen Besuch bekommen.
In autoritären Regimen agiert die Zensur meist zentralisiert. In liberalen Demokratien hingegen wird sie externalisiert – ausgelagert an Drittakteure, legitimiert durch Betroffenheit, abgesichert durch Förderstrukturen. NGOs wie HateAid sind keine rein zivilgesellschaftlichen Organisationen mehr, sondern Vorfeldagenturen des neuen Diskursstaates. Sie geben nicht nur Empfehlungen, sie definieren die semantische Landkarte des Sagbaren.
Es entsteht eine hybride Ordnung: halb zivil, halb staatlich, aber voll durchsetzungsfähig. Der Satz „Es gibt keine Überwachung“ ist dabei nicht nur eine semantische Verkehrung der Realität, sondern Ausdruck eines Selbstverständnisses, das Kontrolle mit Fürsorge verwechselt. Es ist das Comeback des autoritären Humanismus: repressiv aus Verantwortung, paternalistisch aus Prinzip.
Die stille Selbstabschaffung der Öffentlichkeit
Wenn der öffentliche Raum nur noch unter Vorbehalt betreten werden darf, stirbt seine Funktion als Agora – als Ort der Sichtbarkeit, der Reibung, des Konflikts. Stattdessen entsteht eine Display-Öffentlichkeit: glatt, gefiltert, folgen-kompatibel. Die Diskursteilnehmer mutieren zu Avataren moralischer Selbstoptimierung. Was man sagt, ist nicht mehr Ausdruck des Gedachten, sondern Produkt antizipierter Sanktion. Der Preis ist hoch: Eine Gesellschaft, die ihre Öffentlichkeit zähmt, züchtet ihre Zivilgesellschaft zur Stummheit.
Die Maßnahmen sollen schützen – so lautet das Narrativ. Doch Schutz vor was? Vor Worten? Vor Karikaturen? Vor Ambivalenz? Tatsächlich schützt der Staat sich selbst – vor dem Kontrollverlust über den Diskurs. Und genau darin liegt die gefährlichste Selbsttäuschung: Dass Freiheit durch Disziplin gesichert werden könne. Dass Demokratie ohne Risiko funktioniere. Dass eine Gesellschaft sich liberal nennen dürfe, während sie zugleich die Mittel der Repression verfeinert.