Auf den Spuren Hannah Arendts in New York: Omri Boehm
Prolog
Hannah Arendt gelang es 1953, als erste Frau überhaupt eine Vollzeit-Professur in Princeton zu erhalten. Gemeinhin nicht als Feministin rezipiert, bietet vor allem ihr Buch über Rahel Varnhagen auch Ansätze für feministische Fragestellungen. Sie vollendete es in den 30er Jahren in Paris. In "Rahel Varnhagen - Lebensgeschichte einer deutschen Jüdin aus der Romantik" setzte sich Arendt vor allem mit der Frage nach jüdischer Assimilation auseinander wie auch dem Gegensatz zwischen Paria, also den Ausgegrenzten, und Parvenu - der Preisgabe eigener Identität, um sozialen Aufstieg zu erreichen. Diese beiden Möglichkeiten der Situierung jüdischer Lebensgestaltung sah Arendt als die einzig möglichen zu Beginn des 19. Jahrhunderts.
In diesem kurzen Passus vorab tauchen bereits Elemente dessen auf, was ich im letzten Text auf dieser Essay-Seite diskutierte (Opens in a new window) - wie verhält sich die Möglichkeit gesellschaftlicher Emanzipation zu individuellen wie kollektiven Prägungen? Wie nähert man sich dabei einem Konkreten Anderen empathisch an, eben Rahel Varnhagen, und was zieht man daraus für Schlüsse?
Arendt selbst setzte in ihrer Biographie eher notgedrungen auf die Paria-Position - politisiert durch die Machtergreifung der Nationalsozialisten wandte sie sich den Zionisten zu. Weil, so äußert sie sich im berühmten Interview mit Günther Gaus, die Assimilierten, die Parvenus, recht offenkundig gescheitert waren. Ist das "Identitätspolitik"?
Anders als Simone de Beauvoir, die ganz wie Arendt in Phänomenologie und Existenzphilosophie geschult 1949 "Das andere Geschlecht" veröffentlichte, umschiffte Arendt die Geschlechterfrage in ihren nach "Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft" erschienenen Werken. War es dem geschuldet, dass sie als Frau klar in der Rolle des Parvenu in männlich dominierten Umfeldern agieren musste - als Immigrantin zudem?
Ihre Praxis zeigte sich insofern als angewandter Feminismus, als sie sich als außerordentlich durchsetzungsfähig erwies und so so Schneisen im akademischen publizistischen Feld für starke Frauenstimmen schlug. Sie lehrte an verschiedenen Universitäten, bis sie 1967 an der heutigen The New School of Social Research mit zwei Seminaren zur politischen Erfahrung im 20. Jahrhundert wie auch zu Platons Theaetetus reüssierte (Opens in a new window). Sie hatte bereits zuvor dort temporär gelehrt, nun etablierte sie sich in The New School und arbeitete inmitten der von den Studentenprotesten gegen den Vietnamkrieg wie auch der Bürgerrechtsbewegung geprägten politischen Öffentlichkeit.
Das Gebäude, in dem Arendt arbeitete, existiert nicht mehr. Heute befindet sich der Neubau der New School in einem unscheinbaren Gebäude unweit des Union Square - ein belebter Platz im südlichen Teil von Midtown Manhattan. In dem kleinen Park darf heute nicht mehr geraucht werden, zumindest keine Zigaretten - Hannah Arendt hätte das gehasst. Marihuana roch man dort jedoch wie überall in New York in teils hoher Intensität.
Omri Boehm im Widerstreit - und im Interview
In The New School lehrt heute Omri Boehm - ein mittlerweile ebenso prominenter wie umstrittener Philosoph. Jüngst lud man ihn, in Pressemeldungen wurde unter der "Druck Israels" als Grund angegeben, von der Gedenkveranstaltung zum 80. Jahrestag der Befreiung Buchenwalds aus. Ein Konflikt zwischen der israelischen Regierung und der Gedenkstätte rund um die Teilnahme Boehms habe sich abgezeichnet, so deren Leiter - man habe die anwesenden Überlebenden nicht in diese Auseinandersetzung hineinziehen wollen. Die Rede, die Omri Boehm dort halten wollte, druckte stattdessen die SZ ab. Ein Auszug:
„Gelegentlich wird behauptet, dass die Aussage ‚nie wieder' zwei Formulierungen zulässt. Die eine ist einfach nie wieder. Die andere lautet -- angesichts des völkermörderischen Antisemitismus, der in der ‚Endlösung' mündete --, ‚nie wieder für uns'. Danach besteht die künftige Aufgabe darin, dafür zu sorgen, dass den Juden nie wieder die Vernichtung droht. Es ist an der Zeit, diese Unterscheidung aufzugeben. ‚Nie wieder' ist nur in seiner universellen Form gültig, und dann kann es seiner besonderen Formulierung gerecht werden."
Süddeutsche Zeitung, 7.4. 2025
Es folgten Vorwürfe unter anderem des israelischen Botschafters Ron Prosor, das Leid der Überlebenden des Holocaust werde so relativiert sowie, sinngemäß, Juden aus dem Gedenken redigiert. Auch bei einer Veranstaltung im Rahmen der Wiener Festwochen reagierte die israelitische Kultusgemeinde mit Attacken auf Boehm - er dämonisiere Israel und beleidige das Holocaust-Gedenken (Opens in a new window).
Omri Boehm selbst wuchs als Jude in Israel auf und leistete dort auch seinen Wehrdienst. Er schreibt und spricht wortgewaltig als Vertreter eines "Radikalen Universalismus" - so auch der Titel seines letzten Buches.
Inhaltlich knüpft es an jene Fragen an, die ich im letzten Teil dieser Text-Reihe teils diskutierte (Opens in a new window), teils auch in diesem Teil aufgreifen will. Konret die Frage: wie ist eine universalitische Moral zu begründen oder aber herzuleiten, und welche Rolle sie in der Diskussion auch aktueller Konflikte?
In Auseinandersetzung mit dem deutschen Journalisten Stephan Grigat, der einen zionistischen Kategorischen Imperativ formulierte - dieser priorisiert die Selbstverteidigung Israels gegenüber allgemeinen Menschenrechten und Völkerrecht - antwortet er: "Was sich als unbedingte Solidarität mit den Juden ausgibt, ist in Wirklichkeit Verrat an ihnen - weil es sie von der Teilhabe an der Menschlichkeit ausschließt." (Omri Boehm, Israel - eine Utopie, S. 20).
Ein Arendtscher Gedanke ist das insofern, als diese den Rauswurf von Juden aus "die Menschheit" als einen der zentralen Gründe für den Holocaust selbst betrachtete. Formaler formuliert, über Arendt hinaus gehend: Wer allgemeine Menschenrechte nicht als Maßstab akzeptiert, der kann auch nicht begründen, wieso diese im Falle von Juden gelten sollten.
Für die Hannah Arendt-Dokumentation fragten wir ihn vor allem aus einem Grund für ein Interview an: In jüngeren Publikationen wie z.B. "Israel - eine Utopie" plädiert er für eine Einstaatenlösung im Falle Israels - als einer arabisch-jüdischen Konföderation.
Eben diese Idee formulierte Hannah Arendt auch in Texten aus den 40er Jahren, die jüngst von Thomas Meyer im Band "Über Palästina" veröffentlicht wurden. Wie ich aus Omri Boehms Publikationen erfuhr, war dieser Ansatz Mitte der 30er Jahre auch David Ben-Gurion nicht fremd, immerhin der erste Ministerpräsidenten Israels nach dessen Gründung und einer der führenden Köpfe der zionistischen Bewegung. Hannah Arendt engagierte sich selbst in zionistischen Organisationen und rettete so z.B. im Rahmen der Jugend-Alija aus Deutschland und Tschechien geflüchtete jüdische Jugendliche nach Palästina. Doch wie zu jener Zeit nicht ungewöhnlich, war ihr Ziel keineswegs die Staatsgründung eines exklusiv jüdischen Staates, sondern eine Kooperation und Koexistenz mit Arabern auf dem Territorium des damaligen britischen Protektorats - nachdem der europäische Antisemitismus Juden dorthin vertrieb. Arendt selbst dachte diese Vision des Zusammenlebens im Rahmen eines Mittelmeer-Bündnisses, das zudem aufpassen müsse, nicht in die Jagd nach dem Rohstoff Öl hineingezogen zu werden.
Die Idee, die Variante Konföderation aktuell erneut aufzugreifen und in einer "Republik Haifa" zu realisieren, verdankt sich bei Omri Boehm u.a. zwei Überlegungen - zum einen ließe sich in diesem Rahmen die territoriale Frage dahingehend auflösen, dass die zum Zeitpunkt des Verfassens seines Buches existente Siedlungsstruktur der jeweiligen Bevölkerungsteile in Israel zunächst bestehen bleiben könne. Zum anderen wäre es möglich, allen Menschen die gleichen Rechte als Realisierung einer universalistischen Position zu gewähren - also auch den Arabern in der Westbank, z.B.
Die Vernichtungspolitik Netanjahus dürfte über solche Ansätze in Gaza mittlerweile brutal hinweg gerollt sein - und doch bot allein die hypothetische Diskussion solcher Ansätze zum Zeitpunkt der Veröffentlichung von "Israel - eine Utopie" eine Sicht auf die Historie, die prozionistisch argumentiert und doch das historische Leid der Palästinenser nicht beiseite wischt. Zugleich neigt sie jedoch dazu, Bewegungen wie die Intifada oder Akteure wie die Hamas zu ignorieren.
Diese explizite Berufung auf Arendt bot jedoch hinreichenden Grund, Omri Boehm zu ihren Positionen rund um den Zionismus zu befragen. Er empfing uns am Einlass der recht schmucklosen The New School und wir bewegten uns in angeregtem Smalltalk durch Flure, IT- und Bibliotheksbereiche, bei denen, würden wir hier unser Equipment aufbauen, wahlweise die Gefahr bestand, die aufgrund von "Semesterferien" spärlich nur anzutreffenden Student*innen zu stören oder aber durch die Geräusche dröhnender Klimaanlagen selbst gestört zu werden. Schließlich fanden wir einen Seminarraum mit Blick auf die typische Manhattan-Kulisse. Ich bin sehr dankbar, diese Erfahrung des Gesprächs mit einem ebenso charismatischen, eloquenten wie brillanten Geist gemacht haben zu dürfen. Boehm spricht in ausgefeilter Rhetorik und großem Bogen, ohne sich im Stoff zu verlieren; er weiß, wie man mit funkelnden Augen die zentrale Aussage herausarbeitet und pointiert.
Seine Sicht auf Arendt wird in der Dokumentation in Auszügen zu hören sein. Ich bin weiterhin tief beeindruckt und freue mich sehr darauf, sie für “Hannah Arendt - eine Jüdin im Pariser Exil” aufgreifen und verdichten zu können.
Anknüpfend an den letzten Text zum moralischen Universalismus und dessen Diskussion in Gegenwart und Vergangenheit (Opens in a new window) seien hier andere Aspekte im Denken dieses überzeugten Kantianers skizziert; somit vor allem auf "Radikaler Universalismus".
Radikaler Universalismus
Im letzten Teil dieser Textreihe habe ich auf die Diskussion in den späten 80er und frühen 90er Jahren verwiesen - die vier Fronten, an denen sie sich in Deutschland aufrieb: die Verteidigung des Universalismus gegen die "Postmodernen", der Neoaristotelismus als Verteidiger der Tradition, der Konvention wie auch der Gepflogenheiten, das allseitige Einprügeln auf Jürgen Habermas und dessen Kognitivismus und hier insbesondere die feministische Kritik, auf die Seyla Benhabib ihrerseits reagierte.
Diese Frontstellungen tauchen in Boehms "Radikaler Universalismus" wieder auf - bis auf die feministische Kritiklinie. Die "Postmodernen" erscheinen immer mal als Buhmänner und werden eher am Rande abgewatscht und etwas modisch mit Postkolonialismus, "Identitätspolitik" und "Critical Race Theory" vermengt. Eine Bezeichnung für ein in sich heterogenes Feld verschiedener rassismuskritischer Ansätze, die sich selbst als "Critical Race Theory" gar nicht labeln würden und die oft gar nicht viel miteinander zu tun haben. Hier und da wirkt es, als habe er sich von Susan Neiman im nicht positiven Sinne beeinflussen lassen (Opens in a new window) - sie taucht in den Danksagungen auf.
Interessanter und nachhaltig inspirierend ist Boehms Auseinandersetzung mit den US-Pragmatisten und -Liberalen, so z.B. Richard Rorty (Opens in a new window), John Dewey (Opens in a new window) und John Rawls (Opens in a new window), dem wirkungsmächtigen Verfasser einer "Theorie der Gerechtigkeit". Auch deshalb, weil die Argumente, die Boehm überzeugend gegen diese Denker anführt, analog zu jenen aufgebaut sind, die aus dem Habermas-Umfeld in Deutschland gegen die Neokonservativen unter den Neoaristotelikern angeführt wurden. Man kann die Kritik Boehms an den Ansätzen der US-Liberalen mit Hilfe einer Unterscheidung klar machen, die Jürgen Habermas in "Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus" traf: der Legitimation durch Verfahren und jener von Verfahren.
Abstimmungen in demokratischen Verfahren können zu einer "Tyrannei der Mehrheit" führen - so vielfach geschehen in der Realgeschichte der USA, u.a., als selbst nach dem Ende der Sklaverei noch die Segregation zwischen Weißen und Schwarzen demokratisch abgesichert aufrechterhalten wurde. Bei Rorty, Dewey und Rawls findet Boehm viele Passagen der Rechtfertigung solcher Rechtsentwicklungen aus der Annahme der Notwendigkeit eines demokratischen Konsenses heraus, der ein wenig oder auch mehr Entrechtung von Minderheiten durchaus gutheiße und zudem jene attackiere, die dagegen protestierten - würden sie doch die Ordnung gefährden und auch für Minderheiten alles nur noch schlimmer machen.
Fundiert man diese Verfahren jedoch selbst in abstrakten Prinzipien wie z.B. den Grundrechten in der deutschen Verfassung, dann dürfen Regelungen, die in konkreten Gesetzgebungsverfahren verabschiedet werden, gegen diese Grundrechte prinzipiell nicht verstoßen - denn sie sind es, die diese Verfahren überhaupt erst rechtfertigen. In der Praxis passiert es zwar ständig, dass gegen Grundrechte verstoßen wird, aber da sei dann das Verfassungsgericht vor. Solche Prinzipien wie im Grundgesetz findet Boehm in der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung:
„We hold these truths to be self-evident: that all men are created equal, that they are endowed by their Creator with certain inalienable Rights; that among them there are Life, Liberty and the pursuit of Happiness" (Declaration 1776)
Selbstevidenz hieß in der deutschen Diskussion zu Zeiten meines Studiums "Letztbegründung". Habermas verzichtete darauf, Karl-Otto Apel hielt in seiner Version der Diskursethik daran fest. Boehm will solche Ansätze als absolut geltende metaphysische Prinzipien re-installieren, rückt dabei ganz und gar rassismuskritisch die Diskussion rund um die Sklaverei und Segregation in den Mittelpunkt seiner Diskussion von Gegenpositionen. Er findet die Fundierung des “Radikalen Universalismus” bereits in Passagen dessen, was im Christentum als Teil des "Alten Testaments" bezeichnet wird, im Judentum als Tora - die fünf Bücher Moses. Insbesondere in der, na, Geschichte? von der Bindung Isaaks und dem Verzicht Abrahams darauf, seinen ältesten Sohn zu opfern, zeigt er ein absolutes Gesetz der Gerechtigkeit auf, das noch dem Willen Gottes übergeordnet sei.
Das Schlusskapitel in “Radikaler Universalismus” widmet sich dabei einer Auslegung des hebräischen Originals, einer Interpretation, die implizit auch antijudaistische Stereotype aushebelt. Die Passage mit dem Engel sei offenkundig erst später eingefügt worden, so Boehm. Er verweist zudem auf die "verschiedenen Namen Gottes", insbesondere Elohim und JHWH, im Originaltext. Jener Gott, der Abraham zunächst die Opferung seines Sohnes befahl, sei Elohim gewesen - Boehm zufolge zugleich oft eine Chiffre für weltliche Herrscher. Auf die Ermordung seines Sohnes zu verzichten hingegen folge dem Aufruf zur Gerechtigkeit Jahwes. Da hat der Gott des Neuen Testaments anders entschieden …
Mit antijudaistischen Stereotypen räumt diese Lektüre insofern auf, als im Christentum häufig suggeriert wurde, der jüdische Gott sei ein grausamer, rachsüchtiger des Gesetzes gewesen und durch Jesus dann ein Gott der Liebe und Barmherzigkeit in die Welt gekommen.
Nein, so Boehm, die Botschaft der Tora sei vielmehr eine Form der Aufklärung, eine Schulung in Gerechtigkeit gewesen. Es sei gerade die Weigerung, sich der weltlichen Macht Elohims zu unterwerfen zugunsten einer göttlichen, übergeordneten Gerechtigkeit, jener Jahwes, die ein solches Opfer des eigenen Sohnes verdamme. Das sei als Lehre aus dieser Geschichte zu begreifen.
Dieses Gerechtigkeitsprinzip sieht Boehm Jahrhunderte später nicht nur in der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung reformuliert, sondern auch in der im letzten Teil dieser Textreihe ausgiebig kommentierten Zweckformel von Kants Kategorischem Imperativ: behandele niemanden nur als Mittel, sondern jeden als Zweck an sich selbst. Deshalb opfere man auch nicht seine Söhne.
Sklaverei sei damit a priori ebenso ausgeschlossen. Für Boehm ist mit Kant Kern des Menschlichen die Möglichkeit, sich in Freiheit auf moralische Gesetze zu verpflichten und diesen handelnd zu folgen. Er fordert in diesem Sinne einen Vorrang der Philosophie vor der Demokratie: Statt in einem pragmatischen, politischen Gemauschel konsensorientiert Postulate wie jenes in der Unabhängigkeitserklärung zu ignorieren, biete gerade die abrahamitisch-kantische Position vor allem auch ein Kriterium für Kritik und Intervention angesichts falscher Konventionen und Gesetze. Bei Karl-Otto Apel hieß so eine kantische Prinzipienmoral explizit auch "postkonventionell" - sie dient dazu, mit nicht begründungsfähigen Traditionen aufzuräumen.
Als Beispiel führt Omri Boehm John Brown an, einen weißen Abolitionisten, der zusammen mit 19 Mitstreitern 1859 das Waffenarsenal des US-Heeres in Harper's Ferry, Virginia, überfiel. Die Gruppe plante, die Musketen und Gewehre an Sklaven in den Südstaaten zu übergeben, um so einen bewaffneten Aufstand zu initiieren. Der Plan scheiterte, Brown wurde hingerichtet - Boehm folgend nahm er jedoch im Gegensatz zu seinen Zeitgenossen die Postulate metaphysisch evidenter Moralität im Sinne eines radikalen Universalismus ernst und sah sich diesem, nicht dem nur den Herrschenden dienenden Recht verpflichtet.
Lücken im Konzept des "Radikalen Universalismus"
In manchen Passagen folgt Boehm uneingestanden Kritikmustern, wie sie auch die von ihm gegeißelten "Postmodernen", Foucault, Derrida und Lyotard, formulierten: So schön und idealisiert sich die in Menschenrechten gründende Rechtsentwicklung in westlichen Verfassungsstaaten selbst feierte, de facto sei sie fortwährend unterlaufen worden - einer Kritik, der sich durchaus auch Habermas anschloss. Sie würden nur strategisch proklamiert, um in ihrem Namen gegenteilig zu handeln und Andere hinterrücks zu unterwerfen und zu disziplinieren. Sie seien allenfalls für Sonntagsreden gut. Anderen Völkern und Kulturen würde Rückständigkeit oder gar "biologisch" bedingte Untauglichkeit unterstellt, solche Regeln zu verstehen oder ihnen zu folgen, somit müssten sie unterworfen und zivilisiert werden in selbst barbarischen Praxen.
Die Conclusio Foucaults oder Derridas aus diesem Dilemma war, dass eine Moral, die für alle gelte, furchtbar sei, dass sie durch die Unterwerfung unter ein falsches Allgemeines alles Besondere tilge und gleichschalte - sehr frei reformuliert.
Boehm verbindet stattdessen den im letzten Teil dieser kleinen Textreihe diskutierten Imperativ Hannah Arendts, niemand habe das Recht, zu gehorchen, ähnlichen Intuitionen folgend und doch im Gegensatz dazu mit seiner und Kants Konzeption von Mündigkeit: man müsse selbst denken, anstatt Autoritäten zu folgen. Das ist sehr sympathisch, darauf berufen sich allerdings auch Querdenker und Autoren wie Ulf Poschardt, freilich oft im Zuge einer Kritik der "Moralisierung", der sie dann die Durchsetzung von nutzenorientierten Eigeninteressen entgegen setzen. Boehm proklamiert das Gegenteil - Mündogkeit folge der Selbstverpflichtung auf eine Moral, die niemanden instrumentalisiere.
Der feministischen Kritik Benhabibs und Carol Gilligans an abstrakter Prinzipienmoral entgeht er damit jedoch gerade nicht - und die existentielle, leibliche Situierung von konkreten Personen in der Welt, die Hannah Arendt in Anschlag brachte, um die Praxen der Entmenschlichung durch totalitäre Systeme überhaupt in ihrer unfassbaren Grausamkeit rekonstruieren zu können, kann so ein metaphysisches Prinzip nicht fassen.
Sklaverei ist schlimm, weil Individuen physisch und psychisch leiden und ihrer Freiheit beraubt, in Ketten gelegt, weil sie mit Peitschen traktiert und im Falle der Flucht ihnen Gliedmaßen amputiert werden. Klar, das verstößt auch gegen die in der Unabhängigkeitserklärung postulierten, unveräußerlichen Rechte und instrumentalisiert sie - aber was daran für leidensfähige Menschen so schlimm bis unerträglich ist, das kann ein abstraktes Gerechtigkeitsprinzip nicht fassen. Wenn Menschen wie im KZ zu Nummern degradiert werden, dann ist das auch deshalb schlimm, weil das, was sie menschlich macht, ihre höchstpersönliche Erfahrung ist, ihre je eigene Geschichte - auch jüdische Historie -, ihre individuellen Talente, ihre Liebesfähigkeit, ihre kreativen und kommunikativen Potenziale vernichtet werden, auch die zu gemeinschaftlichem Handeln. Somit all das, was Hannah Arendt in ihrem Werk "Vita Activa" entfaltet als ein Spektrum menschlicher Fähigkeiten.
Kurz: Wenn das abstrakte Prinzip und eine Proklamation von "Menschheit" nicht den - mit Seyla Benhabib - Konkreten Anderen mitberücksichtigt als zumindest insofern Ziel, dass jeder seine Individualität frei entfalten können möge, dann fehlt etwas.
Die Unabhängigkeitserklärung greift das in der Formel vom "Pursuit of Happiness" auf. Da, wo so genannte "Identitätspolitik" ins Spiel kommt, wischt die Formelhaftigkeit solcher Moral jedoch häufig mal eben so die Prägung z.B. durch Diskriminierungserfahrungen vom Tisch - Hannah Arendt zeigt deren Wirkung jedoch z.B. im "Rahel Varnhagen"-Buch auf, jedoch ebenso in den Passagen zu Marcel Proust, jüdisch und schwul, in "Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft". Sie rekonstruiert, was es mit Menschen macht, wenn sie Ausgrenzung und Instrumentalisierung erfahren. Man kann das modisch unter "Selbstviktimisierung" verbuchen, aber ist das dann nicht selbst eine Instrumentalisierung, um abstrakte Prinzipien besser begründen zu können?
In Interviews geht Boehm auf solche Einwände ein:
„Ethnische, religiöse, sexuelle Identitäten sind sehr wichtig, sie müssen ihren Raum haben und verteidigt werden. Deswegen kann Identitätspolitik richtig sein, wenn sie Grundrechte für diskriminierte Gruppen fordert. Leitet man aber Politik aus Identitäten ab, führt das, um das Modewort zu benutzen, zu gegenseitigem Canceln. Am Ende geht es nur noch darum, welche Identität mehr Macht hat."
(Wenn der Mensch nicht selbst denkt, ist es immer seine Schuld, DER SPIEGEL 44/2022)
Hier offenbart sich eine für liberale Ansätze jedoch häufig schwer zu begreifende Problematik: Es ist ja klar, wer mehr Macht hat. Es sind immer die Mehrheitsgesellschaftler und es sind immer die, die in den Institutionen - Gerichten, Universitäten, Verwaltungen, Medien, Parlamenten, der Polizei usw. - dominieren wie auch ökonomisch in Unternehmen. Das ist eine empirische Frage.
Boehm weiß das ja auch. So zitiert er Martin Luther King:
»Wir haben länger als 340 Jahre auf unsere verfassungsmäßigen und von Gott gegebenen Rechte gewartet«, schreibt er. »Sicherlich ist es für die, die den quälenden Stachel der Rassentrennung nie gespürt haben, leicht, ›warte‹ zu sagen.« All jene aber, die mit angesehen hätten, wie »der brutale Mob« ihre »Väter und Mütter« lyncht oder wie »haßerfüllte Polizisten« ihre »schwarzen Brüder und Schwestern beschimpfen, mit Füßen treten, mißhandeln und sogar töten«, würden verstehen, warum es schwerfällt, weiter zu warten. »Es kommt eine Zeit, wo das Maß des Erträglichen überläuft und der Mensch nicht länger gewillt ist, sich in Abgründe der Ungerechtigkeit stoßen zu lassen [...].«
Boehm, Omri, Radikaler Universalismus: Jenseits von Identität, S. 64
Das konkrete Individuum ist situiert in solchen kollektivierenden Zusammenhängen und wird von der Dominanzkultur als deviant identifiziert, traktiert und subsummiert - ob es das will oder nicht. Die Mehrheitsgesellschaft stellt solche Abweichungen von sich selbst fortwährend her.
Und ja, es ist richtig, sich in der Kritik dessen auf abstrakte Prinzipien wie jene Kants zu berufen - freilich, ohne nun Menschen ihre Lebensgeschichte und Erfahrungen zu rauben, indem darauf verwiesen wird, dass diese angesichts eines abstrakten Begriffs von Menschheit politisch keine Rolle zu spielen hätten.
Ich sympathisiere sehr mit Boehms "Radikalem Universalismus", insofern er abrahamitisch-kantische Prinzipien als Kriterium der Kritik von Konventionen und auch falschen Gesetzen in Anschlag bringt und diese wuchtig und kämpferisch verteidigt.
Dennoch zeigte Seyla Benhabib bereits in "Kritik, Norm, Utopie" auf, dass eine am konkreten Anderen orientierte, von Fürsorgeethiken lernende Konzeption auch empathisch auf die negativen Effekte von ganz alltäglichen Praxen der Macht reagieren kann und, ergänzt man es mit Arendts Analysen des Situiertseins In-der-Welt, die Gültigkeit dieser Prinzipien erst mit Leben füllt.
So entsteht jene Struktur, dass formale Gleichheit die Möglichkeitsbedingung materialer Differenz sei. Ich halte das auch nach über 30 Jahren, da ich einer Hausarbeit einen solchen Titel gab, für richtig.
In "Israel - eine Utopie" wendet Boehm diese Struktur ja auch auf ein ganzes Staatsgebiet an - einer Region, in der ein kämpferischer Verweis auf Radikalen Universalismus aktuell dringend geboten erscheint.