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Sind wir nicht alle ein wenig toxisch?

Wo immer nur die anderen toxische Red Flags sind, übernimmt niemand mehr Verantwortung für sich selbst. Etwas mehr Selbstobjektivität, bitte.

Phyllobates terribilis, der giftigste Frosch der Welt (Symboldbild).

Soziale Verbindungen werden heute strenger überprüft, statt wie früher ungeachtet ihrer Qualität als unhinterfragbar hingenommen zu werden. Mehr und mehr Menschen verstehen, dass sie nicht auf Lebzeit an ihre Eltern gefesselt sein oder in dysfunktionalen Beziehungen bleiben müssen, dass soziale Verbindungen nicht nur entstehen, sondern auch wieder enden dürfen. Dass sie unabhängig von der Art der Beziehung (Verwandtschaft, Beruf, Paarbeziehung) ein Anrecht darauf haben, gesehen und wertschätzend behandelt zu werden.

Viel zu lange schon lebt die Gesellschaft in einem permanenten Aushalten, einem “So ist er/sie halt”, einem Zustand, in dem bestimmte Verbindungen so unhinterfragbar sind, dass man jede Scheiße frisst, die sie mit sich bringen. Menschen nehmen hin, dass sie nach jedem Familienbesuch zu Tode erschöpft sind, dass ihr/e PartnerIn ihnen keine Zuneigung mehr zeigt, dass sie die einzigen sind, die Freundschaften aufrechterhalten, oder sich für den Job aufopfern, ohne dafür irgendeine Anerkennung bekommen.

Gerade Frauen halten energetische Einbahnstraßen aus wirtschaftlicher oder emotionaler Abhängigkeit oft lange aus, genährt nur von der Hoffnung, dass es irgendwann einmal (wieder) anders wird. Dass sie heute reihenweise aufwachen und realisieren, was sie da eigentlich mitmachen, ist zunächst einmal eine erfreuliche Entwicklung. Frauen haben Demütigung durch patriarchale Strukturen lange genug lächelnd ertragen, weshalb bei dem öffentlichen Aufwachen immer auch ein feministischer Unterton mitschwingt.

Doch oftmals geht dieses Erwachen nicht über mehr oder weniger klare Schuldzuweisungen hinaus. Jemand hat in einer sozialen Konstellation gelitten, also muss die andere Person toxisch sein. Ein Mensch, der Leid auslöst, ist toxisch, die Beziehung oder das Arbeitsverhältnis abusive, klare Sache. Diese Haltung impliziert, dass nur eine Person dafür verantwortlich ist, ob eine zwischenmenschliche Verbindung eine für beide Seiten positive oder negative Erfahrung wird. Aber jede soziale Dynamik braucht die Eigenschaften beider Seiten.
Deshalb müssen wir lernen, zwischen Schuld und Verantwortung zu unterscheiden.

Schuld ist in erster Linie ein moralisch-juristischer Begriff, Verantwortung dagegen ein wertfrei-analytischer.Leid enthebt niemanden der Verantwortung für sich selbst

Wenn Menschen eine Verbindung eingehen, steht zwischen ihnen eine leere Leinwand. Und zwar erst einmal unabhängig davon, ob es sich um eine romantische Begegnung, eine Freundschaft oder ein kollegiales Arbeitsverhältnis handelt. Die Eigenschaften, Persönlichkeitsstrukturen, Verhaltensmuster der Personen sind die Farben, die auf die Leinwand kommen. Dabei entstehen die unterschiedlichsten Kombinationen und wie in der echten Farblehre harmonieren manche Töne gut miteinander, bringen einander auf die beste Weise zur Geltung, während andere sich “beißen” oder ein gülleartiges Mischmasch erzeugen. Schuld ist der letzte Pinselstrich, den eine Person auf die Leinwand bringt, Verantwortung sind die Farben und Formen, die beide vorher auf die Leinwand gebracht haben.

Nehmen wir ein stereotypes Beispiel aus der sexuell treuen Langzeitbeziehung: Eine Person erfährt nach einer langen Zeit, dass ihr/e PartnerIn sie betrogen hat oder noch betrügt. Sie ist am Boden zerstört, ihr Vertrauen schwer erschüttert, kurz: sie leidet. Die moralische Schuld an der Verletzung ist meines Erachtens sonnenklar verteilt und ebenso klar sollten Solidarität und Mitgefühl durch Außenstehenden verteilt sein. Aber die klare Verteilung der Schuld sollte nicht dazu führen, dass eine tiefergehende Ver- und Aufarbeitung einer solchen Erfahrung unterbleibt.

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Dem Seitensprung in dem Beispiel ging etwas voraus. Wahrscheinlich eine Beziehung, in der der betrügende (und also schuldige) Part sich nicht gesehen gefühlt hat. Oder in der unerfüllte Bedürfnisse oder andere Probleme nicht offen genug besprochen wurden. Die Person, die am Kipppunkt einer solchen Beziehung auf unmoralische (respektlose, verletzende) Weise handelt, trägt ohne Wenn und Aber die Schuld an dem verursachten Schmerz. Die Verantwortung dafür, dass die Beziehung überhaupt an den Kipppunkt gekommen ist, liegt dennoch bei beiden. Konfliktscheu, Externalisierung, Verdrängung, Verlassens- oder Versagensängste oder andere Verhaltensautomatismen haben die Beziehung an einen Kipppunkt geführt.

Diese Muster sind meiner Erfahrung nach geschlechtsunabhängig, Frauen neigen ebenso dazu wie Männer. An diesem Punkt so zu tun, als hätte die schuldige Person die ganze Zeit über die Möglichkeit zu einer erwachsenen, konstruktiven Lösung gehabt, verleugnet die Realität zwischenmenschlicher Verbindungen.

Wenn man das alles berücksichtigt, wird deutlich, dass auch die leidende Partei, die unschuldige Partei, die “schwache” Partei, toxisch oder eine Red Flag sein kann. Die Qualität einer Verbindung und der Ausgang eines Konfliktes hängen auch von ihrer Persönlichkeitsstruktur, ihren Eigenschaften, ihrer Kommunikationsbereitschaft ab. Ein Mensch, der dazu tendiert, den Raum, der ihm durch sein Gegenüber zur Verfügung gestellt wird, voll auszufüllen, ist meiner Ansicht nach nicht grundsätzlich unmoralisch oder schlecht. Trifft er allerdings auf eine Person, die Probleme hat, Grenzen zu setzen, entsteht zwischen beiden schnell eine hochgradig schädliche Verbindung. Und zwar unabhängig davon, ob beide Kollegen, Freundinnen oder Beziehungspartner sind.

Auf den emotionalen Schmerz erst einmal mit Wut und Selbstmitleid zu reagieren, halte ich für einen normalen und gesunden Bestandteil des Verarbeitungsprozesses, dem ein gewisser Raum zusteht. Man sagt, dass Zeit alle Wunden heilt, und tatsächlich lassen die Gefühle irgendwann nach. Aber sie werden nur überlagert von neuen Erfahrungen. Richtig wäre es zu sagen, die Zeit lässt über alle Wunden Gras wachsen. Denn mehr ist es nicht. Die Überwindung der Gefühle ist nicht gleichbedeutend mit Wachstum, Reife oder dem etwas überstrapazierten Begriffs der Heiulung. Deshalb sollte der Phase der Selbstfürsorge unbedingt der zweite Schritt folgen; die Frage nämlich, wie es zu der Situation kommen konnte.

An welcher Stelle habe ich das Verhalten begünstigt oder verstärkt? Welcher Teil von mir war aus welchen Gründen empfänglich für Lügen oder Manipulation? Warum haben wir (!) es nicht geschafft, unsere Probleme auf konstruktive Weise zu bereinigen? Diese Fragen führen tief ins eigene Selbst: den eigenen Sehnsüchten, Empfindlichkeiten, Erwartungen, Mustern. Sie gehören, das kann ich aus eigener Erfahrung sagen, zu den unangenehmsten und anstrrengendsten, die man sich selbst stellen kann. Aber wenn man sich wirklich weiterentwickeln will, wenn man möchte, dass es beim nächsten Mal anders läuft, dann führt kein Weg um diesen Blick nach innen herum.

Eine meiner Therapeutinnen formulierte es einmal so: “Sie nehmen sich selbst mit in jede Beziehung.”

Murmeltiertag

Der obige Satz der Therapeutin bedeutet nichts anderes, als dass die große Gefahr besteht, wieder und wieder in toxische Dynamiken zu geraten. Immer wieder von unterschiedlichen Partnerinnen und Partner betrogen, in verschiedenen Jobs ausgebeutet zu werden oder in Freundschaften auszubrennen. Wie in dem Film “Und täglich grüßt das Murmeltier” durchlebt man die gleichen Muster wieder und wieder.

Ein Beispiel aus meinem eigenen Nähkästchen. Mein toxisches Muster war sehr lange ein starker innerer Drang, Menschen in emotionaler Not zu retten, ihnen den Weg aus ihrer Not zu zeigen, sie an der Hand zu führen und die Verantwortung für ihr Wohlbefinden zu übernehmen. Je näher mir eine Person steht, desto stärker ist der Drang. Mit Anfang Dreißig wurde mir klar, dass viele meiner vergangenen Freundschaften eher Verhältnisse zwischen PatientIn (die andere Person) und Psychiaterin (mir) waren und mich oft mehr Kraft gekostet haben als ich bekam. Dank vieler Stunden Therapie und weil das Internet neue Abstufungen von Nähe erlaubte, habe ich diesen inneren Drang heute viel besser im Griff.

In romantischen Beziehung dagegen neige ich dazu, Verantwortung abzugeben, werde also selbst zum Energievampir. Ein Mann, der mir romantisch zugetan ist und Probleme hat, Grenzen zu setzen, oder den gleichen Drang zur Verantwortungsübernahme hat wie ich in platonischen Begegnungen, bildet mit mir ungefähr die toxischste Kombination, die sich irgendein Mensch vorstellen kann. Wenn ein solcher Partner schließlich auf unmoralische Weise ausbricht, um selbst nicht unterzugehen, dann steht es mir zwar zu, über die Verletzung wütend zu sein oder mich verlassen zu fühlen, die Situation an sich habe ich aber dennoch mit herbeigeführt.

Bevor mir diese Muster an mir selbst klar wurden, war ich in gewisser Weise verflucht, sie in Freundschaften und amourösen Begegnungen immer wieder durchzuexerzieren. Die Dynamiken hätten sich für mich immer wieder schmerzhaft und anstrengend angefühlt, ich hätte mich immer wieder ausgesaugt oder im Stich gelassen gefühlt.

Und gerade aufgrund dieser unterschiedlichen Erfahrungen hat sich bei mir über die Jahre und vor allem nach meiner letzten, über zehnjährigen Beziehung ein einziger Glaubenssatz herauskristallisiert: Ich werfe keiner Seite ihre frühkindliche Prägung vor, aber ich erwarte von beiden, dass sie daran arbeiten, keine toxische Situation zu erzeugen. Exakt dort verläuft meines Erachtens die Grenze zwischen Schuld und Verantwortung.

Niemand, der oder die ein Opfer missbräuchlicher Sozialkontakte wurde, ist schuld daran. Die Betonung der Eigenverantwortung ist kein Victim-Blaming, sondern die Erinnerung daran, dass jeder Mensch eine gewisse Kontrolle darüber hat, was in seinem Leben geschieht, welchen Menschen er wie begegnet.

Wachstum und Reifung sind eben nicht damit getan, sich auf die moralische Seite einer schmerzhaften Erfahrung zurückzuziehen und beim nächsten Mal alles noch einmal so nachzutanzen, sondern dafür ist Arbeit nötig. Zuerst Erkenntnisarbeit, aber schlussendlich auch Arbeit an der Durchbrechung eigener Muster. Bei aller berechtigten öffentlichen Anklage unmoralischen Verhaltens von Arbeitgebern, Partnerinnen, Kolleginnen und Freunden sollten wir alle nicht vergessen, dass wir selbst mitunter die größte Toxizität in uns tragen.

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Topic Psychische Gesundheit

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