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SCHOTTISCHE SCHAM

LITERATUR-KRITIK

„Wer tanzt, tut im Stehen, was jene mit lockerer Moral am liebsten im Liegen tun würden.“ - Julia R. Kelly: Das Geschenk des Meeres, S. 139

Alles tanzende Nutten (m/w/d) also – leichte Mädchen, schwere Jungs und Co. im schottischen Edinburgh? So könnte mensch meinen, sah die verstorbene Frau „Mam“ von Dorothy Aitken doch jede Gefühlsregung, jede Wallung, jede Zuckerstange als sündiges und ungebührliches Verhalten. Nach der Beisetzung ihrer eigenwilligen und manipulativen Mutter zieht Dorothy aus der Großstadt in das kleine Fischerdorf Skerry. Dort hat sie eine Stelle als Lehrerin angenommen und ist noch bester Dinge, als der Pfarrer sie vom Bahnhof eine Ortschaft weiter abholt und zu ihrem neuen Zuhause bringt.

Doch fällt es der distanzierten Städterin, die „kühl, fast spröde“ wirkt, schwer, im Ort Fuß zu fassen. Vor allem die anderen Frauen des Ortes, die im Laden von Mrs. Brown dem alltäglichen Klatsch und Tratsch (und manch einem mit Whisky versetzten Tee) frönen, beäugen „Miss Hochwohlgeboren“ skeptisch, ja argwöhnisch. Die Schüler*innen traktieren die scheinbar verklemmte Frau. Der Großteil der Männer hält sie für frigide. Bis auf den stillen und augenscheinlich gutmütigen Joseph, den sich jedoch bereits die junge Agnes gesichert zu haben meint. Schließlich ist er so etwas wie ihr Ziehbruder, waren die Mütter der beiden doch eng befreundet und geht Joseph doch auch nach dem Tod seiner Mutter Woche für Woche zum Essen (Opens in a new window) zu Agnes' Familie.

Was zunächst nach einem möglicherweise süffig-kitschigen Liebesdreieck im schottischen Wasser-Wind klingt, ist in Julia R. Kellys Debütroman Das Geschenk des Meeres, der in der Übersetzung von Claudia Feldmann soeben im mareverlag erschienen ist, eine weit komplexere, teils feinsinnige und in jedem Fall tiefgreifende, emotionale Geschichte. Auf zwei Zeitebenen – „Jetzt“ und „Damals“ – entspinnen sich neben der Erzählung einer verunmöglichten Liebe diverse menschliche Dramen, die irgendwie alle miteinander zusammenhängen und doch individuell sind.

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Beginnt der Roman mit einer Mischung aus Liebes-Drama und Mystery Story, entwickelt er sich schleichend zu einem fein gewebten und eng verwobenen Knoten von empfundener Schuld und Scham (Opens in a new window), Schweigen und stillen Lügen, Naturgewalt und Gewalt von Menschen (Opens in a new window), Geheimnissen und Gerüchten, Verlangen und Verlust, Verdrängung und Verarbeitung. Alles beginnt damit, dass im „Jetzt“ ein schwerer Sturm, der „einiges aus dem kleinen Fischerdorf, das sich an die Klippe klammert“ stiehlt, auch etwas bringt, „das Joseph finden wird, wenn er im wässrigen Licht des anbrechenden Tages zum Strand geht, um nach seinem Boot zu sehen. Ein Geschenk.“

Dieses Geschenk ist ein schwacher, namenloser, schweigsamer Junge, der nach und nach aufgepäppelt wird und vorübergehend bei der von ihrem Mann verlassenen Dorothy unterkommt. Wobei er sie nicht verlassen hat, „er kommt einfach nicht wieder zurück.“ Ebenso wenig tut dies ihr Sohn Moses, der „Damals“ eines Tages verschwindet, womöglich vom Meer verschluckt. Ist er, der mit einer „Glückshaube“ geboren wurde, in der Anderwelt bei den Wellenkindern? Dorothy glaubt, er käme zurück. Und siehe da: Das Geschenk des Meeres, der namenlose Junge, der nun bei ihr wohnt, scheint Moses wie aus dem Gesicht geschnitten, legt ähnliche Verhaltensweisen an den Tag und verlangt sogar, genau wie ihr verschollener Sohn, nach einem roten „Ball, Ball, Ball“.

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Lange Zeit ist ungewiss, ob wir es bei Geschenk des Meeres tatsächlich mit einem Roman zu tun haben, der uns ins Mystische führt (Opens in a new window). Sagen und Fabeln wie auch Gruselgeschichten, die sich um das Meer und Bewohner*innen, Geister und Vorkommnisse auf Inseln und in Fischerdörfern ranken, gibt es genügend. Hinzu kommt ein kleiner Krimi um die Frage, was wirklich mit Moses geschah. Verschollen oder untergegangen? Ein Unfall oder gar Mord? Dorothy ist aus verschiedenen Gründen in Skerry nicht wohlgelitten, ein, zwei Menschen dort sehen in ihr regelrecht eine Feindin. Liegt es da nicht nahe, der Frau, die die Männer nimmt und das Kind bekommt, ihr das Liebste zu nehmen?

Kelly schafft es zumeist sehr gut, ihre durchaus harte, im Verlauf trotz vieler schöner Worte (wenn der Stil auch an wenigen Stellen ins Melodramatische kippt) immer schwerer werdende Geschichte mit allerlei Verstrickungen und Nebenbeobachtungen dynamisch zu halten. Die Wechsel von „Jetzt“ und „Damals“ funktionieren häufig gut und sind von kleinen Cliffhangern und diversen Andeutungen geprägt, die alle erneut aufgenommen und aufgelöst werden. Dies als kleiner Spoiler: Ja, es gibt eine Katharsis.

Der Weg dahin ist allerdings nicht selten so unberechenbar wie das Meer, so hart wie der Winter in Skerry, aber auch so anziehend wie Frühjahr und Sommer an der Küste. Julia R. Kelly bringt diverse Motive auf, um uns die Lebenswelt (Opens in a new window) Skerrys und seiner Bewohner*innen zu Ende des 19. und Beginn des 20. Jahrhunderts zuzutragen. Ob nun die strenge Erziehung, die aus Dorothy diese reservierte, unsichere und teils lebensfremde Frau macht, die allerdings auch wenig unternimmt, aus ihrem Kokon auszubrechen. Häusliche Gewalt und Trunksucht sind Themen wie auch die ständige Bedrohung des Todes. Formen der Mutterschaft wie ihrer Unmöglichkeit und nicht zuletzt auch Rollenmodelle und Hierarchien spielen nicht unwesentliche Rollen im Roman.

KLEINER SPOILER: Es geschehen viele kleine Dinge im Roman, die zunächst beiläufig erscheinen, aber durchaus Auswirkungen auf das Leben der Menschen in Skerry haben, deren Ausmaß beziehungsweise Einfluss erst später deutlich werden. Manches davon wird über längere Zeit subtil angedeutet, wie beispielsweise die heimliche Homosexualität einer Figur. Eine Randnotiz, die vieles ins Rollen und Wanken bringt und vermutete Wahrheiten erschüttert. SPOILER ENDE.

Dass die Autorin es versteht, auch die kleinsten Nebencharaktere sehr bewusst zu porträtieren, ihnen für den Moment eine stilsichere Bedeutung zu geben, zeichnet sie und ihre Geschichte genauso aus wie ihre glaubhafte Beschreibung des Ortes und maritimen Lebens an und mit der See. Ebenso, dass der Aufbau von Figuren früh angelegt und oftmals in den richtigen Moment fortgesetzt und geprägt wird. Das Timing in dieser Geschichte voller (bewusst verursachter) Missverständnisse (Opens in a new window) passt.

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Der Roman über Menschen, die gönnen und neiden, und das Meer, das gibt und nimmt, ist in der Tat ein Pageturner, der einen wie eine gefährlich-schöne Strömung unweigerlich mit sich zieht. Ich habe es binnen dreier Sessions innerhalb einer Woche gelesen. (Zwischendurch gab es die LETZTE CHANCE für... ähm... von Robin Alexander, ein wenig Textarbeit, Kinobesuche zu SUPERMAN (Opens in a new window) und den SCHLÜMPFEN sowie natürlich die Generaldebatte im Bundestag und Begegnungen auf Sommerfesten.)

Wer ein leichtes, romantisches Sommerbuch erwartet, in das sich geschmeidig eintauchen lässt, dürfte enttäuscht werden. Das Geschenk des Meeres ist von einer überraschenden Tiefe, durchzogen von Schmerz, erfüllt von Liebe und letztlich eine Erzählung von der Macht, die Menschen und das Bild, das wir ihnen von uns zu zeichnen erlauben, über uns haben. Eine intensive, positive Überraschung.

AS

PS: „Ich pfeife auf deine Scham.“

PPS: „Mit diesem Geständnis hatte er nun wirklich nicht gerechnet.“

PPPS: „Nun weicht Jeanie vom Fenster zurück; sie will nicht, dass jemand sie sieht und denkt, sie schnüffele anderen hinterher.“

PPPPS: Das Geschenk des Meeres könnte ich mir sehr gut als vierteilige BBC-ZDF-Koproduktion vorstellen. Hätte eine Idee für Aufbau und Struktur, eine erzählende Figur, etc. Mensch darf sich melden.

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Eine Leseprobe findet ihr hier (Opens in a new window).

Julia R. Kelly: Das Geschenk des Meeres (Opens in a new window); Juli 2025; Aus dem Englischen von Claudia Feldmann; 352 Seiten; Hardcover, gebunden mit Schutzumschlag und Lesebändchen; ISBN: 978-3-86648-748-2; mareverlag; 25,00 €

Topic Belletristik & Literatur

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