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NEUNERs #007

Es sind die Wochen der Hauptstadtjournalist*innen. Wahlkampf, und dann noch so einer. Jeder „Move“ (so nennt man jetzt gemeinhin das, was Merz getan hat) der Politik, jede Taktik wird in Echtzeit kommentiert und interpretiert. Die Blase platzt schier vor Erregung. Vor allem hört man sehr viel Konjunktiv, Vermutungen, Ratlosigkeit.

Je mehr man hört, sieht und liest, desto seltener werden darunter die Höhepunkte und wirkliche Perspektivenwechsel. Vom „Besserwisser-Kabinett“ schreibt Politik & Kommunikation (Opens in a new window). Medienkritik. Gähn. Dennoch.

„Ich glaube, wir sind da einfach mit unserem Personal nicht optimal aufgestellt“, sagt Markus Feldenkirchen (Spiegel). Dieser Seitenhieb gilt den derzeitigen Politiker*innen aus der ersten Reihe. Er sagt das in der aktuellen Folge (Opens in a new window) des „ApoFika Presseclub“, die mit Mariam Lau (Zeit) und Hajo Schumacher (div.) immerhin beide Ebenen beinhaltet: den Eintagsfliegenhorizont, die genüßliche Psychologisierung der Trippelschritte und Inszenierungen in Berlin Mitte ebenso wie das große Ganze, den Horizont weltumspannender Veränderungen (wenn das auch nur sehr kurz, da sehr anstrengend und deutlich weniger trittsicher).

Wenn der Journalismus den Politikbetrieb kritisiert, ein „Weiter-so“ reiche nicht, wie steht es dann um ihn selbst? Dazu gibt es zig Panels (Opens in a new window) und Publikationen (Opens in a new window). Dennoch eine persönliche Sicht: Viele Formate gleichen derzeit einem Livekommentar zum Fußballspiel. Meist läuft parallel noch irgendeine Sitzung, die wieder „alles“ verändert. Wenn man mal falsch liegt, ist das halb so schlimm. Man ist ja eigentlich eh immer schon zu spät dran: die Podcastfolge von jetzt ist schon während der Aufnahme die von gestern. Das politische Tagesgeschehen überholt sich selbst.

Aber: muss man da überhaupt mithalten? Bringt das denn was? Wer vor allem auf zeitsynchrone Einschätzungen setzt, kann jenseits von Tickerdiensten kaum noch nicht mehr mithalten. Natürlich sind Journalist*innen wie Politiker*innen Akteure in einem System. Sie spielen ihre Rolle. Mal gut, mal weniger gut. In seltenen Fällen irrlichternd (Opens in a new window). Die Froschperspektive gehört dazu, Tageskommentare sind notwendig. Und weshalb sollten gerade Journalist*innen den Überblick halten, der uns allen fehlt?

Besonders spannend und relevant wird es aber erst dann, wenn eine Einordnung vor dem Hintergrund unserer Zeit gelingt. Das, was passiert, vom Erfolg der Populisten, der Erosion ehemaliger Volksparteien und der Institutionen, über die Dynamisierung und Manipulation von Kommunikation bis zur„Rückkehr“ der Geopolitik und Ausblendung des Klimawandels, sind Teile, Folgen und Ursachen massiver Veränderungen. Es sind Zeichen einer Zeit. Sie (und wir) sind Kinder unserer Zeit. Auf dieser Ebene muss mehr kommen, finde ich. Das ist bislang zu wenig und zu dürftig. Weg von der Soap Opera.

Vielleicht gilt für den Journalismus dasselbe wie bei uns Durschnittsleuten und unserem Dopaminspiegel:

„When you get locked in your phone. And you are just watching bits and peaces. Remember. You are destroying your mind. Watch something that has followed through. Watch something that has has an arch.“

Marc Maron, WTF (Opens in a new window) mit Demi Moore

Und was erst los ist, wenn hinter der laufenden Befeuerung mit Aktionen, markigen Worten und permanenter Handlungssimulation eine unerbittliche Agenda-Setting-Strategie steckt: „Die Opposition sind die Medien“, sagte Trump-Berater Steve Bannon 2019. Sie seien „faul“ und könnten „immer nur eine Sache verarbeiten“. Alles was man tun müsse, ist „die Zone zu fluten“. Darüber spricht (Opens in a new window) New York Times Kolumnist Ezra Klein aktuell in Tiktok.

Wenn Journalismus sich auf die oben genannte Rolle zurückzieht, wird das umso schneller gehen. Die Kanäle verstopfen.

The Richest Man Who Ever Lived?

In der Alten Pinakothek (Opens in a new window) in München ist bis März 2026 die Sammlungspräsentation „Alte Meister in Bewegung“ zu sehen. Darunter ein faszinierendes Bild. Jakob Fugger der Reiche (Opens in a new window) von Albrecht Dürer, 1518. Heute würde er wahrscheinlich Hannes Roether (Opens in a new window) tragen.

Im Jahr 2015 erschien eine Biographie mit dem Titel „The Richest Man Who Ever Lived: The Life and Times of Jacob Fugger“ (Opens in a new window) von Greg Steinmetz (2016 auch in deutscher Übersetzung (Opens in a new window)). Sein erster Platz im Ranking war kein Wunder, denn auf das 21. Jahrhundert umgerechnet wird Fuggers Vermögen auf 400 Milliarden Dollar geschätzt und erschien somit vor zehn Jahren noch unerreichbar. Jeff Besos hatte 2016 gerade mal 45 Milliarden Dollar, Bill Gates lag bei 75 Milliarden Dollar. Heute steht Elon Musk bei 404 Milliarden Dollar, gefolgt von Marc Zuckerberg (238) und Jeff Besos (235). Jakob Fugger ist abgesetzt.

Im Zuge seiner jüngsten Buchveröffentlichung (Opens in a new window) wundert sich Bill Gates: „I always thought of Silicon Valley as being left of center. (…) The fact that now there is a significant right of-center group is a surprise to me.“ (New York Times, 04.02.25). Diese Naivität wiederum kann einen ja auch nur wundern. Fuggers Aufstieg war übrigens auch kein Märchen, sondern ein Präzisionsakt. Er verstand früh: Wahre Macht liegt im Unsichtbaren. Während andere Fürsten Burgen bauten, investierte er in etwas Flüchtigeres – die Gunst der Habsburger. Seine Briefe (sic!) waren Waffen, schärfer als Schwerter.

Empfehlungen

Zwei Gasthöfe in Oberbayern zur Einkehr. Beide sind im Sommer draußen auch richtig gut.

  1. Das wundervolle „Gasthaus zur alten Post“ (Opens in a new window) mit Biergarten liegt auf dem Weg vom Starnberger See zum Ammersee in Pähl.

  1. Der „Kandlerwirt“ (Opens in a new window) in Oberbiberg (Oberhaching), ebenfalls mit Biergarten, hat seit einigen Wochen einen neuen Küchenchef. Stammgäste berichten, das habe die wöchentliche Einkehr nochmals besser gemacht.

Mehr Musikvideos wagen

Mal abseits von 18 Sekunden Instastories mit DJ Koze. Unbelievable!

https://youtu.be/JX0zwHuQphA?si=2VInZ9p6-fErGBhh (Opens in a new window)

1:2

Hier noch zwei (bzw. drei) Bücher von Julia Schoch.

Das erste habe ich gerade weggelesen und habe viele Notizen gemacht. Aufgefallen ist mir dabei auch, dass ich immer wieder an „Kairos“ (Opens in a new window) von Jenny Erpenbeck denken musste. Das Buch lässt mich weniger los, als ich erwartet habe.

Das Vorkommnis. Biographie einer Frau (Opens in a new window)

„Eine Frau wird von einer Fremden angesprochen, die behauptet, sie hätten beide denselben Vater. Die überraschende Begegnung bleibt flüchtig, löst in ihr aber eine Welle von Emotionen aus. Fragen drängen sich auf, über Ehe und Mutterschaft, über Adoption und andere Familiengeheimnisse, über Wahrheit überhaupt. In 'Das Vorkommnis' erzählt Julia Schoch von einem Leben, das urplötzlich eine andere Richtung bekommt.“ (Klappentext)

Das andere habe ich gerade erst auf meine Liste geschrieben, aber noch nicht gelesen:

Das Liebespaar des Jahrhunderts. Biographie einer Frau (Opens in a new window)

„Eine Frau will ihren Mann verlassen. Nach vielen Jahren Zusammenleben und Ehe ist sie entschlossen und bestürzt zugleich: Wie konnte es nur dazu kommen? Während sie ihr Fortgehen plant, begibt sie sich in ihren Gedanken weit zurück. Da waren die rauschhaften Jahre der Verliebtheit nach dem Mauerfall, an der Universität, zu zweit im Ausland und später mit den kleinen Kindern, aber da gab es auch die Kehrseite - Momente, die zu Wendepunkten wurden und das Scheitern schon vorausahnen ließen. Doch ist etwas überhaupt gescheitert, wenn es so lange dauert?“ (Klappentext)

Neu erschienen ist Anfang Januar zum Abschluss der Trilogie:

Wild nach einem wilden Traum. Biographie einer Frau (Opens in a new window)

Die Buchpremiere im Literaturhaus Berlin am 20. Januar gibt es auf YouTube (Opens in a new window) (1:15h):

„Jede Autorin tut dass, dass sie Bestandteile ihre Lebens oder ihrer Wahrehmung, vor allen Dingen ihrer Erfahrung ins Buch gibt. Selbst bei Science Fiction oder historischen Romanen müssen Sie eigentlich, sonst kommen Sie ja gar nicht an Emotionen, über sich und ihre Erfahrungen sprechen. Sonst geht es Sie selbst nichts an und die anderen geht es dann auch nichts an.“

Julia Schoch

Ausblick

Mehrfach sehr empfohlen wurde mir die Tragikkomödie „Die Vaterlosen“ von Anton Tschechow, u.a. mit Joachim Meyerhoff, in den Münchner Kammerspielen (Opens in a new window). Für den 21. März gibt es noch Karten.

Outro

Danke für den Anstandsrest.

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