Die Mär von der Neutralität (Der Fall Brosius-Gersdorf)
Eine unwahrscheinliche Kandidatin lässt momentan den Blutdruck der Nation höherschlagen: Frauke Brosius-Gersdorf (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre). Top-Juristin, anerkannte Wissenschaftlerin und, wenn es nach der SPD geht, angehende Verfassungsrichterin.
Eine Richterwahl, die derart emotionalisiert?
Jene unter uns Nicht-Juristen, die sich aktiv an die letzte Verfassungsrichterinnenwahl erinnern, bewegen sich wohl im kaum messbaren Bereich! Üblicherweise läuft dergleichen nämlich erstens geräuschlos ab und zweitens ist die exakte Besetzung des Bundesverfassungsgerichts den meisten Menschen so unbekannt wie egal. Hauptsache, das Verfassungsgericht arbeitet und funktioniert im Sinne der Verfassung. Die Personalien dahinter? Üblicherweise nebensächlich.
Umso erstaunlicher das jetzige Medieninteresse, die jetzige Kontroverse und der momentane „Skandal“. Skandal schreibe ich bewusst in Anführungsstrichen, denn: Es gibt keinen.
https://bsky.app/profile/rastadler.bsky.social/post/3lu2lxcw2gs2h (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre)Obwohl, es gibt doch einen Skandal, aber einen anderen. Der wahre und in Wirklichkeit einzige Skandal im Fall Brosius-Gersdorf besteht darin, wie erfolgreich einige rechtspopulistische und rechtsradikale Meinungsmacher (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre) es mittlerweile schaffen, eine breite Öffentlichkeit mit ihrer Desinformation zu beeinflussen – bis in die Zivilgesellschaft, bis in bürgerliche Parteien hinein. Es handelt sich um eine sorgsam orchestrierte Internet-Hasskampagne (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre) mit dem Ziel, eine hoch angesehene Expertin zu diffamieren (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre) und zu diskreditieren:
https://www.spiegel.de/politik/deutschland/frauke-brosius-gersdorf-diese-akteure-stehen-hinter-der-netzkampagne-gegen-sie-a-3f98e55a-98b8-4cb0-b382-0d29d8642331 (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre)Diese Hasskampagne hat mit der verschobenen Richterwahl einen Teilerfolg zu verbuchen: Vorerst wurde Frau Brosius-Gersdorf nicht zur Verfassungsrichterin gewählt, sogar ein Rückzug scheint nicht ausgeschlossen (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre).
Das Grundgesetz ist nicht „neutral”
Der Vorwurf: Frauke Brosius-Gersdorf sei nicht „neutral“. Ein Vorwurf, der heutzutage vor allem aus taktischen Gründen erhoben wird von jenen, die absichtlich an den Fundamenten unseres Gemeinwesens sägen. Das Mäßigungsgebot (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre) für Beamte bedeutet nämlich keineswegs, dass Beamte mit Scheuklappen durchs Arbeitsleben gehen müssen, quasi als meinungslose, zugleich höchstfunktionale Staatsroboter. Im Gegenteil: Beamte können sich sehr wohl laut und deutlich gegen Ungleichbehandlungen positionieren, gegen Rassismus aussprechen und vor allem – denn hierum geht es – auf die Werte des Grundgesetzes bestehen und sich aktiv für diese einsetzen. Um die Polizei Berlin zu zitieren (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre), die neulich, ebenso wie Frau Brosius-Gersdorf jetzt, von rechter bis rechtsextremer Seite in der Kritik stand, aufgrund angeblich mangelnder Neutralität:
„Weil das Thema hier in den Kommentaren immer wieder auftaucht:
Das Hissen der Regenbogenflagge, bzw. Progress Pride Flag verstößt nicht gegen die Neutralitätspflicht des Staates, weil die Flagge kein parteipolitisches oder einseitig ideologisches Symbol ist, sondern ein Symbol unserer grundrechtlich geschützten Werte wie Vielfalt, Toleranz und Gleichberechtigung.”
Ganz ähnlich hat Frau Brosius-Gersdorf nichts getan oder gesagt, was auf irgendeine Weise „linksextrem” oder „linksradikal” wäre oder auf sonstige Weise Anlass gäbe zur Vermutung, sie stehe nicht mit beiden Beinen auf dem Boden des Grundgesetzes (und sei somit für das höchste deutsche Gericht ungeeignet). Im Gegenteil, und in eigenen Worten (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre):
„Ich vertrete absolut gemäßigte Positionen aus der Mitte unserer Gesellschaft.”
- Frauke Brosius-Gersdorf
Was wir momentan sehen, ist nichts anderes als das MAGA-Drehbuch: Den politischen Gegner so lange per Desinformation und durch Verschwörungserzählungen diffamieren, und diese Halbwahrheiten und diesen rufmörderischen Nonsens so lange und so laut in den sozialen Netzwerken amplifizieren, bis der Rufmord funktioniert – zumindest bei den Leichtgläubigen und bei jenen, denen die propagierten Lügen, Täuschungen und Vorurteile ins eigene Weltbild passen. Die Süddeutsche Zeitung kommentiert (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre):
„Offensichtlich will man alle politischen Kräfte außer der CDU zu „Linksradikalen“ erklären, um sich selbst als „bürgerliche Alternative“ anbieten zu können. Das klingt nach Maga-Drehbuch und lässt nicht Mäßigung erwarten, sondern andauernde und möglichst schrille Provokationen.”
Erfolgreiche Selbstverteidigung bei Lanz
Dass sich die Juraprofessorin Brosius-Gersdorf dagegen wehrt und sich selbst den gröbsten Unwahrheiten und übelsten Verdrehungen ihrer fachlichen Position stellt, ist mutig und verdient Anerkennung. Sie ließ sich von einem Markus Lanz, der im pseudo-naiven "Ich stelle doch nur Fragen 🥹👉👈"-Modus brav allerlei Wutbürger-Narrative hervorvorbrachte, weder irritieren noch verunsichern. Sie tat stattdessen das, wofür die SPD sie zum Verfassungsrichterinnenamt vorgeschlagen hat: Sie argumentiert, wägt ab, erklärt einem großen Publikum die aus ihrer Sicht überzeugendsten juristischen Argumente zu einem gesellschaftlichen Konfliktthema (sei es Abtreibung oder Impfpflicht), stets versehen mit dem Kommentar, man könne die Rechtslage auch anders wissenschaftlich deuten, denn es sei nun mal: kompliziert. Das ist eben keine roboterartige Neutralität, wie sie manche offenbar einfordern, sondern, im Gegenteil, ein gelebtes wissenschaftliches Denken und Argumentieren an den größten Problemen unserer Zeit. Bei Markus Lanz (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre) hat sich also die Hoffnung all jener zerschlagen, Frau Prof. Brosius-Gersdorf würde sich als fachlich oder sachlich als ungeeignet offenbaren. In Wahrheit hat sie gezeigt, dass sie fachwissenschaftliche Überlegung ebenso souverän beherrscht wie die Kommunikation derselben nach außen.
Das Problem heißt Antiintellektualismus
Viele Aspekte der jetzigen Kampagne erinnern mich an die Pandemie und die damalige Tendenz, die Arbeit von Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen auf unlautere Art und Weise schlecht- und kleinzureden:
https://bsky.app/profile/janskudlarek.bsky.social/post/3lu2x2nf4qk2e (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre)Nennen wir das Problem beim Namen: Antiintellektualismus (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre). Wikipedia schreibt dazu:
„Antiintellektualismus bezeichnet die ideologische Ablehnung Intellektueller und gut gebildeter Personen. Diese Diskriminierungsform tritt besonders in extremen politischen Ideologien aber auch in modernen Gesellschaften in abgeschwächter Form auf.”
Gegen die Gleichsetzung von Wissen und Ignoranz sprach sich schon vor Jahrzehnten der Autor Isaac Asimov eindrücklich aus:

Die vorliegende Kampagne gegen eine deutsche Top-Juristin ist nichts anderes als ein weiterer Versuch der Trumpisierung (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre) deutscher Politik. Den Diskurs dominieren sollen nicht jene, die sich mit dem besten Argument durchsetzen, nicht die Gemäßigten, nicht die Differenzierer; den Diskurs dominieren sollen im Trumpismus jene, die am lautesten schreien, die am meisten verdrehen, die am besten diffamieren.
Rechtspopulisten, Rechtsradikale und Antidemokraten versuchen abermals, unsere demokratischen Institutionen zu schwächen, um so den Weg zu bereiten für ihre rechtspopulistische, rechtsradikale und antidemokratische Politik. Es liegt an uns allen, das zu verhindern.
Es liegt an allen Politikern und Politikerinnen der Mitte, an allen Bürgerlichen, an allen Progressiven, an SPD und CDU, ebenso an den Grünen und den Linken – es liegt kurzum an wirklich allen Demokraten, dies nicht zuzulassen. Es geht – man muss leider sagen: mal wieder – um nicht weniger als die Verteidigung unserer Demokratie und unserer freien Gesellschaft.

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https://steady.page/de/janskudlarek/posts/1f0890ae-1491-4e6c-a459-4eb7f9dcecf8 (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre)