Juni // Judith Butler
Ich habe bereits mehrfach erwähnt, dass dieser Newsletter, der die Auswahl der Frauenporträts begleitet, die ich jährlich im Follow Women Kalender (Si apre in una nuova finestra) präsentiere, kein Versuch ist, eine kurze Biografie zu skizzieren oder ein Porträt näherzubringen. Es ist vielmehr eine Begegnung, die ich als eine innere Berührung verstehe. Mich interessiert das Persönliche, vielleicht sogar das Intime in den Geschichten von Frauen, in den Geschichten von Menschen.
Deshalb ist der Ausgangspunkt jedes Treffens – sei es durch Literatur, Kunst oder Erfahrung – fast immer eben diese innere Bewegung: der Moment, in dem mich die Geschichte oder das Schaffen einer bestimmten Frau impulsiv, konfrontativ berührt hat, meine Perspektive erweitert oder verändert hat. Und das nenne ich Begegnung, auch wenn diese Person physisch einen Kontinent, eine Sprache oder gar eine Epoche entfernt ist. Das fasziniert mich – und ich kann mir nicht vorstellen, anders zu leben. Deshalb fühlt sich das Schreiben dieses Newsletters seit zwei Jahren jedes Mal an, als würde ich zum ersten Mal Rollschuhe anziehen - voller erster Aufregung.
Ich sage es ganz offen: Ich hatte das Glück, während meiner Oberstufenzeit eine Kunstschule zu besuchen – in einer Phase des Wandels, wie sie Polen zur Jahrtausendwende durchlebte. Und es ging nicht nur um diesen Moment des Wandels, sondern auch um das Glück, einer Gruppe von offenen Menschen anzugehören, einer pädagogischen Nische, die Raum für einen damals so einzigartigen Aspekt bot: Diversität und Akzeptanz. Ich verwende hier bewusst nicht das Wort Toleranz, denn es erscheint mir zu eng, unvollständig, vielleicht sogar an Bedingungen geknüpft.
Mein Jahrgang war eine fröhliche Truppe junger Menschen auf der Suche nach sich selbst und Ausdrucksformen für ihr Wesen. Auf dem Weg der Performance experimentierten wir mit Körpern und Konventionen. Das große Schultoilettenbad diente uns als Küche, Beauty-Salon, Tattoo-Studio und Beichtstuhl...Auf unseren Köpfen und Körpern war alles möglich, und niemand fragte uns, warum oder wer wir sind. Wir spielten ein Spiel unbegrenzter Vorstellungskraft, ohne jemandem gefallen zu müssen – wir performten für uns selbst und füreinander.
Bis heute betrachte ich dieses Erlebnis einer nicht-normativen Freiheit außerhalb von Tradition und Konventionen – neben der Mutterschaft, die sich stark in einer Rolle verankert und daher turbulent erwies – als mein prägendstes.
Einer meiner Schulfreund war damals: Gabriel, der mit einem Personalausweis auf den Namen Gabrysia (also Gabriele) in die Schule kam und sein Diplom als Gabriel verteidigte – wir alle feierten diesen rechtlichen Geschlechtswechsel wirklich ausgelassen.
So hatte ich schon früh Gelegenheit, das hautnah zu erleben, worüber Judith Butler seit Jahrzehnten schreibt: die Verstrickung in das Geschlecht. Butler ist Professorin für Vergleichende Literaturwissenschaft und Rhetorik an der University of California in Berkeley. Sie beschäftigt sich mit Machtstrukturen, Sexualität, Identität und Geschlecht. Ihr inzwischen ikonisches Buch Das Unbehagen der Geschlechter (Gender Trouble) aus den 1990er Jahren begründete die Queer-Theorie und prägte den Begriff der Performativität des Geschlechts.
Butler wurde vor allem durch ihre Studien zum Gender-Begriff bekannt – also zur kulturellen Konstruktion von Geschlecht – sowie zu dessen Verhältnis zum biologischen Geschlecht. In zahlreichen Interviews, Artikeln, Büchern, Essays und Vorträgen stellt sie die Frage, wie sich diese Begriffe von gesellschaftlichen Normen und Zuschreibungen befreien lassen.
Mit voller Überzeugung sage ich: Ihre Bücher muss man gelesen haben – sie schaffen Raum im Kopf, in der Seele und im Körper für etwas Neues. Und das ist immer ein guter Anfang.
Diese gedankliche Lupe, die Vergangenheit und Gegenwart umfasst und durch die Begegnung mit Judith Butler in mir aktiviert wurde, zeigt mir, wie sich Gesellschaften innerhalb weniger Jahrzehnte organisieren und reorganisieren. Und wie inspirierend der Diskurs im Feld von Geschlecht und Körper ist – durch den unsere Erfahrung fließt. Ich erlebe das heute besonders intensiv als Erwachsene, denn in meiner Jugend wurden Begriffe wie Gender nicht verwendet, und leider beschäftigte sich auch niemand mit geschlechtlicher Nicht-Normativität. Diese Themen wurden nicht diskutiert – sie wurden gelebt: in konservativen Milieus jener Zeit im Verborgenen und stigmatisiert, in offenen Kreisen neugierig und selbstverständlich. Vielleicht idealisiere ich. Vielleicht würde jemand anderes dieselbe Geschichte ganz anders erzählen. Möglich.
Sicher ist: Wir haben gesellschaftlich und kulturell große Veränderungen vollzogen, auch wenn wir weiterhin über politischen und sozialen Rückschritt stolpern – nur um dann wieder einen Meilenstein zu setzen.
„Mein Kampf um Gender ist im eigentlichen Sinne ein Kampf, der mit einem geduldigen Bemühen verbunden ist, das eine Ungeduld der Freiheit erzeugt. Aus diesem Grund kann die Performativität des Geschlechts als eine langsame und schwierige Praxis verstanden werden, neue Möglichkeiten der Wahrnehmung von Gender im historischen Kontext zu schaffen – im Angesicht sehr einflussreicher Normen, die unser Verständnis als menschliche Wesen einschränken.
Diese Kämpfe sind komplex, von Natur aus politisch, denn sie drängen auf neue Formen der Anerkennung.
Tatsächlich ziehen sich – nach meiner Erfahrung mit dem Feminismus – diese politischen Kämpfe mindestens durch das letzte Jahrhundert. Ich habe nur eine radikale Sprache anzubieten für diese Auseinandersetzungen.“
– Judith Butler
