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»Der englische Intent«

»Wir übernehmen die Kinder nach dem Mittagessen. Sie sitzen mit den Lehrkräften in der menschenleeren Mensa. Es hat etwas Postapokalyptisches. Wir, das sind Tatjana, Achim, ich. Ich bin Betreuerin im zweiten Jahr und von uns dreien der Frischling. Die Dozentinnen sind jedes Jahr die gleichen. Sie wählen aus Gewohnheit die Tische am Notausgang. Dahinter liegt der Parkplatz fürs Kollegium. So können die Dozentinnen nach dem Mittagessen abdampfen. Mit den Kindern zu essen, das strengt sie an, mehr als der Unterricht davor. Wir spüren die Erleichterung, wenn wir den Saal betreten. Pensionierte Lehrerinnen, die das Geld gebrauchen können. Das Essen kommt von einem Bringdienst, der sonst nur Altenheime und Hospize beliefert. Er hat dem Träger so einen guten Preis gemacht, dass wir es den Kindern ohne jede Scham verschweigen. Die Schulküche für 80 Kinder anzuheizen, das wäre illusorisch, sagt der Träger, sagt Achim. Wir sind froh, nicht mitessen zu müssen. Auf dem Parkplatz schieben wir uns ein Meal Deal rein – von Waitrose oder Tesco, je nachdem.

Die Busse stehen vor der Schule. Busse sind unser Maß der Dinge. Der Träger denkt in ganzen Zahlen. Ein Bus, zwei Busse, drei Busse. Zwei Busse sind lohnenswerter als eineinhalb. Aber zwei Busse sind auch lohnenswerter als zweieinhalb. 20 Kindern abzusagen, ist profitabler, als einen halbvollen Bus durch die Kalkulation zu manövrieren. Ab Mitte Mai erwischt man im Büro nur noch die Bandansage: Man wäre überbucht. Es gäbe Wartelisten. Wegen Abspringern. Stimmt natürlich nicht. Die Warteliste ist ein Sammelbecken, das ab 40 Kindern kippt. Dann sind es drei Busse. Wenn wirklich einer abspringt, halb so schlimm. Sollbruch, sagt der Träger, sagt Achim. Wenn wir Betreuer:innen etwas diskutieren, ist das eine gängige Formulierung. Sagt der Träger, sagt Achim. Wenn man Achim fragt, wie lange er schon dabei ist, lügt er nicht. Er sagt nur nicht die Wahrheit. »Seit dem Krieg«, sagt er. »Welches Jahr haben wir?«, fragt er. »Den Euro gab es schon!« oder »Wann war 09/11?«. Die meisten Kinder werden einzeln angemeldet. Das verhindert großen Schwund. Der Träger trennt mit Absicht Geschwister oder Freunde. Ganz wichtig: Zwillinge. Bei der Abreise lernen wir die Eltern kennen. Sie erinnern sich an uns, sagen sie. Vom Infoabend. Niemand von uns war zum Infoabend da, aber Achim tut als ob. Zwanzigmal zwei Minuten Smalltalk pro Betreuer:in. Die Fragen der Eltern verraten uns mehr als das, was wir ihnen antworten. Die Englischkenntnisse der Kinder sind immer gut genug. Sie brauchen keine Sprachreise. Die Kinder kommen wegen der sozialen Komponente. Weil sie sozial zu auffällig oder sozial zu unauffällig sind.

Die Kinder kommen ohne Hackordnung. Das ist spannend anzuschauen. Weil sie einzeln angemeldet werden, bleibt alles das zu Hause, was ihnen sagt, wo sie sich einzuordnen haben. Sie winken bei der Abreise nicht nur ihren Eltern, sondern auch den etablierten Hierarchien. Auf den ersten Metern raus aus -hof und -heim und -hausen. Wir sitzen vorne, links vom Fahrer. Ich grinse ihn an, wegen der Stille, die entsteht, wenn 40 Kindern gleichzeitig dieser Gedanke kommt: Ab jetzt könnte ich 3 Wochen lang ein anderer sein. »Schichtern«, sagt er. Er ist Tscheche. »Alle schichtern. Alte auch«. Er grinst zurück, wegen der Stille, die die gleiche ist, wie wenn 40 Witwen auf ihrer Fahrt nach Karlsbad gleichzeitig dieser Gedanke kommt: Ab jetzt könnte ich 3 Tage lang eine andere sein. »Schüchtern«, sagt Achim. Er sagt es halblaut und betont das Ü. Der Fahrer hat es nicht gehört. Tut so. Aber ich sehe durch das Lenkrad, wie die Tachonadel zuckt. Es ist der Bus, der die Kinder verrät. Die Tatsache, dass sie sich selbst nicht auseinanderhalten können, ist, was den Verrat kaschiert. Dass sie sich nicht in dieser Ruhe betrachten können, die das Abflauen der leidlichen Hormone mit sich bringt. Wo im Bus sie sitzen, um welche Reihe sich die Jungen balgen, daran lesen wir ab, wie an einem Lackmustest, wer sie zu Hause sind und waren.

Jeder Bus hat drei Betreuer:innen. Dass die Zahl der Kinder nicht durch die Zahl der Betreuer:innen teilbar ist, ist Absicht. Irgendwas Pädagogisches. Tatjana und ich haben durchgesetzt, dass die Betreuer:innen aller Busse jeden Tag rotieren. Achim sagt, dass Rotation über den Träger laufen muss. Nur der Träger könne das entscheiden, sagt der Träger, sagt Achim. Aber dem Träger ist die Rotation egal. Das wissen alle. Achim ist der Grund, warum Tatjana unbedingt rotieren möchte. Das wissen auch alle. Mein Grund für Rotation ist noch archaischer: wie die Kinder Achim anhimmeln, das geht mir auf den Senkel. Sie sind zu körperlich mit ihm, zu nahbar, sie mögen ihn zu sehr, von Anfang an und bis zum Schluss, und sie jubeln, wenn er in ihren Bus rotiert. Die Jungen balgen sich mit ihm, die Mädchen gackern über jeden seiner Sprüche. Den Euro gab es schon. Gegacker. Dass sie gackern, nervt mich. Ich wünsche mir in jedem Bus einen Jungen, der über meine Sprüche gackert, und ein Mädchen, das mit mir balgen will. Ich wünsche mir ein Kind, das nicht so ein Junge ist und nicht so ein Mädchen und trotzdem beides kann und das mich zu sehr mag, von Anfang an und bis zum Schluss. Achim sagt: »Du bist nur neidisch.« Ich will ihm sagen, dass ich alles weiß. Wie alles? Alles, was mit Tatjana war. Dabei weiß ich gar nichts. Tatjana sagt entweder, dass überhaupt nichts war. Oder sie sagt, nichts in der Hand zu haben. Mehr ist aus ihr nicht rauszukriegen. Aber muss auch nicht. Manchmal sagt Tatjana, Achim hätte recht. Ich sei nur neidisch. Das nervt mich mehr, als wenn die Mädchen gackern.

Es ist Freitag. Zum Wochenende hin machen wir die Tagesfahrten. Zwei Stunden pro Strecke, aber vor Mitternacht zurück. Das ist die Ansage für die Gasteltern. Vor dem Wasserschloss purzeln die Kinder aus den Bussen. Osmotischer Druck durch eine kleine Öffnung. Es fällt immer eines in den Kies, aber es tut sich nichts und wenn es sich was tut, dann sagt es nichts. In dieser Phase sind sie jetzt. Pubertät, Kapitel 7: Alles-Scham. Ich mache den Kontrollgang, ob auch alle draußen sind. Es gibt immer einen aus Kapitel 2: Verpennt oder aus Kapitel 4: Witzig-sein-wollen. Als das letzte Mädchen aus dem Bus springt, springt sie gegen Achim. Wollte sie nicht. Vielleicht ist er ihr nur reingelaufen. Vielleicht wollte sie es doch. Weiß man nicht. Das Mädchen gackert und geniert sich. Aber Achim kontert und setzt noch einen drauf. Ich stehe in der Tür vom Bus und schaue zu. Er packt das Mädchen, so dass es lachend kreischt. Er legt es sich wie einen Kornsack über seine Schulter. Drei Meter trägt er es wie Beute, zeigt mit dem linken Arm den Bizeps. Dann stemmt er das Mädchen in den Kies, schubst es an der Schulter und geht geschäftig weiter. Das Mädchen ist knallrot geworden. Ich suche mit dem Blick Tatjana. Tatjana hat es nicht gesehen, oder sie hat, aber es schert sie nicht. Du bist nur neidisch, denke ich. »Nicht schichtern«, sagt der Fahrer. Er hat es auch gesehen. »Leider nein«, sage ich.«

Herzlich willkommen zur fünfzehnten Ausgabe von »Feine Auslese«.

F / A

#1 / Ich glaube ja noch immer …

»… , dass Zeitreisen gar nicht das Problem sind. Wissen wir doch längst, was wir zu tun hätten. 20 oder 30 Jahre Rolle rückwärts und dann Bitcoin kaufen. Na gut, erst mal googeln, wie Bitcoin kaufen eigentlich so geht. Na gut, erstmal warten, bis Google erfunden wird, und dann googeln, wie Bitcoin kaufen eigentlich so geht. Vorher Aktien kaufen. Ich würde vorschlagen: Windows, Apple, Google, Facebook, Tesla & BioNTech. Vielleicht Nvidia. Und wenn es nicht für Twitter-Kaufen reicht, dann umschichten auf Rheinmetall. Moral ist ohnehin nur was für Zeitpotatoes. Gern geschehen. Wobei ich euch nicht helfen kann: wie ihr eigentlich ein zweites Mal genau die Freunde findet, die euch heute noch so lieb und teuer sind. Oder wisst ihr so genau, wann und wo und wie ihr eigentlich den Martin kennengelernt habt? Eben. Geht ja nicht um haben oder nicht haben. Geht um haben und gehabt haben und in Zukunft weiterhaben werden. Allein die Vorstellung, da nochmal ganz von vorne anfangen zu müssen. Martin dritte Klasse und du auch dritte Klasse, wieder im Kinderkörper, aber Kenntnisstand von 2025. Und dann reinfuchsen von Null. Bei Bitcoin und bei Martin. Werde ich ja schon erschöpft von, wenn ich nur darüber nachdenke. Wirklich keinen Bock drauf. Ich bleibe lieber hier und heute.«

F / A

#2 / Toujours la tristesse

Auf der letzten Lesereise vor dem Sommer einen Umweg gefahren und für zwei Nächte die Eltern besucht. Am Tag nach der Rückkehr besorgt bei Mutter angerufen. Weil mir bei der Stippvisite in der Heimat aufgefallen ist, dass Vater neuerdings absurd viel Kaffee trinkt. Mutter lacht, druckst herum und rückt dann mit der Sprache raus: »Ich mach mir mal 'nen Kaffee« ist Vaters Codewort für »Der Junge nervt schon wieder«.

F / A

#3 / Feine Ablese

Angelesen: Das Ende ist beruhigend (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre) von Carla Kaspari

Mach mir ’ne Mische aus Utopie und Dystopie, und ich bin sofort verknallt. 100 Jahre in der Zukunft, Künstler:innendorf unter einer Glaskuppel, Blick auf verkohltes Italien, aber drinnen alles super. Die Idee: Die Künstler:innen in der Mustersiedlung sollen losgelöst vom Elend einer untergehenden Welt hoffnungspendende Kunst produzieren. Ich bin noch nicht so weit, aber gerade sind zwei neue in die Mega-WG gezogen, und man ahnt: Jetzt kracht’s. Ich persönlich würde mir wünschen, dass es noch etwas flotter wird in der Erzählweise. Aber was mich jetzt schon überzeugt, ist der gekonnte Wechsel der Erzählperspektive. Wer das sprachlich glaubhaft abbilden kann, der hat mich. Drei Gedanken noch: #1 Villa Massimo trifft Logan’s Run. #2 Kapitalismuskritik, ick hör dir trapsen. #3 Wer »Auf See« (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre) von Theresia Enzensberger mochte, könnte mit Carla Kaspari richtig glücklich werden.

Ausgelesen: Felix Austria (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre) von Christopher Wurmdobler

Ist ja kein Geheimnis, dass ich ein Problem damit habe, wenn Literatur mit queerer Thematik zu einer Art Leidbeschau verkommt. Deshalb sei der neue Roman von Christopher Wurmdobler, sein mittlerweile dritter, als leuchtendes Beispiel dafür genannt, dass es auch ohne das existenznegierende, fatalistische Drama möglich ist, eine schwule Liebesgeschichte zu erzählen. Lange vor dem Krieg verlässt der junge Felix seine Heimatstadt Wien, geht nach Amerika, heuert bei einem Zirkus an und verliebt sich. Das ist alles erfreulich gut gebaut. War nicht ohne Grund auf der Sommer-Leseliste vom ORF. Nur das Thema Identitätsfindung wird mir im Pressetext ein bisschen zu sehr betont. Denn was Wurmdobler hier gelungen ist, ist eben nicht den üblichen verkopft-intellektuellen Ansatz zu bemühen, sondern die Selbstfindung über das einfache Gemüt des Protagonisten laufen zu lassen. Selbstfindung, die sich über das Begehren erschließt, das Physische, über das Handeln. Das erzeugt eine postidentitäre Nahbarkeit, die ich sonst eher von lesbischen Autorinnen wie Franziska Gänsler kenne.

Abgelesen: Der Buchspazierer (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre) von Carsten Sebastian Henn

Der Literaturbetrieb ist ein Arroganzgebilde. Weich definierte Schichten, die dicht übereinander liegen. Beispiel: Kollegin M. macht lange Jahre Slam, schreibt einen Roman, verkauft 900 Exemplare und sagt mir zwei Jahre später, sie hasse Slam. Und im Zug treffe ich S. Der war in Klagenfurt. Sei lange Fan von M gewesen. Jetzt aber nicht mehr. Weil M. doch jetzt ein Sachbuch übers Kinderkriegen mache. Ich werde den Teufel tun, da mitzumischen. Einfach wäre es. Über den Buchspazierer abzuhaten zum Beispiel. Nur weil’s mir selber zu gefühlig ist. Aber weißt du was: Pageturner ist es trotzdem. Weil da ein sehr fleißiger Autor sehr sauber gearbeitet hat. Weil er weiß, was er kann und will, und weil er sich traut, zu schreiben, was er selber gerne lesen würde. Ist doch super so. Und auch wenn ich keiner davon bleiben werde, gönne ich ihm jeden seiner Leser. Wenn nur jede:r Zehnte nach dem Buchspazierer denkt: Geil, ich hab ein Buch gelesen, und sich an ein zweites traut, ein drittes oder viertes, dann ist die Welt noch nicht verloren.

F / A

#4 / Das Letzte von der Rolle

Die Idee von Anfang an,
War im besten Sinne Zwang.
Zwang dazu Roman zu schreiben,
Andersorts geschäftig bleiben.
Nicht daheim prokrastinieren,
Nicht den gleichen Weg spazieren,
Nicht am Eck ein Bierchen trinken,
Und im Bett nach Döner stinken.
Fremdes Lager, neue List:
Morgens Autor, nachts Tourist.
Selbstversuch: Alleine bleiben.
Aber eins kann ich nicht leiden,
Selbst ein Loner so wie ich,
Frisst die Tacos nicht für sich.
Geselligkeit ist ein Juwel.
Niemand ist ein Archipel.

F / A

#5 / Feiaahmnt.

Nach den letzten Ausgaben mehrfach gefragt worden, ob man sich auch anderweitig für meinen kleinen Rundbrief erkenntlich zeigen kann. Was mir wirklich immer Freude macht, ist mitzubekommen, dass es euch gefällt. Bedeutet mir auf Dauer einfach mehr als flüchtige sexuelle Gefälligkeiten. Aber danke für das Angebot. Auch gut ist der Erwerb meines Romans »Schlesenburg« (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre). Seit Neuestem sogar als Taschenbuch im gut sortierten Buchhandel. Und was immer geht: eine PayPal (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre)-Spende für den laufenden Schreiburlaub (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre). Kann aber sein, dass ich mir nur Scotch Eggs und Lucozade davon kaufe. Schreckliche Kombi. Müsst ihr selber wissen.

»Schlesenburg« | Taschenbuch | btb-Verlag (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre)
F / A

#6 / Nachklang

🔊 Klaus Nomi mit »Valentine’s Day« 🔊

https://open.spotify.com/track/0dM8QwXUJwGzlTouSG9eAF?si=VIFDMbnITPGZJchmY335aA (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre)

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