ADHS-Kinder und 24-Stunden-Bewegungsrichtlinien:

Was sagt die aktuelle Forschung?
Mit Zahlenvergleich und Empfehlungen für gezielte Interventionen
Vorweg: Ich bin militanter Bewegungsmuffel. Und viel zu viel am Smartphone oder Rechner. Aber ich kann auch nicht umhin, auf die Rolle von Schlaf, Bewegung und Medien bei Kindern und Jugendlichen zu verweisen. Nicht mit erhobenem Zeigefinger, sondern hinsichtlich der Einflussfaktoren. Ich glaube nicht, dass Medienkonsum ADHS auslöst. Aber das Ausmaß von Beeinträchtigungen und vor allem auch die Regeneration und Verarbeitung von Erlebnissen in der Nacht durch REM-Schlaf spielt eben für mich eine große Rolle bei ADHS. Daher diesen Beitrag.
Einleitung
Kinder mit ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung) stehen im Alltag vor besonderen Herausforderungen. Neben den bekannten Symptomen wie Unaufmerksamkeit, Impulsivität und Hyperaktivität zeigen aktuelle Studien, dass sie auch in den Bereichen Bewegung, Schlaf und Medienkonsum deutliche Unterschiede zu ihren neurotypischen Altersgenossen aufweisen. Ein aktueller Artikel von Parnes et al. (2025) im Journal of Physical Activity and Health liefert hierzu spannende neue Erkenntnisse. In diesem Blogartikel werden die wichtigsten Ergebnisse vorgestellt, die Unterschiede zu neurotypischen Kindern herausgearbeitet und konkrete Empfehlungen für gezielte Interventionen gegeben.
Was sind 24-Stunden-Bewegungsrichtlinien?
Die sogenannten 24-Stunden-Bewegungsrichtlinien empfehlen für Kinder und Jugendliche:

Diese Empfehlungen sind wissenschaftlich fundiert und sollen die körperliche, geistige und soziale Entwicklung von Kindern optimal unterstützen.

Studienergebnisse: Wie schneiden Kinder mit ADHS ab?
Die Studie von Parnes et al. (2025) untersuchte 93 Kinder mit ADHS (Durchschnittsalter 8 Jahre) hinsichtlich ihres Bewegungs-, Schlaf- und Bildschirmverhaltens. Die wichtigsten Ergebnisse im Überblick:
· Nur 41,5 % der Kinder mit ADHS erfüllten die Bewegungsempfehlung.
· Nur 23,4 % hielten die Empfehlung für Bildschirmzeit (<2 Stunden/Tag) ein.
· 45,7 % schafften die Schlafvorgabe (9–11 Stunden/Nacht).
· Je mehr Richtlinien eingehalten wurden, desto weniger Schlafprobleme und problematischen Medienkonsum zeigten die Kinder.
· Die Studie identifizierte zwei Typen von Kindern:
o „Hypoaktive“ Kinder: Erfüllten kaum Bewegungsrichtlinien, hatten mehr Schlafprobleme.
o „Work Hard, Play Hard“-Kinder: Erfüllten eher Bewegungs- und Schlafrichtlinien, hatten weniger Probleme beim Zubettgehen.
Diese Ergebnisse zeigen: Kinder mit ADHS erreichen die Empfehlungen deutlich seltener als neurotypische Kinder und profitieren besonders stark, wenn sie mehrere Richtlinien einhalten.
Zahlenvergleich: ADHS-Kinder vs. neurotypische Kinder

Erläuterungen zu den Unterschieden:
· Bewegung:
ADHS-Kinder sind oft sehr aktiv, aber ihre Bewegungen sind weniger koordiniert und zielgerichtet. Motorische Ungeschicklichkeit und geringere Ausdauer sind häufiger, was sich auch negativ auf das Selbstwertgefühl auswirken kann.
· Schlaf:
Schlafprobleme wie Einschlafstörungen und unruhiger Schlaf treten bei ADHS-Kindern deutlich häufiger auf. Dadurch erreichen weniger Kinder die empfohlene Schlafdauer.
· Bildschirmzeit:
Kinder mit ADHS verbringen im Durchschnitt mehr Zeit vor Bildschirmen und haben größere Schwierigkeiten, die empfohlene Begrenzung einzuhalten.
· Kognition und exekutive Funktionen:
Defizite in Planung, Impulskontrolle und Arbeitsgedächtnis sind bei ADHS-Kindern häufiger und ausgeprägter.
· Soziale Kompetenzen:
Sie geraten schneller in Konflikte, haben öfter Schwierigkeiten, Freundschaften zu schließen oder zu halten, und zeigen häufiger oppositionelles Verhalten.
· Übergewicht:
Das Risiko für Übergewicht und Adipositas ist bei Kindern mit ADHS erhöht, was mit Bewegungsmangel, Schlafproblemen und ungünstigen Essgewohnheiten zusammenhängt.
Gesundheitsauswirkungen und Chancen gezielter Interventionen
Die Studie von Parnes et al. (2025) und weitere Untersuchungen zeigen:
Je mehr der 24-Stunden-Bewegungsrichtlinien eingehalten werden, desto besser sind die gesundheitlichen und psychosozialen Ergebnisse bei Kindern mit ADHS.
· Weniger Schlafprobleme
· Weniger problematischer Medienkonsum
· Bessere kognitive Leistungen
· Verbesserte soziale Beziehungen
· Höhere Lebensqualität und Selbstwertgefühl
Insbesondere gezielte Bewegungsförderung und strukturierte Alltagsroutinen können die Defizite bei ADHS-Kindern deutlich abmildern. Während neurotypische Kinder meist schon von Haus aus näher an den Empfehlungen liegen, profitieren ADHS-Kinder besonders stark von individuellen Interventionen.

Empfehlungen für gezielte Interventionen
Basierend auf den Studienergebnissen und aktuellen Leitlinien ergeben sich folgende Empfehlungen:
1. Bewegungsförderung
· Regelmäßige, strukturierte Bewegung: Teilnahme an Sportvereinen, Bewegungsgruppen oder gezielten Sportangeboten (z. B. Ballspiele, Schwimmen, Tanzen, Yoga).
· Alltagsbewegung fördern: Zu Fuß zur Schule gehen, Radfahren, aktive Pausen im Tagesablauf.
· Bewegung in Routinen einbauen: Feste Bewegungszeiten helfen, Struktur zu geben und die Motivation hochzuhalten.
2. Bildschirmzeit begrenzen
· Klare Medienregeln aufstellen: Feste Zeiten und medienfreie Zonen schaffen, z. B. keine Bildschirme am Esstisch oder im Schlafzimmer.
· Alternative Freizeitangebote: Kreative, soziale oder sportliche Aktivitäten als Ersatz für Medienzeiten anbieten.
3. Schlaf verbessern
· Feste Schlafenszeiten etablieren: Ein regelmäßiger Tagesablauf mit klaren Abendritualen unterstützt den Schlaf-Wach-Rhythmus.
· Schlafhygiene beachten: Bildschirmzeit mindestens eine Stunde vor dem Schlafen beenden, ruhige Atmosphäre schaffen, koffeinhaltige Getränke meiden.
4. Kognitive und soziale Förderung
· Konzentrations- und Aufmerksamkeitstraining: Spielerische Übungen, die exekutive Funktionen stärken (z. B. Memory, Bewegungsspiele mit Regeln, digitale Trainingsprogramme).
· Soziale Kompetenztrainings: Gruppenspiele, Rollenspiele und gezielte Förderung im Umgang mit anderen Kindern.
5. Elternarbeit und Umfeld
· Elternberatung und Psychoedukation: Informationen zu ADHS, Alltagstipps und Unterstützungsmöglichkeiten.
· Zusammenarbeit mit Schule und Betreuung: Gemeinsame Strategien zur Alltagsstrukturierung und Bewegungsförderung entwickeln.
6. Frühzeitige Diagnostik und Therapie
· Frühzeitige und umfassende Diagnostik ermöglicht gezielte Förderung und ggf. medikamentöse Unterstützung, die nachweislich die kognitive Leistungsfähigkeit und Impulskontrolle verbessern kann.

Fazit
Kinder mit ADHS erreichen die Empfehlungen für Bewegung, Schlaf und Bildschirmzeit seltener als ihre neurotypischen Altersgenossen und zeigen häufiger Defizite in Motorik, Kognition und Sozialverhalten. Gerade deshalb profitieren sie besonders stark von gezielten, alltagsnahen Interventionen, die Bewegung, Schlaf und Mediennutzung gleichermaßen adressieren. Für Eltern, Fachkräfte und Schulen bedeutet das: Ein ganzheitlicher, strukturierter Ansatz ist der Schlüssel, um die Lebensqualität und Entwicklung von ADHS-Kindern nachhaltig zu fördern.
Quellen:
· Parnes, M., Gonzalez, E., Tran, N., Stein, M.A., Mendoza, J., & Tandon, P. (2025). Adherence to 24-Hour Movement Guidelines and Behavioral Health in Children With Attention Deficit Hyperactivity Disorder in the United States. Journal of Physical Activity and Health, Ahead of Print, 1–10. https://doi.org/10.1123/jpah.2024-0497 (Opens in a new window)
· Zeitschrift für Sportmedizin
· Kindergesundheit-info.de (Opens in a new window)
· Publikationsserver PHTG
· Kinderaerztliche Praxis
Tipp: Wer ein Kind mit ADHS begleitet, sollte Bewegung, Schlaf und Medienkonsum als gleichwertige Bausteine der Förderung betrachten – und dabei stets auf die individuellen Bedürfnisse und Stärken des Kindes eingehen.
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