Der deutsche, deutsche Sommer
Das ewige 1977/Götter und Menschen/The Waterfront/Was bisher geschah Nahost/Rezepte

Am Taxistand der Nachbarschaft sehe ich fast jeden Tag einen Fahrer, mit dem ich schon viel unterwegs war. Er ist etwas älter als ich, hat im Iran Mathematik und Ingenieurwissenschaft studiert, musste dann aber fliehen. Hier wurden seine Abschlüsse nicht anerkannt und seitdem fährt er Taxi. In seinem Wagen gibt es nur ein Thema: Seine beiden Kinder. Der Sohn ist Dozent an einer Hochschule, die Tochter hessische Finanzbeamtin. Beide sind verheiratet und haben schon Kinder, die zur Schule gehen. Gemeinsames Hobby der Familie ist das Schachspiel. Solche Geschichten von Exil und neuer Heimat und wie viel die Bundesrepublik Menschen wie ihm verdankt, hört man in den Berichten über den Iran kaum. Auch nichts von den wilden Hoffnungen, die – bei aller Vorsicht – in der iranischen Exilgemeinde aufflackern dürften. In der sogenannten Migrationsdebatte kommen sie nicht vor, die Migranten.
Der deutsche Blick auf die Welt, oder ausgewählte Teile von ihr, wird nach Belieben an- und wieder ausgeknipst. In manchen verwunschenen Ecken der deutschen Provinz ist auf ewig 1977, herrschen Gartenzwerge, D-Mark-Nostalgie und Autobegeisterung und die Welt jenseits des Zauns ist das Ausland mit den Ausländern. Dann wiederum fährt man am Flughafen Frankfurt vorbei und erkennt, dass die ganze Menschheit in permanenter Bewegung ist, schon immer war, nur eben jetzt mit Flugzeugen statt Füßen.
Besonders empörend ist die selektive deutsche Amnesie bezüglich Afghanistan. Zu Beginn des Jahrhunderts waren die Experten für jene Weltgegend gar nicht mehr zu zählen. Zig Journalisten und Politiker flogen zu den Stützpunkten der Bundeswehr. Es gab spektakuläre Fotos, als ginge nun die Weltgeschichte erst so richtig los! Viele Soldaten ließen ihr Leben. Die Freiheit der afghanischen Frauen war eine deutsche cause célèbre. Tempi passati. Hier kann man übrigens dem afghanischen Frauenverein (Si apre in una nuova finestra), den einst Roger Willemsen gründete, etwas spenden.
Heute wird Afghane und Aghanin in der Boulevardpresse mit drohendem und klagendem Unterton verwendet, als sei Zuwanderung von dort eine Last oder gar eine Gefahr. Dabei bedroht der islamistische Terror, wie ihn die Taliban verkörpern, die Menschen dort wie hier gleichermaßen.
Zum Glück gibt es noch Projekte wie den von Niklas Maak ersonnenen Frankfurt Prototype (Si apre in una nuova finestra), der der afghanischen Künstlergemeinschaft im Exil eine Heimat bietet. Aber das Projekt hatte erhebliche Widerstände zu überwinden, weil auch jene vor der AfD eingeschüchtert sind, die dagegen halten sollten.
Zum Gesamtbild des deutschen Rückzugs passt auch die nun verabschiedete Aussetzung des Familiennachzugs (Si apre in una nuova finestra) für subsidiär Schutzberechtigte. Damit gewinnt man keine Wähler der Rechten zurück, verschärft aber die Lage jener, die ohnehin schon zu den Verlieren der jetzigen, brutalen Weltordnung zählen. Weitsichtig ist das nicht. Während das Goethe-Institut sich in der ganzen Welt müht, Menschen zur Zuwanderung nach Deutschland zu überreden, hält man jene davon ab, die beste Voraussetzungen für ein gelingendes Leben in Deutschland hätten, weil schon jemand von ihrer Familie hier ist. Und das in einem Land mit so wenigen Kindern.
Zur Gestaltung der Zukunft gehört nicht nur die Aufnahme neuer Schulden, sondern auch die Begleitung und Ermöglichung von Migration. Und zur Not, die Stärkung der Gemeinden durch Steuererhöhungen. In unserem Wohnort wäre es zB eine gute Geschäftsidee, private Geldspeicher im Dagobert-Duck-Style zu verkaufen – so viel privates Vermögen wohnt hier. Die Gemeinde selbst hingegen kommt kaum über die Runden.
Eine Gesellschaft, in der so wenige so viel Geld besitzen, während die öffentlichen Institutionen, die Wohlstand und Wachstum erst ermöglichen, also Schulen, Verkehrswege, Rechtssicherheit etc., strenge fiskalische Diät halten müssen, kommt nicht weit.
Derzeit gewinnt das von Putin unterstützte politische Lager doppelt: Durch Krieg und Terror werden Menschen vertrieben und in den Ländern, die diese Menschen aufnehmen, werden rechte Parteien protegiert, denen das auch wieder nutzt.
Sowohl in Frankreich als auch in Deutschland regiert eine Koalition, die gewählt wurde, um der radikalen Rechten und ihrem Patron im Kreml dezidiert entgegenzutreten. Das ist hier wie dort das politische Mandat und der Wunsch der Mehrheit. Friedrich Merz hat seine Kanzlerschaft auf dem neogaullistischen Versprechen gegründet, die Stimme des freien Europas hörbarer vorzutragen. Ich bin gespannt.
Die SPD feierte ihren Parteitag als Familienfest der etwas anderen Art. Es war gut, dass Martin Schulz dort an die Vereinigten Staaten von Europa erinnerte, die vor hundert Jahren schon mal Programm waren. Mehr Internationalismus ist dringend nötig und den hätte ich mir auch auf dem Parteitag gewünscht. Warum kam Raphaël Glucksmann nicht zum Grußwort dazu?
Alles ändert sich – schaut auf das Klima, auf die KI und auf die zwei wichtigsten Alliierten von 1945, die beide jetzt die Ideen der extremen Rechte feiern, nicht bekämpfen – alles, nur die deutschen Parteien nicht und ihre Vorstellung von den Menschen.
Als die Altphilologin Sarah Iles Johnston im Hörsaal über die Mythen der Griechen sprach, waren zwar immer eine Menge Studierender anwesend, aber laut und etwas unkonzentriert waren sie eben auch. Also hat sie sich etwas überlegt: Sie inszenierte den Beginn jeder Vorlesung, trat im Umhang auf und fing an, jeden Mythos mit ihren eigenen, zeitgemäßen Worten neu zu erzählen. Plötzlich war ihr die Aufmerksamkeit der jungen Leute an der Uni in Ohio sicher. Nach und nach hat sie einhundertvierzig Mythen neu geschrieben, indem sie etwa historische Angaben über die damaligen Lebensumstände und die Lebenswelten der Frauen eingefügt hat.

Das Ergebnis ist ein besonderes Buch, in dem man sich mit bekannten Stoffen noch einmal ganz neu auseinandersetzt. Regt zum Nachdenken an und auch dazu, die Realität aus der Perspektive der Antike zu betrachten. Der Band ist stabil und sehr schön illustriert und zwar von Tristan Johnston, dem Sohn der Autorin. Ich nehme Götter und Menschen mit, wenn ich in die Ferien fahre.
In der berühmten Dokumentation von Martin Scorsese (Si apre in una nuova finestra) über die Geschichte des amerikanischen Films singt er das Loblied der C-Movies, also jener Produktionen, die für die Hollywood-Studios besonders billig waren. Denn gerade dort, wo die Bosse nicht so genau hinsahen, weil es nicht um viel Geld ging, konnten Kreative moderne Elemente und Zeitkritik hineinschmuggeln.
In diesem Sinne ist auch die Serie The Waterfront eine erhellende,ja brisante Serie. Sie kommt ohne große Stars aus und die Qualität der Ausstattung, sowie der Bilder ist nur so mittel. Dafür wird der Zustand der USA unter Trump hier schonungsloser dargestellt als in jeder Reportage. Traditioneller Handel und gutes Handwerk wurden fröhlich aufgegeben, die ganze Wirtschaft hängt am Drogenhandel. Jeder nimmt irgendwas. Der Sheriff selbst ist der größte Schurke und der durchschnittliche Mann hangelt sich von Drink zu Drink durch den Tag. Die Ladies sind allerdings auch nicht ohne. Schon wirken Pete Hegseth oder Marjorie Taylor Greene gar nicht mehr so außergewöhnlich.
Ich musste allerdings auch oft laut lachen, allzu ernst nimmt sich die Serie nämlich nicht.
https://www.netflix.com/title/81745063 (Si apre in una nuova finestra)Manchmal scheinen die Konflikte im Nahen Osten so verwickelt und unlösbar, dass man alle Hoffnung fahren lassen möchte. Viele schalten auch um oder winken ab, so lange wird von dort schon berichtet und immer schwerer fällt es, durchzublicken. Joachim Telgenbüscher und ich haben uns dennoch daran gemacht, einige Fäden in die Finger zu nehmen und zu verfolgen. Beide oder eher all die vielen Parteien ernst zu nehmen und nicht nur die finsteren, sondern auch die Hoffnung stiftenden Momente zu beleuchten.
Hier geht es zu unserem Mehrteiler über den Nahostkonflikt, von der Dreyfus-Affäre bis zum Abkommen von Oslo und Washington.
https://wondery.com/shows/was-bisher-geschah/episode/15099-nahostkonflikt-14-ein-land-zwei-versprechen/ (Si apre in una nuova finestra)Vor einigen Tagen suchte ich nach einem festlichen Sommergericht und verließ den Wochenmarkt mit einer recht großen Lammkeule – ohne genau zu wissen, warum. Meine Großeltern veranstalteten manchmal ein Sommerfest, zu dem ein ganzer Hammel im Garten über einer improvisierten Glutgrube am Spieß gegart wurde - vielleicht kommt es daher. Lammkeule zu Weihnachten finde ich seltsam, Gänsebraten an Himmelfahrt aber irgendwie auch. Seltsam, wie Erfahrungen, Erinnerungen und die Jahreszeiten uns so prägen, dass wir in Sekundenschnelle wissen, was einzukaufen ist, ohne es doch so richtig zu wissen.
Aber offenbar bin ich nicht der einzige, dem es so geht.
https://observer.co.uk/style/food/article/nigel-slater-kitchen-diary-roast-shoulder-of-lamb-never-ending-joy (Si apre in una nuova finestra)Etwas Neues wagen ist allerdings auch immer gut, so hat mein Landsmann aus dem Saarland Herr Grün im Caprese die Tomate durch karamellisierte Nektarine ersetzt, muss ich mal ausprobieren.
https://www.herrgruenkocht.de/in-butter-geschmorte-leicht-karamellisierte-nektarine-mit-zwiebelgranulat-und-estragon-auf-mozzarella/ (Si apre in una nuova finestra)Kopf hoch,
ihr
Nils Minkmar
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