Wie die Moderne uns den Fortschritt klaute – und wir trotzdem weitermachen
Reihe: „Humor am Rande des Erdfelds“ (Episode 5)
Thema: Andreas Reckwitz – Verlust. Ein Grundproblem der Moderne (2024)7 Min. Lesezeit oder 37 Min. Hörzeit :-)
Was Ann Kristin Würfel und Helge sich dazu erzählen zuerst hier. Danach die Textfassung leicht verdaulich.
Willkommen auf dem Erdfeld, liebe Zukunftsverunsicherte!
Du sitzt also hier – irgendwo zwischen Klimapanik, Rentenlücke und der Frage, ob es noch Sinn ergibt, montags motiviert zu sein. Willkommen bei „Humor am Rande des Erdfelds“, der kleinen Überlebenshilfe für alle, die spüren: Irgendwas stimmt hier nicht – aber was genau ist es eigentlich?
Heute gehen wir auf Schatzsuche. Nur dass der Schatz diesmal ein Soziologe ist. Und der Schatz Verlust heißt. Klingt nicht sexy? Tja. Willkommen in der Spätmoderne.
Was ist eigentlich los mit dieser Gesellschaft?
Der Soziologe Andreas Reckwitz, einer der klügsten Diagnoseärzte unserer Zeit, hat 2024 ein Buch geschrieben mit dem Titel:
„Verlust. Ein Grundproblem der Moderne“.
Seine These: Die Spätmoderne – also unsere Zeit seit den 1970ern – produziert Verluste am laufenden Band. Nicht, weil jemand zu doof wäre, sondern weil das System selbst so gestrickt ist. Fortschritt? Eher ein Ritt ins Wanken.
Kurz gesagt: Die Gesellschaft hat das Verlieren perfektioniert – nur mit dem Umgang damit hapert’s noch.
Die 8 Gründe, warum uns dauernd etwas abhandenkommt
Hier sind sie – verständlich, ehrlich und mit einem Augenzwinkern erklärt:
1. Fortschrittsglaube: Tot, aber nicht beerdigt
Früher glaubte man: Morgen wird besser!
Heute: Morgen vielleicht Stromausfall und Hitzealarm. Der Glaube an Fortschritt wurde ersetzt durch den Verdacht, dass Fortschritt nur ein anderer Name für „mehr Probleme mit besserem WLAN“ ist.
2. Strukturwandel & Globalisierung: Alles fließt – vor allem dein Arbeitsplatz
Wir sind vom Stahl zur Cloud gewandert. Klingt leichter – ist aber auch luftiger. Deindustrialisierung, digitale Nomad:innen, prekäre Jobs: Die alten Sicherheiten sind weg, die neuen heißen „Flexibilität“, was nur ein freundlicher Begriff für Dauerunsicherheit ist.
3. Soziale Ungleichheit: Ein Fahrstuhl mit VIP-Taste
Die Mitte bröckelt. Oben gibt’s mehr, unten wird’s enger, und in der Mitte sagt man: „Früher ging’s uns doch besser, oder?“ – nur dass keiner mehr weiß, wann genau dieses „früher“ war.
4. Klimakrise: Der Planet hat keinen Bock mehr
Der Fortschritt hat uns SUV und Tiefkühlpizza gebracht – aber leider auch Hitzerekorde, Artensterben und das Gefühl, dass der Planet gerade auf „Flucht“ schaltet. Der Verlust? Unser bisheriges Vertrauen in Natur als ewige Hintergrundtapete.
5. Selbstverwirklichung: Du kannst alles sein – aber bitte sofort
„Finde dich selbst!“ klingt gut, bis man merkt, dass man zwischen Yogamatte, Coaching-Abo und Tinder-Profil, Seelsorge oder Endlich-Leben-Selbsthilfegruppe nur noch Erschöpfung findet. Der Verlust? Die alten, gemeinsamen Lebensentwürfe. Heute muss jede:r das Rad neu erfinden – am besten täglich.
6. Institutionen: Vertrauen futsch
Früher dachten wir: Der Staat regelt das schon.
Heute denken wir: Wer ist „der Staat“ eigentlich – und kann ich ihm trauen? Entscheidungen fallen irgendwo zwischen Brüssel, BlackRock und ChatGPT. Wer mitreden will, braucht einen Podcast. Oder einen Burnout.
7. Geschichte & Kultur: Viel Vergangenes – wenig Verlässliches
Was mal stabil klang („Tradition“, „Nation“, „Werte“), ist heute Reizwort oder Problemfall. Kolonialgeschichte, DDR-Vergangenheit, Mission, religiöse Symbole – überall Revision, Reibung, Ringen. Gut so – aber eben auch: verunsichernd.
8. Emotionale Verluste: WLAN statt Wärme
Mehr soziale Netzwerke, weniger echte Netze. Menschen vereinsamen, obwohl sie ständig erreichbar sind. Die Verluste? Nähe, Verlässlichkeit, das gute alte „Komm doch einfach vorbei“. Stattdessen gibt’s Sprachnachrichten mit drei Minuten Schweigen am Ende.
Willkommen im Zeitalter der großen Minuszeichen
Reckwitz sagt: Die Verluste der Spätmoderne sind kein Betriebsunfall einzelner, sondern strukturelle Realität der Moderne. Also nicht Fehler, sondern Feature.
Und weil wir sensibler geworden sind, spüren wir sie umso stärker.
Das Ergebnis? Eine Gesellschaft im chronischen Abschied.
Die Diagnose klingt düster – aber sie ist auch befreiend:
Denn wer weiß, was fehlt, kann anfangen, neu zu fragen:
Was wollen wir stattdessen? Was darf bleiben? Was soll kommen?
Ausblick: Und jetzt?
In Teil 2 der Buchbesprechung von Reckwitz geht’s um uns selbst:
👉 Wie lebt man eigentlich in dieser verlustaffinen Gesellschaft? Die scheinbar mehr Bock auf Verlust als Gewinn hat. Oder gibt es eine Zukunft?
👉 Warum ist nicht nur der Planet erschöpft, sondern auch du?
Und in Teil 3 lüften wir ein neues Kapitel:
👉 Gibt es eine Epoche nach der Moderne?
👉 Spoiler: Ja. Sie heißt Metamoderne. Und sie hat im glücklichsten Fall Humor, Tiefgang – und vielleicht sogar Hoffnung, aber kein Hopium mehr. Das ist aus.
Bis dahin: Verliere nicht den Kopf. Nur ein paar alte Illusionen. Die haben’s eh hinter sich.
Dein Helge (im Gepäck und inspiriert dabei ist Ann Kris)