BIAM 9/25
35 ist das neue 40: Neuer Ausschlusswert für Mehrgewichtige bei Lipödem-OPs

Ein Schlag in die Magengrube. So empfinden Mehrgewichtige die aktuell bekanntgewordenen neuen Empfehlungen für OPs bei Lipödem. Während Verbände, Politiker*innen und Andere diese noch im Detail auszuformulierenden Kriterien über den grünen Klee loben - “Beseitigung der Ungleichheit bei Frauen” - weisen Mehrgewichtige daraufhin, dass von einer Beseitigung nicht die Rede sein kann. Stattdessen fühlen sie sich in die Ecke gestellt. Benachteiligt. Denn Schlanke werden bei diesem Prozess, wenn er optimal verlaufen sollte, wiederum bevorzugt. Das ist eindeutig und nicht wegzudiskutieren. Nicht besser macht das alles, dass schon die alte Leitlinie empfahl, dass Mehrgewichtige doch bitte erstmal abnehmen sollten, bevor man die OP in Angriff nimmt. Zudem: Möchte man wirklich Ess-Gestörte oder Sportsüchtige heranzüchten, weil 6 Monate vor der OP das Gewicht - gilt generell - gehalten werden sollte? Aber schauen wir erstmal: Warum die 35? Und warum vorher die 40?
https://www.aerzteblatt.de/news/liposuktion-bei-lipodem-wird-fur-alle-stadien-zur-regelleistung-c0018f8b-a8b2-4bbd-a34d-763c1f44580a (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre)Wie ist man zu diesen Kriterien gekommen? Gab es unabhängige Studien, gab es da Forschungen zu? 2019 findet sich folgende Aussage zur damaligen schon recht umstrittenen Leitlinie: “Bislang fehlen hochwertige randomisierte Studien zu dem Verfahren bei Lipödem“, erläuterte der Präsident der Fachgesellschaft, Markus Stücker, gegenüber dem Deutschen Ärzteblatt. Die Deutsche Gesellschaft für Phlebologie begrüße daher, dass der G-BA eine entsprechende Studie aufsetze.”
https://www.aerzteblatt.de/news/betroffene-enttaeuscht-ueber-g-ba-entscheidung-zur-liposuktion-16a7bdb7-b08d-4ced-a174-e223d669bf59 (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre)Offenbar hat man beim Ärzteblatt nur beschränkt Bilder für dieses Sujet … Der Artikel oben stammt von 2019. Aber zurück in die Gegenwart: Wenn der G-BA eine eigene Studie aufsetzt, kann eine gewisse Befangenheit nicht von der Hand gewiesen werden. Es gibt übrigens keine offiziellen Zahlen, wie häufig Frauen mit einem BMI von 40 eine Operation von der Krankenkasse bewilligt bekommen haben. Zwar soll jetzt schon individuell entschieden werden, wenn Gefahr für Leib und Leben besteht, sowieso. Aber es drängt sich der Verdacht auf, dass Krankenkassen das eher nicht so häufig tun, wenn keine offiziellen Zahlen herausgegeben werden.
In der Aussprache im Bundestag äußerte sich der G-BA dann folgendermaßen: “Der G-BA rechtfertigte die jetzige Regelung mit dem Mangel an ausreichenden Daten zum Nutzen und Schaden der Liposuktion sowie zur konservativen Therapie. Mit den Ergebnissen der LIPLEG-Studie könne der G-BA bis Mitte 2025 einen Beschluss für alle drei Erkrankungsstadien fassen. Zur Häufigkeit der Erkrankung lägen keine gesicherten Erkenntnisse vor. Bei der Diagnose und Indikationsstellung sei künftig neben dem Body-Maß-Index (BMI) auch das Verhältnis Hüfte zu Taille (Hip-to-Waist) zu berücksichtigen.”
https://www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2023/kw25-pa-gesundheit-lipoedem-952340 (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre)LIP-was?
https://www.g-ba.de/studien/erprobung/lipleg-studie/ (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre)Diese Studie, die aktuell noch peer-reviewt wird. Eine Studie, die durch den G-BA finanziert wurde. Steht da was zum Thema BMI drin? Also hat man Frauen untersucht, die unterschiedliche BMI-Werte in allen drei Kategorien hatten? Vor der OP?
Nein. Hat man nicht.
Wie kommt man dann halt auf die Idee, dass der BMI ab 35 bzw. 40 so gefährlich ist, wenn ein Lipödem entfernt wird? Je tiefer man in diese Frage eindringt und je präziser man eine Antwort darauf sucht, desto mehr stellt man sich wirklich die Frage, ob die G-BA da einfach eine Lottomaschine gestartet hat und die Kugel mit der Zahl 35 als Gewinner kürte. Das mag jetzt Sarkasmus sein, das stimmt. Wenn man sich mit diesem Thema beschäftigt bleibt der nicht aus.
Aber es muss doch irgendwie zusammenzubringen sein. Hier, eine Studie.
https://journals.lww.com/plasreconsurg/abstract/2022/03000/a_10_year_retrospective_before_and_after_study_of.43.aspx (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre)Liposuction reduces the severity of symptoms and the need for conservative treatment in lipedema patients, especially if it is performed in patients with a body mass index below 35 kg/m2 at an early stage of the disease.
Zack, fertig? Perplexity und ChatGPT und LUCY haben da Anmerkungen.
Die Kohorte von 106 Patientinnen ist eher klein, aber nicht ungewöhnlich bei dieser Studienform — dennoch bleiben Limitationen in Bezug auf statistische Robustheit und Generalisierbarkeit bestehen.
Der Fehlen eines Kontrollarms, Retrospektivität und Selbstauskunft.
Insgesamt ist die Studie kein Beweis, sondern nur ein starker Hinweis—ihre Befunde müssen bestätigt werden durch größere, prospektive, kontrollierte Studien (z. B. die laufende LIPLEG‑RCT mit 450 Teilnehmerinnen, erwartete Publikation Ende 2025).
“Fehlende randomisierte Studienlage” halt. Deswegen macht man eine eigene Studie, die man selbst finanziert. Aber richtig interessant wird es ja, wenn man mal genauer nach diesen Meta- und Kohortenstudien sucht, die mit dem BMI 35 agieren.
https://www.medrxiv.org/content/10.1101/2021.06.15.21258988v1.full?utm_source=chatgpt.com (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre)Eine Meta-Analyse (u. a. Cureus 2024) zeigt durchschnittliche präoperative BMIs um 33 und viele Kohorten mit BMI bis ca. 35; deutlich höhere BMIs sind selten erwähnt.
Aha. Man operiert also eher bei Frauen mit dem BMI unter 35. Dann sind die Ergebnisse der Studien ja auch meistens vermutlich so, dass sie Erfahrungswerte bis zu diesem BMI wiederspiegeln. Denn Operationen jenseits der 35-Linie sind selten und selbst, wenn man Bob Andrews beauftragen würde - direkte Ergebnisse für schlechteres Abschneiden von Patientinnen mit BMI 40 aka BMI 35 sind Mangelware. Eher gesagt: Nicht zu finden. Man mutmaßt halt und verwendet den Konjunktiv. Wie so oft. Zudem: Bei der Recherche lande ich immer wieder mit dem BMI 35 direkt bei den Leitlinien … Da dreht sich was im Kreis. Vor allem, wenn wie hier der BMI gar nicht erwähnt wird und zudem noch andere Probleme bestehen …
https://europepmc.org/article/MED/37510461?utm_source=chatgpt.com (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre)Die Studie liefert Hinweise, dass Liposuktion die Lebensqualität verbessert. Allerdings sind durch das Design mehrere Einflussfaktoren unklar:
Follow-up-Verluste können die Ergebnisse verzerren.
Keine Informationen zu BMI: Daher unklar, ob Personen mit hohem BMI über- oder unterrepräsentiert sind.
Kurzfristiger Beobachtungszeitraum, subjektive Bewertung, keine Vergleichsgruppe – all dies mindert die Evidenzstärke.
Für belastbare Aussagen braucht es prospektive, kontrollierte Studien mit dokumentiertem BMI, Objektivdaten und hoher Rücklaufquote.
Studien übrigens. Mehrzahl. Nicht nur eine. Mehrere. Und da gibt es noch was: Eine BMI-Angabe alleine ist sinnlos. Ich zitiere aus dem Artikel weiter unten, “Lipödem: Mythen und Fakten” - und ja, natürlich reden sie von Adipositas und dass die therapiert werden müsste … Aber die Sätze davor sind schon bemerkenswert.
“Die Angabe eines Gewichtes ohne Berücksichtigung der Körpergröße erscheint uns völlig ungeeignet bei der Beurteilung der Frage, welche der beiden Erkrankungen – Adipositas oder Lipödem – im Vordergrund steht. Bei einer Patientin mit einer Körpergröße von 1,65 Meter und einem Gewicht von 120 kg läge ein BMI von über 44 kg/m2 vor. Oder anders formuliert: Bei einem Gewicht von 120 kg müsste die Patientin schon über 1,93 Meter groß sein, um noch einen BMI von 32 kg/m2 aufzuweisen – und so große Lipödempatientinnen sehen wir in unserer Praxis äußerst selten! Bei der Patientin mit 1,65 Meter und 120 kg (und damit einem BMI von über 44 kg/m2) steht aber unseres Erachtens nicht das Lipödem (und damit die Liposuktion) im Vordergrund, sondern die morbide Adipositas.” Hervorhebung durch mich.
Fazit: Es gibt keine tragenden wissenschaftlichen Studien, die nachweisen würden, dass eine Lipödem-OP mit einem BMI über 35 oder 40 riskanter wäre. Bei den meisten Studien wurde der BMI gar nicht als Wert mitgezählt und wenn er es wurde, wurde meistens an Frauen operiert, die unter 35 lagen. Es stimmt: Generell ist auch jetzt schon die OP eine individuelle Sache. Allerdings liegt kein Zahlenmaterial von abgelehnten Anträgen vor, die Frauen mit dem BMI-Wert 40 gestellt haben. Es deutet eher daraufhin, dass hier die Krankenkassen episodisch Anträge genehmigen, wenn Lebensgefahr in Verzug ist. Ob eine Abnahme vor der OP dann wirklich sinnvoll ist? Es gibt keine Evidenz dafür, dass eine Abnahme die Ergebnisse der OP irgendwie beeinflussen würde. Es gibt einfach keine kontrollierten Studien! Das haben wir doch schon öfters jetzt gelesen, oder? Richtig.
Sicherlich, bei der manuellen Therapie kann, könnte, unter Umständen - Ärzt*innen können das auch nicht sagen - da ein wenig Druck aus den Beinen genommen werden, wenn das Gewicht reduziert wird. Aber die Empfehlung der G-BA beruht nicht auf irgendwelchen ausgewerteten wissenschaftliche Studien - sie beruht auf “pragmatischen Entscheidungen”.
Übrigens, was die Leitlinien des G-BA betrifft gibt es an ihnen auch aus der Fachwelt Kritik: “Diese Leitlinien sind S1-Leitlinien und repräsentieren den niedrigsten Evidenzgrad überhaupt; d. h., es handelt sich bei diesen Leitlinien um eine Handlungsempfehlung von „ernannten“ Experten – auf der Basis eines informellen Konsenses und nicht aufgrund ausreichender Datenlage.” Siehe unten. Wenn man sich das obigen Zitat nochmal in den Kopf ruft - die randomisierte Studienlage ist kaum existent - und sich vergegenwärtigt, dass dies ja auch schon für die Empfehlungen von 2019 gilt …
https://www.thieme-connect.com/products/ejournals/pdf/10.1055/a-0805-5497.pdf?articleLanguage=de (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre)PPS: Ach, 2019 war das Jens Spahn? Aha.
https://www.aerzteblatt.de/news/betroffene-enttaeuscht-ueber-g-ba-entscheidung-zur-liposuktion-16a7bdb7-b08d-4ced-a174-e223d669bf59 (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre)