#8: In Schubladen denken, stecken, lieben
“Was sind wir eigentlich?” “Du bist doch gar nicht queer!” “Ich will mich nicht festlegen.” Sind alles Sätze, die etwas mit Kategorien zu tun haben. Wenn es um unsere eigene oder die Identität der anderen geht, sind wir schnell versucht “das Kind beim Namen zu nennen”, um sogenannte “Fakten zu schaffen”.
Wir möchten wissen, wer oder was jemand ist und in welcher Beziehung wir zueinander stehen. Wir sehnen uns nach Möglichkeiten zur Orientierung - und dafür nutzen wir Labels.
Dabei sind besonders Liebes-Labels umstritten. Beim Dating sollen sie uns Sicherheit geben, dafür sorgen, dass wir erstens wissen, mit wem wir es zu tun haben (schwul, polyamor, hetero, trans) und zweitens bestimmen, was wir von unserem Gegenüber erwarten können (Freundschaft plus, Ehe, girlfriend/boyfriend).
Im politischen Kampf für die Akzeptanz und Gleichstellung aller Menschen, die nicht heteronormativ lieben, sorgen Labels für Sichtbarkeit alternativer Identitäten und Lebesentwürfe. Aber Kategorie-Bezeichnungen haben einen entscheidenden Nachteil: sie sind Schubladen. Und weil sie unser Wesen einordnen sollen, heißt das auch, einmal drin, kommst du da so schnell nicht mehr raus. Denn wer kann schon einfach mal so ändern, wer er*sie ist?
Um die fehlende Flexibilität von Labels ging es diese Woche auch bei einem Panel Talk im Berliner Fotografiska Museum, zu dem die Dating-App Hinge anlässlich ihres jährlichen LGBTQIA+ Dating Reports geladen hatte. Diskutiert wurde u. a. die “Label Fatigue” (übersetzt mit “Frustration”, wobei ich den Vorschlag “Müdigkeit” etwas passender finde), von der 31% der 14.000 befragten Hinge-Nutzenden berichteten. Unter den queeren App-Nutzer*innen sagten sogar knapp die Hälfte (48%), sie erlebten es als negativ “durch eindeutige Begriffe wie etwa lesbisch, schwul oder nicht-binär in eine feste “Schublade” gesteckt zu werden” (Quelle: Hinge D.A.T.E. Report 2025).
Labels sorgten dafür, dass man die Freiheit verliere, das eigene Begehren als vielschichtig anzuerkennen, hieß es während der Diskussion zwischen den beiden Panel-Gästen Jamie Williams (er/ihm), transidenter Influencer, und Aljosha Muttardi (er/ihm), queerer Aktivist, moderiert von Ricarda Hofmann (sie/ihr), die den queeren Podcast “Busenfreundin” (Opens in a new window) hostet.
Besonders ein öffentliches Outing als schwuler Mann könne dafür sorgen, dass man sich selbst in seiner Lust beschneide auch mit Menschen anderen Geschlechts etwas anzufangen. Die Einschränkungen durch Kategorien würden im eigenen Kopf beginnen und durch die Außenwelt fortgesetzt, die sofort ein anderes Label verlange oder die behauptete Identität in Frage stellte, sobald ein nicht Label konformes Verlangen verspürt und ausgelebt wird.
Wer kennt das besser als bisexuelle Menschen, die traditionell wahlweise zu hören bekommen, sie befänden sich nur in einer Phase, wenn sie gerade homosexuell daten, oder sie seien eigentlich verkappt schwul/lesbisch und würden sich das nicht eingestehen, wenn sie gerade hetersexuell verpartnert sind.
Ja, Kategorien sind für die Außenwahrnehmung gedacht. Gerade im nicht-monogamen Dating habe ich sie schon sowohl als einschränkend, aber auch als extrem hilfreich dabei erlebt, zu kommunizieren, wie viel Verbindlichkeit man von mir als Date-Partnerin erwarten kann. Dass eine Beziehungs-Bezeichnung, die nur die Grenzen des Erlaubten festlegt, einfacher anzupassen ist, als ein Label, das deine Identität bestimmt, sehe ich allerdings auch ein.
Genauso verstehe ich den Trotz, der aufkommt, wenn Menschen das Gefühl bekommen, andere würden ihnen vorschreiben wollen, wen sie hot zu finden haben, nur weil sie sich einmal als homosexuell eingeordnet haben. Aber kommt der berichtete Frust über Labels wirklich nur von der Festlegung, die dadurch geschieht?
Klar, wer in Großstädten heterosexuell datet, kann sich gerade bei der Frage “Was sind wir eigentlich?” richtig gut vorstellen, zu wie viel Frustration die (mangelnde) Festlegungs-Freude führen kann. Gefühlt haben verbindlichkeits-phobische Heteros schließlich die Label-Müdigkeit erfunden. Nichts scheint weniger erstrebenswert als einen Beziehungsstatus zu erhalten, der aussagt: hier muss ich mich verantwortlich zeichnen.
Was ich mir allerdings auch vorstellen kann, ist, dass die Leute Labels der sexuellen Orientierung oder geschlechtlichen Identität nicht nur frustrierend finden, weil sie sie einengen und wir sie durch eine weitgehende gesellschaftliche Akzeptanz überflüssig gemacht haben. Sondern auch, weil sie müde geworden sind, die Vielfalt zu beachten und mitzudenken.
Im Sommer 2025 ist es in Deutschland, Europa und der Welt so en vogue wie schon lange nicht mehr, Regenbogen-Flaggen zu verbieten, zu zerreißen oder anzuzünden. Pride-Paraden sollen verhindert oder angegriffen und Teilnehmende eingeschüchtert werden. Die Hasskriminalität gegen queere Menschen nimmt zu. (Opens in a new window)
Wir sind einerseits in Teilen der Gesellschaft an einem Punkt angekommen, wo manche sagen “Ach, so ein Label wie “schwul” brauche ich nicht mehr, ich kann einfach lieben, wen ich will, kümmert keinen.” Und das ist ein wunderbarer Fortschritt, eine Errungenschaft, die wir feiern sollten.
Gleichzeitig gehört es in anderen Teilen der Gesellschaft wieder oder immer noch zum guten Ton “schwul” als Schimpfwort zu verwenden und Hass zu schüren, der sich auch in einem passiv-agressiven “Scheiß auf die ganzen woken Labels und Pronomen” Bahn bricht.
Ich weiß, es ist so abgedroschen wie nur was, aber Sprache schafft Wirklichkeit. Dass wir diese ganzen Begriffe haben, die andere Schubladen als die heterosexuelle zieren, dass die meisten Menschen sie kennen und mindestens ungefähr wissen, was sie davon zu erwarten haben, ist auch eine Errungenschaft und eine Wirklichkeit, die wir verteidigen müssen.
Ich bin der Meinung, wir müssen diese Worte verwenden, auch wenn wir ihrer manchmal überdrüssig werden. Damit sie ein so fest verankerter Teil unseres Wortschatzes sind, dass es absurd erscheint, sie unserer Sprache und unserer Wirklichkeit wieder zu entreißen.
Wir müssen verstehen, dass man Tabus auch wiederbeleben kann, dass man Sagbares auch wieder zu Unsagbarem erklären kann. Aber man kann dem auch etwas entgegensetzen. Und zwar sprachliche Sichtbarkeit durch eine selbstverständliche Verwendung queerer Labels.
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Was dir nie jemand sagt…
über Sex ab 50
In dieser Reihe stelle ich Menschen, die 50 Jahre oder älter sind, fünf Fragen dazu, wie sich ihr Sexleben entwickelt hat. Im dritten Interview lest ihr von Lilly, 60, (Name geändert). Wenn du auch einmal dabei sein möchtest oder jemanden kennst, der*die interessiert ist, melde dich gerne bei mir!
Welche Stichworte beschreiben Sex ab 50 für dich am besten?
Lilly: “Menopasusensex - bin ich schon zu alt, um noch richtige Leidenschaft zu erleben?
Bin ich mit 50 noch sichtbar?
Umdenken, wie Sex schön sein kann, weil plötzlich, wie von einem Tag auf den anderen, alles an meinem Körper brüchig und trocken geworden ist, die Gelenke, die Haare, aber vor allen Dingen die Scheide. So unglaublich trocken, daß an Penetration nicht mehr zu denken ist.
Ich denke an das Video “Slow Sex”, das ich mir zwar gekauft , aber immer noch nicht angeschaut habe.
Von meiner Freundin höre ich, dass wir reifen Frauen einfach mehr Vorspiel brauchen, um feucht zu werden, aber darauf hab ich irgendwie keine Lust, keine Muße vielleicht? Ich will unkompliziert bleiben.
Ich habe mich mit 50 gefragt, ob ich mein Trauma noch mal angehen soll. Denn ich wurde als Kind überfallen, von einem nackten Teenager. Was dann passiert ist, weiß ich nicht, aber ich reagiere somatisch, wenn ich von sexuellen Übergriffen höre. Ich ging also zu einer Therapeutin und erzählte ihr das, und sie sagte: “Egal was oder ob etwas passiert ist, Sie haben jetzt die Wahl durch diese Tür zu gehen, und alles hinter sich zu lassen.” Das klang für mich gut, denn irgendwie hatte ich die große Sehnsucht unkompliziert und normal zu sein - aber meine Sexualität ist und bleibt schwierig. Ich habe aber einen tollen Partner, dem das völlig egal ist, und der klasse auf meine Bedürfnisse eingeht.”
Was fühlt sich bei Sex ab 50 anders an als mit 30?
Lilly: “Nichts. Und doch kann ich zumindest in puncto Autoerotik (gibt es das Wort überhaupt? Selbstbefriedigung finde ich nicht so ein schönes Wort, und ist das im eigentlichen Sinne Sex? Ich finde JAAAAAA!!!!), also wenn ich mit mir alleine Sex habe, bin ich in Bildern klarer geworden.
Ich lasse ungewöhnliche Bilder zu, die kommen einfach, und ich zensiere nicht. Ich hab das Gefühl, ich könnte im Alter noch ein neues Tor aufstoßen, vielleicht sogar irgendwann mit meinem Partner, aber vor allem für mich.”
Worauf willst du heute beim Sex nicht mehr verzichten?
Lilly: “Was ich brauchte, habe ich immer eingefordert! Früher und heute.”
Ist dir Sex heute wichtiger oder unwichtiger als mit 30?
Lilly: “Sex stand bei mir nie an erster Stelle. Aber mit dem Älterwerden habe ich gemerkt, dass ich keine sexlose Person werden möchte. Dabei spielt Häufigkeit keine so große Rolle, aber jeder sexuelle Akt bestärkt mich in meinem sinnlichen Dasein, in meiner Vollständigkeit als Mensch. Das hab ich früher nicht gedacht.”
Was hat dir nie jemand über Sex ab 50 gesagt?
Lilly: “Die Libido nimmt wirklich ab. Den Nutzen davon verstehe ich nicht. Oder ist das nur wieder so ein gesellschaftliches Bild, dem wir verfallen, und wonach wir uns richten? Sex ab 50 ist doch eigentlich klasse, weil ich nicht ungewollt schwanger werden kann.”
Ich danke dir herzlich, liebe Lilly, dass du uns solche verletzlichen und authentischen Einsichten in die Reflektion über dein Sexleben gewährt hast! Ein tolles Beispiel dafür, dass wir weitersuchen dürfen und es kein festes Alter gibt, in dem wir festgezurrt haben müssen, wie unser Sex auszusehen hat.
Der Pride Month Juni ist fast vorbei, aber um Gleichstellung der Geschlechter und sexuellen Orientierungen darf es immer gehen!
Deswegen empfehle ich heute (total uneingennützig) die letzten 4 (und die nächste Woche kommende - Spoiler hehe) Folgen der Eine Stunde Liebe zu Queerness erklärt und zu unterschiedlichen Perspektiven auf Bisexualität bei Männern (Opens in a new window).
Außerdem habe ich diese Woche das erste Mal einen Fuß in den WDR gesetzt! Diese Weltpremiere, haha, meines Gesprächs mit Elif Şenel darüber, wieso Gleichstellung nicht an der Bettkante stoppen sollte, könnt ihr in der Audiothek oder auf Spotify im Podcast “WDR5 Neugier genügt - Redezeit” nachhören! Viel Spaß!
Gleichberechtigung beim Sex - Cleo Libro (Opens in a new window)
Einen Überblick über Veranstaltungen mit mir (Opens in a new window) erhälst du auf meiner Webseite!
Am 11. Juli werde ich zum ersten Mal eine Lesung moderieren! Und zwar liest die umwerfende Lisa Opel bei La Blutique, DEM Periodenladen in Berlin Fhain, zwei ihrer scharfen Kurzgeschichten vor. Es wird, man kann es erahnen, um hotte und non-chalante Darstellungen von Menstruationssex und anderen sexy Tabus gehen. Im Anschluss gibt’s dann noch ein Q&A mit Lisa und mir über Feuchtigkeit, Fantasien und die Kunst entspannt über Sex zu reden.
Tickets gibts unter diesem Link (Opens in a new window), beim Periodenladen. Lasst euch das nicht entgehen!

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Danke für’s Lesen und liebe Grüße von
Cleo
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