Brüssel verschärft das Netzrecht – Der Kodex gegen Desinformation ist jetzt verbindlich

Am 1. Juli 2025 ist in Europa ein Gesetz in Kraft getreten, das sich nicht als Gesetz versteht, sondern als Struktur: Der „Code of Practice on Disinformation“, bislang eine freiwillige, halbvergessene Selbstverpflichtung einiger Tech-Konzerne, wurde in das regulatorische Skelett des Digital Services Act (DSA) zementiert. Damit endet nicht eine Phase – sie beginnt. Denn was in Brüssel als „Transparenzverpflichtung“ gehandelt wird, ist in Wirklichkeit der bürokratische Umbau der Öffentlichkeit – algorithmisch, auditierbar, alternativlos.
Worin genau liegt das Neue? In der Unauffälligkeit des Radikalen. Was hier geschieht, geschieht nicht durch Zensur, sondern durch Compliance. Nicht durch staatliche Willkür, sondern durch industrielle Standardisierung. Und vor allem: nicht auf Antrag, sondern auf Verdacht.
Der Diskurs als Risiko – und der Bürger als auditierbares Objekt
Wer wissen will, worum es beim DSA in der Tiefe geht, muss auf die Sprache achten. Begriffe wie „risk mitigation“, „systemische Gefahren“, „strukturelle Risiken“ und „transparente Rechenschaftspflichten“ sind keine juristischen Kategorien, sondern Steuerungslogiken einer neuen politischen Epoche. Sie definieren Öffentlichkeit nicht mehr als Raum von Argumenten, sondern als potenzielle Gefahrenquelle. In dieser neuen Logik ist nicht mehr der Inhalt entscheidend, sondern seine messbare Wirkung. Das bedeutet: Nicht die Wahrheit zählt, sondern ihre Risikobilanz.
Und so kommt es, dass „Full compliance with the Code“ nun als „key risk-mitigation measure“ gilt – also als regulatorischer Pflichtnachweis. Nicht, weil Plattformen Desinformation direkt verbreiten. Sondern weil sie es versäumen könnten, deren systemische Möglichkeit auszuschließen. Die Angst vor dem Möglichkeitsraum wird zur Legitimation für präventive Moderation. Wer denkt, verliert.
„Nicht auf dem Tisch“ – Brüssels neue Unverhandelbarkeit
Der Zeitpunkt ist kein Zufall. Mitten in heiklen EU-USA-Handelsverhandlungen kündigt Brüssel an: Der DSA sei „nicht verhandelbar“. Damit ist klar: Der europäische Regulierungsapparat sieht sich nicht mehr als Partner, sondern als Souverän im geopolitischen Datenkrieg. Wer sich nicht beugt, zahlt. Wer auditierbar sein will, muss sich an europäische Wahrheitsinfrastruktur anschließen. So verwandelt sich die einstige Idee eines digitalen Binnenmarktes in ein global exportiertes Wahrheitsregime.
Donald Trump, mittlerweile wieder Präsident, attackierte Kanadas Digitalsteuer prompt als „offensichtliche EU-Kopie“. Der Konflikt eskalierte. Handelsgespräche wurden eingefroren – solange, bis Ottawa den Kurs korrigierte. Und Brüssel? Zeigt Härte. Der digitale Konformitätsimperialismus wird zur außenpolitischen Doktrin.
Die Lüge von der Freiwilligkeit
Brüssel betont: Der Code sei weiterhin „freiwillig“. Aber eben nur semantisch. Denn im System des DSA fungiert der Code als faktischer Maßstab für Auditierungen, Bußgeldverfahren, Reputationsrankings. Wer nicht unterschreibt, verliert Compliance. Und wer Compliance verliert, verliert Zugang, Werbeeinnahmen, Kapital. Das ist kein freiwilliges Modell – das ist ein indirekt wirksamer Sanktionsapparat mit regulatorischer Plausibilisierung.
Republikanische US-Abgeordnete haben es auf den Punkt gebracht: Der DSA exportiert faktisch europäische Moderationsregeln in den amerikanischen Diskursraum – weil Plattformen keine regionalen Unterschiede in ihrer Moderation implementieren können oder wollen. Europa schreibt damit Standards, die über seine Grenzen hinaus wirken – nicht durch Gesetze, sondern durch die globale Struktur von Infrastruktur.
Wahrheit als Funktion von Audit und Algorithmus
Der eigentliche Skandal liegt tiefer: Die EU behauptet, sie wolle nicht Inhalte kontrollieren, sondern „systemische Risiken minimieren“. Diese Behauptung ist so perfide wie gefährlich. Denn sie verschiebt das Verhältnis von Politik und Wahrheit. Es geht nicht mehr um was gesagt wird, sondern um welche Wirkung es auf Plattformen entfaltet. Inhalte werden nicht zensiert, sondern strategisch depriorisiert. Sichtbarkeit wird zum Ergebnis regulatorisch normierter Algorithmik.
So verteidigt sich die EU-Kommission in vorauseilendem Tonfall gegen Zensurvorwürfe: „Content moderation is not censorship.“ Doch das ist semantisches Gaslighting. Was ist Zensur anderes als die organisierte Unsichtbarmachung von Unbequemen durch strukturelle Macht?
Die Gesellschaft der auditierbaren Meinungen
Im Zentrum steht der Audit. Plattformen mit über 45 Millionen Nutzern – die sogenannten VLOPs – müssen sich jährlichen externen Prüfungen unterziehen, um nachzuweisen, dass sie Desinformationsrisiken angemessen adressieren. Was angemessen ist, entscheidet Brüssel. Was als Desinformation gilt, definieren Akteure wie EDMO oder die Global Disinformation Index. Und was überprüft wird, entscheidet eine Infrastruktur, die sich als „zivilgesellschaftlich“ tarnt, aber regulatorisch instrumentalisiert wird.
Claire Melford vom GDI warnt selbst: Ohne belastbare Daten und klare Auditkriterien bleiben die Prüfverfahren „nicht glaubwürdig“. Gleichzeitig ist sie es, die den Begriff „Zensur“ als „fundamentales Missverständnis“ zurückweist – und darauf verweist, dass die eigentliche Gefahr in der ökonomischen Unsichtbarkeit „moderater Inhalte“ liege. Der Widerspruch könnte kaum größer sein: Eine Industrie der Wahrheitsverifizierung klagt über Marginalisierung – während sie gleichzeitig die Grundlagen für Löschung, Depriorisierung und Demonetarisierung liefert.
Die Abschaffung der demokratischen Debatte durch strukturelle Plausibilität
Die größte Leistung des DSA besteht nicht in seinem Inhalt, sondern in seiner Form. Es ist kein Zensurgesetz – es ist schlimmer: ein steuerungstheoretisches Design zur Verwaltung diskursiver Risiken. Eine Maschine zur auditierbaren Vorzensur. Eine Architektur der Unsichtbarkeit, die nicht sagt, was man sagen darf – sondern was sichtbar sein darf. Und die, wer sich dem widersetzt, nicht strafrechtlich verfolgt, sondern wirtschaftlich marginalisiert.
Damit vollzieht sich die stille Revolution des digitalen Liberalismus: Die Wahrheit wird nicht mehr gesagt, sie wird verwaltet.