Torque : Mismatch bei ADHS, Autismus-Spektrum und AuDHS

Dieser Beitrag widmet sich genau diesem Dazwischen.
Er beruht auf der “Nachverdauung” von meinem Vortrag beim Symposium „Anders denken – anders lernen“ am 5. Juni 2025 im Berufsbildungswerk Bugenhagen, an dem über 180 Personen vor Ort und weitere 180 online teilnahmen.
Mit wertvollen Impulsen von Kolleginnen wie Regine Winkelmann, Simone Eppler und Stephanie Meer-Walter haben wir über das gesprochen, was in klassischen Diagnosemanualen nicht vorkommt – aber im Leben umso realer ist:
➡️ AuDHS als dynamische Neuroform
➡️ Diagnostischer Mismatch und seine Langzeitfolgen
➡️ Therapie als Ent-Täuschung und Neubeginn
🧭 Torque – Wenn zwei Wahrheiten nicht zusammenpassen
Kaum war ich wieder zu Hause habe ich den Beitrag von Craddock et alt gelesen. Also ob er auf uns gewartet hat, dachte ich dabei…
Der Begriff „Torque“, wie ihn Emma Craddock 2025 in einem dem Fachartikel beschreibt, stammt ursprünglich aus der Mechanik und bedeutet „Drehmoment“.
Übertragen auf die Psychologie bezeichnet Torque die innere Verspannung oder eben Verdrehung die entsteht, wenn ein Mensch in keine diagnostische Schublade passt – obwohl seine Realität eindeutig ist.
Und ohne diesen Begriff zu kennen, ging es mir genau um diese inneren Zerreissungen / Spannungen.
In ihrer Studie mit sechs spät diagnostizierten Frauen mit Autismus und ADHS (AuDHS) beschreibt Craddock diese Spannung als:
„Zwei Teile meines Gehirns, die gegeneinander arbeiten. Der eine braucht Struktur und Rückzug – der andere sucht Reiz, Chaos und Kontakt.“ (Juliette)
📄 Quelle:
Craddock, E. (2025). Navigating Residual Diagnostic Categories: The Lived Experiences of Women Diagnosed with Autism and ADHD in Adulthood. Health.
DOI: 10.1177/13634593251336163 (Abre numa nova janela)
🧩 AuDHS als Residualkategorie – das Leben im Dazwischen
In der medizinischen Sprache ist AuDHS nicht offiziell vorgesehen – es ist eine „Residualkategorie“, ein „Rest“, der entsteht, wenn zwei Klassifikationen sich überschneiden, aber das System keine Überschneidungen erlaubt.
Craddocks Interviewpartnerinnen beschreiben genau das:
das ständige Maskieren zwischen Reizsuche und Rückzug,
das Gefühl, nicht „krank genug“ für eine Diagnose zu sein,
die Sehnsucht nach Ordnung, die das eigene ADHS wieder zerstört,
und vor allem: das ständige Sich-Zurechtbiegen, um gesellschaftlich zu funktionieren.
„Ich dachte, ich bin einfach kaputt. Heute weiß ich: Ich bin beides. Und das hat mich müde gemacht.“ (Margaret)
🧠 Wenn Torque früh beginnt – und nie aufhört
In meinem Vortrag in Bugenhagen habe ich versucht, Torque nicht nur als Diagnoseproblem, sondern als tiefgreifenden Entstehungskonflikt zu beschreiben.
Denn: Torque ist nicht nur unangenehm – es ist oft auch traumatisch.
Wenn ein Kind mit AuDHS früh erfährt:
dass es zu laut, zu fordernd oder zu empfindlich ist (ADHS),
dass es zu still, zu speziell oder zu unnahbar ist (Autismus),
dann entsteht nicht einfach Unsicherheit.
Es entsteht ein chronischer innerer Mismatch – zwischen Eigenwahrnehmung und Fremdbild.
Und genau daraus kann sich entwickeln, was ich als „Erschütterungsstörung“ bezeichne:
⚠️ Mögliche Langzeitfolgen unentdeckten Torque:
🪫 Erschöpfung statt Entwicklung
🧱 Kompensation durch Perfektionismus oder Rückzug
🕳️ Masking bis zur Depersonalisation
🧩 Dissoziation als Schutzlösung
🎭 Therapie, die sich wie ein Missverständnis anfühlt
💬 Wenn Therapie ent-täuscht
Viele meiner Klient:innen berichten, dass sie sich in Therapie lange wie die Falschen am richtigen Ort fühlen.
Warum?
Weil Standardtherapien oft:
auf Stabilisierung abzielen, wo eigentlich Aufdeckung nötig wäre,
auf Verhalten schauen, aber nicht auf Identität,
auf Ressourcen setzen, ohne die Komplexität der Lebensleistung zu würdigen.
Erst wenn das Torque sichtbar wird – also die innere Spannung zwischen zwei nicht integrierbaren Welten – beginnt die wahre therapeutische Arbeit.
Therapie wird dann nicht zur Lösung, sondern zur Ent-Täuschung:
Der Moment, in dem klar wird: Nicht ich bin falsch. Die Bedingungen waren falsch.
📘 Online-Buch: AuDHS, Torque und Trauma

In meiner ADHSSpektrum-Community auf Skool habe ich zu diesem Thema ein Online-Workbook entwickelt. Quasi als Handout für meinen Beitrag zu AuDHS in Bugenhagen. Es ist noch kein Buch im klassischen Sinne in gedruckter Form oder als Kidle Sondern 100 Seiten Denkanregungen als Gamma-App-Dokument.
Da ich es noch als Work in progress sehe, möchte ich es noch nicht allgemein öffentlich machen. Aber gerne mit dir in der Skool-Community diskutieren,.