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Queerer Kanon #14:

Liebe Leser*innen

unsere Sommerpause hat leider etwas lĂ€nger gedauert, als geplant. Umso mehr freuen wir uns, wieder zurĂŒck zu sein.

In den Herbstprogrammen der deutschen Verlage findet sich in diesem Jahr eine vergleichsweise große Anzahl queerer Titel. Ein Grund zur Freude, verbunden mit der Hoffnung, dass es sich hierbei nicht um einen vorĂŒbergehenden Trend, sondern eine dauerhafte Entwicklung handelt.

Einige der Titel werden wir in den nÀchsten Monaten hier besprechen. Vorneweg sei schon mal auf die Veröffentlichung von Mary Renaults erstmals 1944 erschienenen lesbischem Klassiker Freundliche junge Damen (Opens in a new window) (aus dem Englischen von Gertrud Wittich) im Rowohlt Verlag hingewiesen. Er erscheint innerhalb der von Magda Birkmann und Nicole Seifert herausgegebenen Reihe rororo Entdeckungen, die sich vergessenen Autorinnen widmet.

In dieser Ausgabe widmet sich Marlon mit Dale Pecks Martin and John einem ebenfalls vergessenen Klassiker der HIV-/AIDS-Literatur und bespricht darĂŒber hinaus mit David Santos Donaldsons Grönland einen DebĂŒtroman, in dem ein anderer queerer Klassiker eine gewichtige Rolle spielt.

Tobi stellt einen Roman von Maurizio Fiorino und eine Graphic Novel von Leonie Ott und Mazlum Nergiz vor. DarĂŒber hinaus beschĂ€ftigt er sich mit dem von Ben Trott und Mike Laufenberg herausgegebenen Band Queer Studies: SchlĂŒsseltexte, der einige der wegweisendsten Texte der Queer Theory zum ersten Mal auf Deutsch prĂ€sentiert.

DarĂŒber hinaus ist in der aktuellen Ausgabe (Opens in a new window) des BĂŒchermagazins MOKA ein Interview mit uns erschienen, in dem wir ĂŒber den Queeren Kanon? und unseren Blick auf queere Literatur sprechen sowie drei Titel empfehlen.

Wie immer freuen wir uns auf euer Feedback, eure Fragen, VorschlÀge und Kommentare.

Tobi & Marlon

Over the Rainbow: Queere Klassiker

Dale Peck: Martin and John

“How can this story give Martin immortality when it can't even give him life? Now I wonder, Has this story liberated anything but my tears? And is that enough? I want to ask. To which I can only answer, Isn't that enough?”

Martin and John von Dale Peck erzĂ€hlt von einer Liebe in Variationen. Vielleicht ist es auch eine Geschichte ĂŒber die ewige Wiederkehr, zumindest aber ist es eine Geschichte ĂŒber die rettende Kraft der Literatur. Der Roman ist 1992 erschienen und ist das DebĂŒt des 25-jĂ€hrigen Dale Peck, der schon damals ein unglaubliches GespĂŒr fĂŒr menschliche Emotionen hatte und mit der Beobachtungsgabe eines weitaus erfahrenen Schriftstellers glĂ€nzte. Eine deutsche Übersetzung von Michael Hofmann ist 1995 bei List (und 1997 bei Droemer Knauer) erschienen. Wie ein Großteil der AIDS Literatur ist die deutsche Ausgabe nur noch antiquarisch erhĂ€ltlich.

Pecks DebĂŒt ist das, was man allgemeinhin schwule Literatur nennt und trotzdem erstaunlich queer – zumindest was seine Form betrifft, löst ‚Martin and John‘ doch die Grenzen zwischen Roman und Kurzgeschichtensammlung auf. Die Rahmenhandlung – vom Rest des Textes kursiv abgesetzt – erzĂ€hlt von John, der sich in Martin, einen Stricher, verliebt, der an AIDS stirbt. Seine Trauer verarbeitet John in Geschichten ĂŒber Martin und John, die unter verschiedensten UmstĂ€nden und in unterschiedlichsten Situationen zueinander finden. Literatur ist hier Trauerarbeit, aber auch der Versuch, Liebe und die geliebte Person in all ihren Facetten einzufangen. Mehr als das, Literatur ist hier in mehrerlei Hinsicht ein Mittel, um das Abstrakte greifbar zu machen.

Dale Peck taucht in diesen Geschichten mĂŒhelos in die unterschiedlichsten Milieus ein. Sei es das höllische Vorstadtleben wie man es von David Lynch kennt, ein Kreis aus Intellektuellen rund um eine charismatische Frau, die an Susan Sontag erinnert, oder das kleine Haus in der NĂ€he einer Fabrik in einer Kleinstadt, aus der zwei MĂ€nner auszubrechen versuchen. All diese Geschichten erzĂ€hlen jedoch von Gewalt, von Homophobie, von Inzest und vom Verrat an der Mutter und der Komplizenschaft mit dem Vater – und das auf eine Art, wie es sich schwule und queere Literatur auch heute noch selten traut.

Martin and John gleicht einer Heimsuchung und ist trotz seiner BrutalitĂ€t und seiner Thematik doch versöhnlich, ja, hoffnungsvoll. Es ist ein Text, der seiner Ambivalenz gewachsen ist, welcher Ästhetik, Form und Inhalt mit Bravour zusammenfĂŒhrt. (Marlon)

Out & Proud: Aktuelles & Neuerscheinungen

David Santos Donaldson: Grönland (aus dem Englischen von Joachim Bartholomae, erschienen im Albino Verlag) (Opens in a new window)

Grönland ist der DebĂŒtroman von David Santos Donaldson, der dieses Jahr fĂŒr die Hotlist der unabhĂ€ngig verlegten Literatur nominiert war. Ausgestattet mit dem allernötigsten – Salzcracker, Cappuccino, Wasser, ein MacBook ohne Internetanschluss und einen Revolver – hat sich Kip Starling in sein Arbeitszimmer im Souterrain eingeschlossen. Denn ihm bleiben gerade einmal drei Wochen, um seinen Roman zu schreiben.

Der Roman ist eigentlich fertig, er handelt von der Liebesbeziehung zwischen E. M. Forster, dem Autor von Romanen wie Maurice, Zimmer mit Aussicht und Reise nach Indien, und dem Ägypter Mohammed El Adl, und ist aus der Sicht des Schriftstellers geschrieben – doch sein Roman bietet nichts Neues, weder inhaltlich noch stilistisch. Eine Lektorin rĂ€t ihm: „[V]ielleicht sollten Sie die Geschichte aus der Perspektive von Mohammed erzĂ€hlen. Das wĂ€re interessant!“

Doch in knapp drei Wochen ĂŒbernimmt ein Medienkonzern den Verlag, ein Konzern der nicht an literarischen Texten interessiert ist. Sollte Kip es schaffen, seinen Text in drei Wochen zu ĂŒberarbeiten, wĂ€re er das letzte Manuskript, welches die Verlagslegende erwerben wĂŒrde. Diese Chance kann sich Kip, dessen grĂ¶ĂŸer Wunsch es ist, ein veröffentlichter Schriftsteller zu sein, nicht entgehen lassen.

Eingeschlossen in dem kleinen Zimmer beginnen die Grenzen zwischen Fiktion und RealitĂ€t schnell zu verschwimmen, denn Kip erkennt immer mehr Ähnlichkeiten zwischen sich und Mohammed. Beide sind sie queer, beide lieben sie einen Ă€lteren, weißen Mann und beide sind sie sich „vollkommen klar darĂŒber, wie sehr [sic] schwarz zu sein“ ihr Leben beeinflusst.

Kip ist ein „verrĂŒcktes, anachronistisches Wesen“. Seine Eltern stammen aus der Karibik, doch aus einer Zeit „als der britische Kolonialismus in voller BlĂŒte stand“. Wie auch ihr Sohn sind sie britischer als die meisten Briten. Auch als Kip in die USA zieht, dem Land seines literarischen Vorbilds James Baldwins, ist er weiterhin ein Außenseiter. Seine Schwarzen Kommiliton*innen nehmen ihn als affektiert und hochnĂ€sig war, in ihren Augen ist er ein VerrĂ€ter, jemand, der sich selbst hasst. Kip ist dementsprechend nirgends daheim, seine Existenz befindet sich im Transit.

Kips innerster Wunsch ist es, wahrgenommen zu werden – doch er wird ebenso von Paranoia geplagt, wie er als Schwarzer Mann wahrgenommen wird und kann deswegen niemanden sein wahres Ich zeigen. Er ist „Treibgut im Kielwasser einer eigentĂŒmlichen Erfindung mit Namen Whiteness.“ Doch Donaldson begnĂŒgt sich nicht damit, seinen Protagonisten als reines Opfer darzustellen. Auch er hat diese Whiteness verinnerlicht und begegnet seinen Mitmenschen mit Vorurteilen.

Doch auch in der Isolation seines eigenen Zimmers ist er vor dieser Whiteness nicht geschĂŒtzt, denn dem Biss in eine proustsche Madeleine gleich löst die Auseinandersetzung mit Mohammed „eine Flut lang vergessener Erinnerungen aus, lebhaftester GefĂŒhle, Erinnerungen an halb vergessene, folgenreiche Ereignisse.“ Und so tritt Kip die Flucht an, eine Flucht, die ihn in die Wildnis Grönlands fĂŒhren wird.

Grönland ist ein Buch der Heimsuchungen, der Visitationen und Geister. Das Spiel mit dem Magischen Realismus wird auch als solcher verstanden, Visitationen sind real und alltÀglich, sie benötigen ganz im Sinne von Susan Sontag keine Interpretation. Dabei handelt es sich um ein weitverbreitetes Motiv in der Literatur afroamerikanischer Autor*innen. Das bekannteste Beispiel ist vermutlich Toni Morrison, deren Texte voller WiedergÀnger sind.

Gerade zum Ende hin stellte ich mir die Frage, ob nicht zu viele Fragen beantwortet, ob ein gewisses Maß an Offenheit nicht interessanter gewesen wĂ€re. Allerdings kommt hier vielleicht auch ein eurozentristischer Blick ins Spiel, ein Blick, der Erwartungen an den Text stellt, die er gar nicht erfĂŒllen will. Und vielleicht fĂŒhrt der Text hier ja auch ganz absichtlich, Leser*innen Ă€hnlich wie auch Kip die eigenen Vorurteile vor Augen, die zu hinterfragen sind, um den Text richtig einordnen zu können.

Grönland von David Santos Donaldson ist ein spannendes DebĂŒt. Ein DebĂŒt, das umso gespannter macht auf das, was noch folgen wird. (Marlon)

Maurizio Fiorino: K.O. (aus dem Italienischen von Christiane Burkhardt, erschienen im Nonsolo Verlag) (Opens in a new window)

Maurizio Fiorinos Roman K.O. nimmt seine Leser*innen mit ins provinzielle SĂŒditalien der frĂŒhen 1980er-Jahre, das geprĂ€gt ist von toxischer MĂ€nnlichkeit, klaren Hierarchien und den damit einhergehenden zementierten Rollenbildern und -erwartungen. Unter dieser Glasglocke wĂ€chst Biagio, Fiorinos Ich-ErzĂ€hler, auf. Seine Mutter ist kurz vor seinem ersten Geburtstag bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Der Vater, ein Choleriker, verdient als Dorfmetzger sein Geld und behandelt seinen Sohn mit großer KĂ€lte und Ablehnung.

Biagio leidet unter der klaustrophobischen Enge des Dorfes und seiner Moralvorstellungen, findet aber keinen Ausweg. Den einzigen Gegenentwurf zu den starren Erwartungshaltungen findet er in Vittorio, einer ĂŒberaus klischierten Ă€lteren Figur, die im Nachwort der Übersetzerin Christiane Burkhardt als trans beschrieben wird (der Text selbst bleibt hier ambivalent). Doch Vittorio löst vor allem Ekel in Biagio und den anderen Dorfbewohner*innen aus und ist regelmĂ€ĂŸiges Ziel gewalttĂ€tiger Übergriffe.

Ohne Berufsausbildung und Perspektiven schlĂ€gt sich Biagio durch, heiratet eine ehemalige MitschĂŒlerin, die er immer wieder demĂŒtigt und verliebt sich schlussendlich in einen KĂŒnstler aus einer benachbarten Stadt. An Erlösung und Aufbruch ist dennoch nicht zu denken.

Fiorinos schmaler Roman will eine Art Panorama der toxischen MĂ€nnlichkeit in all ihrer HĂ€rte zeichnen. Dabei macht er sich deren Perspektive und Sprache zunutze. Sein ErzĂ€hler reduziert viele Figuren auf Klischees, verwendet durchgĂ€ngig diskriminierende Begriffe und ist voller Wut und Ressentiments. Hier ließe sich argumentieren, wie es ĂŒbrigens auch die Übersetzerin in ihrem Nachwort tut, dass dies konsequenter Teil der Milieuzeichnung ist. Allerdings fehlt es mir dafĂŒr an einer filigraneren Charakterzeichnung.

Das fĂ€ngt schon bei Biagio an: Zum einen ist er der unsympathische ErzĂ€hler, der seine Frau verachtet und quĂ€lt und selbst zum Agenten der toxischen MĂ€nnlichkeit wird, unter der er leidet. Auf der anderen Seite erfahren die Leser*innen spĂ€ter im Text, dass er unter einer psychischen BeeintrĂ€chtigung leidet und nur ĂŒber begrenzte Intelligenz verfĂŒgt. Dieser vermeintliche Kniff des Autors ist ein Ärgernis, denn er wirkt wie eine konstruierte und problematische nachgeschobene ErklĂ€rung fĂŒr dessen Verhalten.

Zudem spiegelt sie sich auf textueller Ebene nicht wider. Biagio erweist sich bisweilen als sehr analytischer Beobachter, der komplexe ZusammenhĂ€nge mĂŒhelos zu erfassen weiß. An anderen Stellen wiederum wirkt er so klischeehaft empathie- und verstĂ€ndnislos, so eindimensional, dass er als ErzĂ€hler schwer ernst zu nehmen ist.

Die literarische Be- und Verarbeitung toxischer MĂ€nnlichkeit ist so wichtig wie diffizil, das zeigt schon ein Blick auf aktuelle Diskurse. K.O. scheitert schlussendlich daran, dass Fiorino sich nicht entscheiden kann, ob er die Milieuschilderungen fĂŒr sich stehen lassen und damit den Leser*innen erlauben will, ihre eigenen RĂŒckschlĂŒsse zu tĂ€tigen, oder das Geschilderte doch erklĂ€ren bzw. reflektieren möchte.

So offenbart er im letzten Drittel mit Hilfe einer halbwegs ĂŒberraschenden Wendung noch eine semi-plausible ErklĂ€rung fĂŒr das Verhalten des Vaters. Auch die im Klappentext angekĂŒndigte Coming-out-Geschichte findet sich in K.O. nicht, denn ein klassisches Coming-out sieht der Text gar nicht vor. Dennoch kann er als Ausgangspunkt fĂŒr Diskussionen ĂŒber die Fallstricke und die Wirkmacht toxischer MĂ€nnlichkeit und deren literarischer Verarbeitung dienen. (Tobi)

Mike Laufenberg & Ben Trott (Hrsg.): Queer Studies: SchlĂŒsseltexte (erschienen bei suhrkamp taschenbuch wissenschaft) (Opens in a new window)

Wer in den letzten Jahren MeinungsbeitrĂ€ge, populĂ€rwissenschaftliche Texte oder auch den ein oder anderen polemischen Essay ĂŒber die Queer Theory und/oder die Queer Studies gelesen hat, könnte das GefĂŒhl bekommen, sich einem Ă€ußerst vagen Forschungsfeld gegenĂŒber zu sehen. Denn ĂŒber die Queer Theory und die Queer Studies wird viel geschrieben, sie werden als Argumentationsgrundlagen und Herleitungen fĂŒr allerlei fadenscheinige Argumentationen missbraucht, eine wirkliche Auseinandersetzung findet außerhalb des wissenschaftlichen Kontexts und der Kunst jedoch noch zu selten statt.

Letzteres mag auch darin begrĂŒndet liegen, dass eine Vielzahl der prĂ€genden Texte der Queer Theory bisher nicht auf Deutsch erschienen sind. Die Veröffentlichung von Queer Studies: SchlĂŒsseltexte, herausgegeben von Mike Laufenberg und Ben Trott, kann daher als ein Meilenstein bezeichnet werden. An dessen Anfang steht sogleich eine - vielleicht die wichtigste - Erkenntnis: Die Queer Theory ist multiperspektivisch, besteht aus widerstreitenden AnsĂ€tzen, ist als Diskursfeld zu betrachten, das ĂŒber sich selbst hinausreicht.

Diese Erkenntnis mag zwar denjenigen, die sich ein wenig mit der Queer Theory und ihren Vertreter*innen beschĂ€ftigt haben, bekannt sein. JĂŒngste Veröffentlichungen wie etwa Chantalle El Hellous so irritierend kenntnisloser wie argumentativ unhaltbarer Essay Vom Queersexismus zur Emanzipation (2023) zeigen jedoch, dass die Queer Theory noch erstaunlich oft als singulĂ€rer Monolith betrachtet wird.

Dabei zeigt etwa der anti-social turn (manchmal auch anti-relational turn genannt) in den Queer Studies, dessen bekannteste Vertreter Leo Bersani und Lee Edelman sind, die HeterogenitĂ€t und Dynamik der Queer Studies und der Queer Theory: Edelman argumentierte in seinem 2004 veröffentlichten Buch No Future: Queer Theory and the Death Drive, aus dem sich auch ein Auszug in Queer Studies wiederfindet, unter anderem, dass die Zukunft der Bereich der heterosexuellen Prokreation, des „reproductive futurism“, sei und folglich fĂŒr Queerness nicht erreichbar bzw. relevant.

Queere Politiken, zum Beispiel der Einsatz fĂŒr die Privilegien Heterosexueller wie die Ehe oder die Möglichkeit, Kinder aufzuziehen, wĂŒrden schlussendlich nur zu einer Anpassung an die heteronormativen Strukturen fĂŒhren. Queerness und damit Homosexuelle (denn Edelman schreibt fast ausschließlich ĂŒber mĂ€nnliche Homosexuelle) sollte sich vielmehr auf ihre Rolle außerhalb der heteronormativen Mehrheitsgesellschaft fokussieren.

Eine Gegenposition hierzu nahmen JosĂ© Esteban Muñoz und Jack Halberstam ein, die ebenso in Laufenbergs und Trotts Band vertreten sind. Ihre queertheoretischen AusfĂŒhrungen und Konzepte sind stĂ€rker auf die Zukunft gerichtet. Muñoz betonte als Kubanomerikaner zudem die fehlende IntersektionalitĂ€t von Edelmans Überlegungen. Sich im Status quo am Rande der Gesellschaft einzurichten, wie Edelman es vorschlĂ€gt, ist laut Muñoz nur fĂŒr diejenigen möglich, die in einer vergleichsweise bequemen, wenig marginalisierten Situation leben.

An diesem Beispiel verdeutlicht sich, was die beiden Herausgeber in ihrem sehr aufschlussreichen EinfĂŒhrungstext formulieren: "[...] das Betreiben einer Genealogie der Queer Studies [ist] keineswegs ein geradliniges Vorhaben: Ihre UrsprĂŒnge sind letztlich weniger eindeutig, als oftmals angenommen wird [...] [.] Sie lĂ€sst sich nicht anhand eines gemeinsamen theoretischen Bezugsrahmens, einer gemeinsamen Methodologie und auch nicht anhand eines gemeinsamen Gegenstandes definieren; dennoch teilen jene frĂŒheren und neueren Arbeiten - mehr oder weniger - ein Interesse an Ă€hnlichen Problemstellungen."

Genau dies wird anhand der Textauswahl deutlich. Die versammelten BeitrĂ€ge behandeln kulturelle, soziale, geschlechtliche und sexuelle IdentitĂ€t, es gibt intersektionale AnsĂ€tze, so steht etwa Muñoz' wegweisender Desidentifizierungs-Begriff neben Robert McRuers AufĂŒhrungen zu (Zwangs-)AbilitĂ€t. Ann Cvetkovich, die sich seit Jahrzehnten mit queeren Traumata, Affekten und Emotionen auseinandersetzt, beleuchtet das Erbe des ACT-UP-Aktivismus der AIDS-Krise, wĂ€hrend Roderick A. Ferguson eine Queer-of-Color-Kritik entwirft.

Die Queer Theory ist in den USA entstanden, woher auch die meisten ihrer Vertreter*innen stammen. Laufenberg und Trott weiten jedoch den Blick. Ihr Sammelband beinhaltet auch Texte von Gayatri Gopinath zu queeren Diaspora und sĂŒdasiatischen öffentlichen Kulturen, Karma R. ChĂĄvez Blick auf queere Migrationsmanifeste und Petrus Lius Analyse von queerem Marxismus und Liberalismus in beiden Chinas.

NatĂŒrlich sind diese Beschreibungen nicht ansatzweise in der Lage, die Vielfalt der Texte, ihre OriginalitĂ€t, MultiperspektivitĂ€t - und ja, auch ihre Lust am Spiel mit Form und Inhalt, der Trennung zwischen privat und professionell - einzufangen. Umso stĂ€rker sei daher dieser Band empfohlen, umso grĂ¶ĂŸer der Dank an die beiden Herausgebenden. (Tobi)

Leonie Ott & Mazlum Nergiz: KOMA (erschienen im MÄRZ Verlag) (Opens in a new window)

“Was ist der Unterschied zwischen meiner Lust und meiner Verzweiflung?” - diese Frage prangt ĂŒber dem Klappentext von Leonie Otts (Bilder) und Mazlum Nergiz’ Graphic Novel KOMA, die auf Nergiz’ TheaterstĂŒck Coma basiert. Eine gewichtige Frage, denn Lust und Sex können auch Ventil fĂŒr und Ablenkung von Verzweiflung und Trauer sein, die Lust den Schmerz sublimieren oder betĂ€uben.

So auch im Fall des namenlosen ErzĂ€hlers. Der plötzliche Unfalltod seines Bruders reißt seine Welt aus den Fugen, die RealitĂ€t scheint ein StĂŒck weit verschoben. Kurzerhand trennt er sich von seinem Partner, zieht in eine Stadt in einem anderem Land und nimmt die Einladung eines Literaturfestivals ein. Dort soll er ĂŒber “autobiografische TĂ€uschungen” sprechen. Ein Thema, von dem er zunĂ€chst selbst nicht so genau weiß, was sich darunter verstehen lĂ€sst.

In der Stadt zieht es ihn zu den Darkrooms und Cruising-Orten, wo er Miller kennenlernt, mit dem er sein Bett, Drogen und ErzĂ€hlungen teilt. Leonie Ott fĂ€ngt all dies in faszinierenden Bildern ein. Mal grau und unheimlich, mal zĂ€rtlich warm. Ihre Figuren wirken oft wie verloren im Raum, sind zu groß oder zu klein fĂŒr ihre Umgebung, die Gesichter nur spĂ€rlich mit Details ausgestattet.

Dieser Stil passt perfekt zu Mazlum Nergiz’ Text, der in wenigen Worten tiefe Einblicke in das Innenleben des ErzĂ€hlers zulĂ€sst. Neben Trauer und Begehren, Exzess und ZĂ€rtlichkeit blitzt immer wieder ein wunderbar pointierter Humor hindurch. Was real und was Traum, was echt und was (autobiografische) TĂ€uschung ist, lĂ€sst sich immer weniger unterscheiden.

KOMA ist ein durch und durch queerer Text, voller expliziter und impliziter Verweise und Referenzen. Gleich zu Anfang steht ein Sappho-Zitat, spÀter geht es in einem Tagtraum unter anderem um HIV und AIDS , aber auch um Momente der Gemeinschaft in Darkrooms und an Cruising-Spots. Die Handlung entzieht sich einer klassischen Dramaturgie, spielt mit Erwartungen, um sie dann hinter sich zu lassen.

Das spiegelt sich auf der Ebene der Bilder wieder, die wie ein Bewusstseinsstrom ihrer ganz eigenen Logik folgen, die Farben und GrĂ¶ĂŸen wechseln, die Grenzen verschwimmen lassen, um dann wieder an SchĂ€rfe zu gewinnen. Sie sind oftmals von einer faszinierenden, teils bedrĂŒckenden Schönheit. Ott lĂ€sst aus Nicht-Orten wie den Cruising-Parks funkelnd-geheimnisvolle Oasen werden.

Mit KOMA haben Ott und Nergiz ein soghaftes Kunstwerk erschaffen, dessen Kraft in der Konsequenz liegt, mit der hier Bild und Text aufeinandertreffen, die Lesenden zugleich betören und verstören, ohne dabei alles preiszugeben. (Tobi)

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