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Auf Wolke sieben!

Von Hasnain Kazim - Verliebt ins Spießertum / Toiletten und Züge / Expo in Osaka / Hiroshima / “Triggerwarnung”

Liebe Leserin, lieber Leser,

ich gestehe: I am in love. Und zwar mit Japan. So, wie man eben verliebt ist, wenn man sich gerade kennengelernt hat: von allem begeistert, alles durch die rosarote Brille betrachtend, immer wohlwollend, nachsichtig mit den kleinen Schwächen, die großen Schwächen noch nicht kennend.

Äußerlich, sagt mir eine japanische Freundin, die viele Jahre in Deutschland gelebt hat und nun wieder in Tokio ist, habe Japan sich in den zurückliegenden fünfzig Jahren zwar dramatisch verändert, erneuert, modernisiert. “Es wird gebaut wie verrückt, und nächstes Jahr sieht wieder alles anders aus. Es gelingt dabei, auch das Alte zu bewahren. Das ist wirklich schön.” Aber, schränkt sie ein: “Die Gesellschaft hat mit dieser äußerlichen Veränderung kaum Schritt gehalten: immer noch sehr konservativ, für Frauen schwierig, eine Männergesellschaft, bloß keine Probleme ansprechen!, alles unter den Teppich kehren. Ein Inselvolk eben.”

Da ist sicher viel Wahres dran. Und dennoch: Mir gefällt, wie unfassbar sauber, ordentlich, präzise, höflich, freundlich, effizient, funktional dieses Land ist. Merkwürdigerweise gibt es so gut wie nirgendwo öffentliche Mülleimer (für die Österreicher unter uns: Mistkübel), ich fotografiere schon Mülleimer, weil sie eine Seltenheit, ja: eine Sensation sind, aber trotzdem liegt nirgendwo, und wenn ich nirgendwo sage, meine ich: n i r g e n d w o, Müll herum. Wenn ich daran denke, was für ein Saustall hingegen allein die Donauinsel in Wien ist, wo Idioten Dosen, Plastikflaschen, Verpackungen, Kaugummis, sonstigen Müll liegen lassen…

Es gibt so gut wie keine Graffiti, und damit meine ich diese hässlichen Schmierereien von Nichtskönnern, nicht die schöne Kunst, die es ja auch gibt.

Graffito, aber: schön. Hier in Tokio.

Dass die Leute keine Tattoos haben, entspricht auch eher meinem Geschmack; und bevor sich jetzt Leute mit Tattoos aufregen: Jede/r, wie er/sie mag. Es steht niemandem zu, das gegenüber den Betreffenden zu kommentieren; eine Meinung zu haben aber schon. Ich persönlich finde schöne, kunstvolle Tattoos beeindruckend. Nur sehe ich in Europa immer häufiger Tattoos, die aussehen wie die Zeichnungen, die ich in mein Notizbuch kritzele, während ich langweiligen Vorträgen zuhöre; oder wie wenn jemand eine Einkaufsliste machen wollte, aber kein Papier zur Hand hatte und sich dann einfach die Liste auf den Unterarm geknattert hat.

Das mit den Tattoos hat hier in Japan eine Geschichte: Sie waren ein Zeichen der Mafia, und bis heute bringen viele Menschen Tattoos eher mit diesen Verbrechern in Verbindung; es gibt Bäder, in denen ist der Zutritt mit Tattoo verboten. Das geht nach meinem Geschmack zu weit, aber die allgemeine Zurückhaltung bei Tattoos, finde ich, ist doch gewissermaßen eine ästhetische Wohltat. Und Gott oder Buddha oder wem auch immer sei Dank: keine Arschgeweihe!

Das mag spießig klingen, ist es auch, aber was soll ich sagen?, so bin ich und so mag ich es!

Toilettenbau und Züge

Ich bin mir sicher: An japanischen Universitäten gibt es, ähnlich den Studiengängen Automobilbau oder Luft- und Raumfahrttechnik, den Studiengang Toilettenbau. Mit Instituten für Spültechnik, Professoren für Klobrillenbeheizung und hochbezahlten Fachleuten für automatische Poreinigung. Sie werden das sicherlich schon in Texten über Japan gelesen haben, und es ist ja auch ein bisschen klischeehaft, aber es stimmt einfach: Nirgendwo gibt es solch fantastische Toiletten wie in Japan! Mit hochentwickelter Spültechnik! Mit beheizten Klobrillen! Mit automatischer Reinigung per Wasserstrahl, dessen Druck, Temperatur, Streuung (!) und Zielgenauigkeit (!) man digital steuern kann! Wo das Wasser zum Händewaschen anschließend in den Spülkasten fließt und zum Spülen genutzt wird und so Jahr für Jahr wahnsinnig viel Wasser eingespart wird!

Kein Witz!

Ich möchte es bitte nie wieder anders haben und erwäge, solch eine Toilette nach Wien zu exportieren und in meine Wohnung einbauen zu lassen. Endlich mal Technisierung, die Sinn ergibt! Keine schwachsinnige Digitalisierung um der Digitalisierung willen!

So muss eine Toilettenbedienung aussehen: viel, aber nicht zu viel Technik!

Nicht nur bei diesem Thema frage ich mich: Wie kann es sein, dass dieses Japan zu demselben Kontinent Asien gehört wie Indien und Pakistan mit ihren furchtbaren Hockklos und der Reinigung per…? Aber lassen wir das.

Jedenfalls: Jedes Bahnhofsklo in Japan ist sauber, oft selbstreinigend. Und nirgendwo, ich wiederhole: n i r g e n d w o kostet die Nutzung einer Toilette Geld!

So wie es übrigens auch keine absurden Bahnhofs- oder Flughafenpreise gibt und das Mineralwasser oder die Limonade oder das Onigiri auf der Expo 2025 in Osaka genauso viel kostet wie in jedem Supermarkt. Und auch nirgendwo Trinkgelderwartungen von übelgelaunten Leuten existieren, weder in Restaurants noch in Taxis, sondern die Menschen anständig bezahlt werden und ihre Arbeit dafür ordentlich und gerne machen und Trinkgeld ablehnen, dabei unfassbar höflich sind, kein scheiß „Bakschisch!“, kein Augenverdrehen, weil das Trinkgeld als zu niedrig empfunden wird, es gibt einfach keins und wird nicht nur nicht erwartet, sondern gilt sogar als unhöflich, wenn man eins geben will.

Nicht nur rund ums Thema Toilette ist Deutschland rückständig.

Apropos Rückständigkeit: Da fällt mir die Deutsche Bahn ein, die ich im Großen und Ganzen ja ganz gerne mag und viel nutze. Derzeit fahre ich kreuz und quer mit Zügen durch Japan, und ich kann bestätigen: Wenn hier ein Zug planmäßig um 14.04 Uhr abfahren soll, dann fährt er um 14.04 Uhr los, nicht um 14.05 Uhr, nicht um 14.06 Uhr und schon gar nicht um 14.07 Uhr, und wenn er dann um 18.17 Uhr ankommen soll, kommt er um 18.17 Uhr an, und zwar um g e n a u 18.17 Uhr, nicht um eine oder zwei oder drei oder zehn Minuten später. Und ja, der Shinkansen donnert mit bis zu 320 Kilometer pro Stunde durch die Landschaft. Und ja, er hat ein eigenes Schienennetz. Er wird nicht von lahmen Güterzügen oder schrottigen Regionalbahnen behindert. Und nein, es gibt weder “Signalstörungen” noch “Störungen am Zug” noch “Störung am Gleis” noch sonst irgendwelche Stellwerk- oder Weichen- oder sonstige Störungen. Er fährt. Punkt. Geil! Und er beschleunigt wie ein Flugzeug. Es gibt auch keinen “Heute in umgekehrter Wagenreihung!”-Bullshit oder “Heute ohne Wagen 31 bis 38!”-Nonsense, sondern die Wagen halten punktgenau, also: p u n k t g e n a u dort, wo sie halten sollen. Und genau dort wartet man in einer vernünftigen Schlange, ohne Gedränge und Geschubse, und die Zugbegleiter sind höflich und hilfsbereit und kundenorientiert und nicht irgendwelche gescheiterten Diktatoren oder verkannte Clowns.

Shinkansen am Hauptbahnhof von Tokio.

Das gilt aber auch für Regionalzüge, die auf die Sekunde (ich schreibe bewusst: Sekunde, nicht: Minute) genau losfahren und ankommen. Und die nicht von einem Ast auf dem Gleis oder einer Schneeflocke oder was weiß ich buchstäblich aus der Bahn geworfen werden. Die Passagiere sind übrigens leise, also: l e i s e, und nicht besoffen, sie kotzen nicht und schreien nicht und lachen nicht grotesk laut und benehmen sich, sie telefonieren nicht im Zug (!) und teilen nicht allen Mitreisenden ihre albernen Geschäftsgespräche mit oder welche Aktien sie gerade kaufen wollen oder dass ihnen gerade Hämorrhoiden wachsen, sie essen, wenn überhaupt, kein stinkendes Zeug, das die Mitreisenden umbringt. (Na gut, Zwiebelmettbrötchen sollten immer und überall erlaubt sein.) Das Leben kann ja so schön sein mit Menschen, die kultiviert sind und sich benehmen können.

Spießig?

Gut so! Hoch lebe das Spießertum! Hauptsache Züge, die endlich funktionieren und schnell sind und pünktlich und zuverlässig losfahren und ankommen, mit anständigem Personal und anständigen Passagieren!

Expo in Osaka

Einen kleinen Knacks hat meine Liebe zu Japan diese Woche dann doch bekommen, und zwar auf der Expo. Der Andrang ist gewaltig, viele, wirklich sehr viele Menschen wollen die Weltausstellung besuchen. Nur muss man, wenn man kein VIP-Ticket hat, leider eine Stunde oder länger in einer Schlange warten, bis man hineinkommt, und das auf einem Platz ohne Überdachung, bei 35 Grad Celsius in der prallen Sonne. Man kann, immerhin, einen Schirm mieten, wenn man mag.

Expo 2025 in Osaka: Warten auf Einlass in praller Sonne.

Ich war zuerst im deutschen Pavillon, und was soll ich sagen? Am Eingang springen hochrote Animateure herum, bei denen man befürchtet, dass sie bei der Hitze gleich einen Herzinfarkt oder einen Hitzschlag bekommen. Dann bekommt man eine hässliche Gummifigur in die Hand gedrückt, mit der man sich in infantiler Sprache Zeug darüber anhören kann, wie toll Deutschland mit gesellschaftlichem Wandel und Klimaschutz umgeht. Nicht, dass ich diese Themen unwichtig finde, nur: Die Art und Weise, wie das dargeboten wird, ist meiner Meinung nach eine ziemliche Selbstverzwergung. “Und wenn du schon in Hamburg bist, dann probier mal ein Franzbrötchen, das schmeckt ganz fantastisch, hihi!”

Große Güte!

(Ich kann hier leider nicht diese beknackte Stimme wiedergeben, in der man das aus diesem leuchtenden Kugelviech hört.)

Deutsches Kugelviech: Symbol der Infantisierung und Selbstverzwergung.

Wenn man sich anschließend zum Beispiel den chinesischen Pavillon anschaut, immerhin ein diktatorisch geführtes Land, das am Ende sympathischer rüberkommt und China in all seinen Facetten darstellt - Kultur, Kunst, Wirtschaft, Natur, autoritäre bis diktatorische Politik natürlich elegant aussparend -, kann man nur sagen: Chapeau!

Den österreichischen Pavillon übrigens finde ich: gelungen. Klein wie das Land, aber gleich am Eingang ein Bösendorfer Flügel, auf dem automatisiert ein Mozart-Konzert läuft für Klavier und Orchester, wunderbar beeindruckender Sound. Und dann erfährt man viel über die Geschichte der österreichisch-japanischen Beziehungen. Nicht zu dick aufgetragen, aber auch keine peinliche Oberlehrer-„Wir sind Vorbild für die ganze Welt“-Attitüde.

Der Fairness halber zum deutschen Pavillon: Ich glaube, bei vielen Japanern kommt der ganz gut an. Mit Blick auf zielgruppengerechter Ansprache hat der also schon seine Berechtigung. Meins ist das nicht.

Hiroshima

Ein Besuch in Hiroshima sollte Pflicht sein. Dieser Ort, an dem am 6. August 1945 die erste Atombombe der Welt gezündet wurde, ist sehenswert. Bis Ende 1945 wurden mit dieser Bombe mindestens 140.000 Menschen getötet, in der Folge starben noch mehr.

Der Friedenspark, in dem ein Sarkophag mit einer Liste der Namen der Toten steht, sowie ein Denkmal zu Ehren der getöteten Kinder, sollte man gesehen haben. Und mehr noch: das Friedensmuseum. Ein Haus, das die Geschichte des ersten Atombombeneinsatzes sehr beeindruckend erzählt. Aus japanischer Sicht zwar, natürlich, was verschweigt, dass Japan im August (!) 1945 (!), drei Monate nach der Kapitulation Nazi-Deutschlands, immer noch nicht aufgegeben hatte, sondern den Zweiten Weltkrieg fortsetzte. Ein Museum, das aber zeigt, dass Massenvernichtungswaffen wie die Atombombe immer, immer ungerecht sind, mörderisch, weil sie einfach alle treffen. Es lohnt sich, diese Ausstellung anzuschauen.

Kurz vor meiner Reise nach Japan entdeckte ich in Deutschland dieses Buch: “Hiroshima. Eine Stimme aus der Hölle”. Ein Buch von Hisashi Tohara, der den Atombombenabwurf 1945 als junger Mann erlebte - und ein Jahr später darüber ein paar Eintragungen in ein Tagebuch machte. Diese Notizen wurden später von einer Verwandten gefunden und im kleinen Verwandtenkreis verteilt, fanden so den Weg zu einem französischen Verlag und wurden später weltweit veröffentlicht.

Ich empfehle, auch wenn Sie nicht nach Hiroshima reisen: Lesen Sie dieses Büchlein von Hisashi Tohara!

Japanische Küche

Die japanische Küche hat es mir angetan. Ich postete diese Woche auf unterschiedlichen Kanälen dieses Bild:

Dazu schrieb ich: “Eigentlich brauche ich nie wieder etwas anderes als japanische Küche.”

Das meine ich durchaus ernst: Diese Küche fasziniert mich. Werde mich in nächster Zeit intensiver damit beschäftigen.

Aber was folgte, vor allem auf der Plattform „BlueSky“, war: ein Sturm der Entrüstung, weil ich dieses Bild nicht mit einem “Alt-Text” versehen hatte, also einer Bildbeschreibung für Sehbehinderte. Das kann man natürlich kritisieren, und wenn man tatsächlich etwas ändern und mich überzeugen wollte, hätte man mich direkt anschreiben können. Aber nein, ich wurde sofort beschimpft als “behindertenfeindlich” und “ableistisch”.

Einige meiner Verwandten kritisieren auch, dass ich so gut wie nie etwas auf Englisch schreibe, sodass sie meine Texte nicht verstehen. Ich habe das auch dann nie getan, als es noch keine technischen Übersetzungshilfen gab. Ich tue es auch heute nicht. Ich freue mich aber über Technik, die behilflich ist.

Wenn man wollte, dass ich Texte für Blinde schreibe, könnte man das konstruktive Gespräch suchen. Aber nein, lieber pöbelt man laut und öffentlich! Nur: So erreicht man nichts. Auch bei mir nicht. Und sollte ich es doch tun, hat eine Gruppe null Anteil daran: die Fuzzis, die pöbeln.

Im Übrigen ist niemand niemandem eine Erklärung schuldig in dieser Hinsicht. (Auch ich meiner weitläufigen Verwandtschaft nicht.)

Aber es folgte ein weiterer, noch größerer Sturm der Wut: Ich würde mit diesem Bild “Tierleid verherrlichen” und “keine Rücksicht auf das Leben von Tieren” nehmen. “Wenigstens eine Triggerwarnung” hätte ich verfassen und dem Foto voranstellen sollen.

Ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll. Hier eine “Triggerwarnung” für das folgende Bild, das die Esskultur der Japaner, Stichwort: Wagyu-Beef, ehrt: Achtung, Triggerwarnung!

Ein schönes Wochenende wünsche ich Ihnen derzeit aus Sendai, wo die beliebtesten Delikatessen sind: Austern (roh oder frittiert), Rinderzunge (in allen möglichen Variationen) und gebratener Aal.

Ihr Hasnain Kazim

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