Spätdiagnostiziert mit ADHS Wie mir Kaja dabei hilft nicht, mehr gegen mich selbst zu kämpfen
Kaja kam mit 1.5 Jahren aus dem Tierschutz zu uns. Bis dahin hatte sie in ihrem Leben nichts kennenlernen dürfen. Sie war dauergestresst und -gereizt und bei jeder Person, die uns draußen entgegen kam, platzte ihr der Kragen – und davon hat sie als Sharpei-Mix verdammt viel.
So verkuschelt und anhänglich sie zu Hause sein konnte, so unberechenbar, war sie auf der Straße.
Damals dachte ich noch, dass man mit entsprechendem Training jeden Hund alltagstauglich bekommt – Oh sweet summer child.
Acht Jahre ist das inzwischen her. Fünf von diesen acht Jahren brachte mich Kaja regelmäßig an meine Grenzen. Sie hebelte jede Trainingsmethode aus oder suchte sich Hintertürchen, um doch nicht das tun zu müssen, was man von ihr wollte. Oft machte sie den Anschein, sie hätte verstanden, um dann in letzter Sekunde doch noch zu explodieren. Wie ein Kind, was Omas teure Porzellanschale vom Schrank holt und nach der Bitte das verdammte Ding zurückstellen, sich antäuschend in Richtung Schrank dreht, um einem das Teil dann doch frech grinsend vor die Füße zu knallen.
Statt die kleinen Fortschritte, die wir trotz allem machten, zu feiern, hing ich mich frustriert an allem auf was nicht funktionierte. Ich tat das, was ich mit mir selbst machte. Ich sah immer nur das Schlechte in allem und nie das was ich erreicht habe. Ich hatte etwas geschafft: Glück und Zufall. Ich bekam etwas nicht hin, wie ich es mir vorstellte: Ich hatte versagt und es war allein meine Schuld.
Ein paar Jahre, Therapien und eine ADHS-Diagnose später, nehme ich nicht nur mich selbst anders wahr, sondern auch Kaja.
Wir beide haben eine Menge gemeinsam. Wir haben eine sehr kurze Zündschnur, eine Reizfilterschwäche und sind schnell überfordert in fremden Situationen oder solchen, die wir nicht gut überblicken können. Diese Überforderung oder Überreizung schlägt schnell in Wut um. In meinem Fall bedeutet das Wut auf mich selbst, weil ich nicht in der Lage bin, simple Alltagssituationen zu meistern und Frustration, weil es sich mir nicht erschloss warum das so war.
Als sich vor drei Jahren, der Verdacht verhärtete, dass ich vielleicht ADHS haben könnte, begann ich, wenn auch sehr langsam, zu verstehen, warum mein Leben war wie es war. Die Zeit zwischen Verdachtsdiagnose, den Diagnostikterminen und schließlich dem Abschlussgespräch war für mich kaum auszuhalten. Ich hatte gerade mein Masterstudium gegen die Wand gefahren und wusste nicht, was ich mit mir und meinem Leben anfangen soll. Ich fühlte mich unfähig
und war getriebener und unruhiger als sonst.
Ich kompensierte mit exzessivem Sport und damit, dass ich beinahe jeden Tag ohne Plan und ohne Ziel stundenlang durch die Gegend lief. Bei letzterem leistete mir Kaja Gesellschaft.
Dabei kreisten meine Gedanken stets um die mögliche Diagnose und was dies für mich bedeuten könnte. Ich führte in meinem Kopf endlose Diskussionen mit mir selbst: Was ist wenn sich der Verdacht bestätigt? Was ist wenn doch nicht? Habe ich mir dann doch alles nur eingebildet?
Mein Leben lang stieß ich immer wieder an Grenzen, die ich nicht akzeptieren konnte und wollte, was dazu führte, dass ich mich im ständigen Kampf gegen mich selbst befand.
Ich konnte die scheinbar einfachsten Anforderungen nicht erfüllen, womit ich regelmäßig von Außenstehenden konfrontiert wurde. Ich war zu langsam, zu faul, zu dumm und egal was ich tat und wie stark ich mich bemühte, ich war nie genug.
Während ich so über diese Dinge nachdachte, tippelte Kaja vor mir her. Sie schien die langen Spaziergänge und die gemeinsame Zeit sichtlich zu genießen. Hin und wieder drehte sie sich um und suchte meinen Blick. Trotz all der Schwierigkeiten, die wir miteinander hatten, hat sie nie das Vertrauen in mich verloren und suchte meine Bestätigung und meine Nähe.
In dieser Zeit, in der ich den Versuch startete mit mir selbst in klar zu kommen, wurde mir zunehmend bewusst, wie unfair ich zu Kaja war.
Wie oft wurden Anforderungen an mich gestellt, die ich auch trotz Bemühungen und enormen Aufwand nicht erfüllen konnte und wie oft wurde darauf mit Unverständnis reagiert. Ich sei zu faul, zu blöd, ich gab mir nicht genug Mühe. Dabei könnte ich doch so viel schaffen, wenn ich nur wollte.
Ich erwischte mich dabei, wie ich die gleichen Unterstellungen auf meinen Hund übertrug. Einem kleinem Wesen, dem nicht nur ein anständiger Start ins Hundeleben verwehrt blieb, sondern das was die Charaktereigenschaften anging, auch nicht gerade im Genlotto gewonnen hatte.
Zwischen Erstgespräch und finaler Diagnose lag in etwa ein halbes Jahr. Die Auswirkungen, die ADHS auf das gesamte Leben nimmt, konnte ich zu dieser Zeit noch nicht ansatzweise greifen. Zumal ich auch noch nicht wusste, ob ADHS wirklich die Erklärung für meine Probleme war. Doch ich begriff, dass es Erwartungen gibt, die man nicht aus mangelnder Willenskraft nicht erfüllen kann, sondern, weil es der Hirnstoffwechsel nicht zulässt.
Diese Erkenntnis lies mich nachsichtiger mit mir selbst, aber auch mit Kaja werden. Dies wiederum wirkte sich positiv auf Kajas Grundhaltung aus, wenn wir gemeinsam unterwegs waren.
Ihre Ausraster anderen Menschen gegenüber sind über die Jahre viel weniger geworden. Inzwischen müssen wir nicht einmal mehr die Straßenseite wechseln, wenn uns jemand auf einem Fahrrad entgegen kommt. Das klingt jetzt fast so, als wäre Kaja allein durch meine zunehmende Akzeptanz zum Selbstläufer geworden. Doch ganz so einfach war es dann doch nicht. Wir haben lediglich weiter trainiert, ohne es zu merken. Damit entstand auch nicht der Druck alles perfekt machen zu müssen, da gar keine Erwartungshaltung da war. Unbewusst gab ich Kaja mehr Raum, um sich von Stressfaktoren abzuwenden. Ich zwang sie nicht zur Konfrontation und zum Aushalten und unsere Interaktion miteinander wurde entspannter, wenn wir uns einem möglichen Auslösereiz näherten. Das führte dazu, dass sie sich schneller zu mir orientierte und den Blickkontakt suchte, statt sich an dem Stressauslöser festzustarren.
Ihre Frustrationstoleranz ist immer noch nicht sehr hoch und die Impulsivität ist über die Jahre auch nicht verschwunden, aber besser geworden.
Ich habe, sowohl in Bezug auf Kaja, als auch auf mich gelernt, den Hahn zuzudrehen bevor das Becken überläuft.
Wir werden erzogen auszuhalten, uns immer wieder Situationen, die uns zu schaffen machen zu stellen, mit der Aussicht, dass je öfter man etwas tut, es umso leichter wird. Konfrontation heißt Stärke, Vermeiden heißt Schwäche.
Ich sehe das anders. Rückzug kann vernünftig und ein Zeichen von Stärke sein. Vor allem ist es ein Zeichen, dass man seine eigenen Grenzen kennt und entsprechend reagiert. Diese vermeintliche Schwäche nennt sich Selbstfürsorge.
Was Kaja betrifft bedeutet das, wenn wir beim Spaziergang innerhalb kurzer Zeit in drei Stresssituationen geraten, die sie problemlos meistert vermeide ich die vierte.
Ich bin noch immer sehr umsichtig, wenn ich mit ihr unterwegs bin, trotzdem kann man Konfrontationen nicht immer vermeiden. Verfällt sie dann in alte Muster, stelle ich inzwischen nicht mehr unsere ganze Erziehung infrage, sondern weiß, dass sie in dem Moment einfach nicht anders kann.
Wir haben immer noch keinen komplett alltagstauglichen Hund, den man problemlos überall mit hinnehmen kann. Sie wird nie entspannt am Strand liegen, während, um uns herum Kinder toben und viele Menschen dicht an uns vorbei laufen. Auch Besuch duldet sie in den meisten Fällen nicht.
Aber wir haben eine Menge geschafft und inzwischen fällt es mir auch nicht mehr schwer das anzuerkennen. Kaja hat mir beigebracht, dass etwas nicht einhundertprozentig perfekt sein muss, um es bedingungslos zu lieben und dass das Leben leichter wird und mit dem zu arbeiten was man hat, statt gegen etwas zu kämpfen, was man ohnehin nicht ändern kann.
