GEFANGEN IM GEWALT-SOG
FILM-KRITIK
Der teils anarchische Charme, nicht selten gepaart mit bitterbösem Ernst mancher Filme der (späten) 1990er- und frühen 2000er-Jahre wie jenen von Danny Boyle (Abre numa nova janela), Tim Burton, David Fincher, Mary Harron oder Larry Clark, ist etwas, das sich mir eingeprägt hat. (Und, dass ich sie viel zu jung und früh geschaut habe, was sich wiederum auf andere Art eingeprägt hat.) Ein feine, charmante, derbe, brutale und so lustige wie flinke (Abre numa nova janela) Rückkehr in diese Zeit ist – recht überraschend – Darren Aronofskys Caught Stealing, der heute im Kino (Abre numa nova janela) startet.

Warum überraschend? Nun, mit der lebhaften, aggressiven, lauten, raubeinigen Raub- und Gangster-Buchverfilmung des gleichnamigen Romans von Charlie Huston, der 2004 erschienen ist (hierzulande als Der Prügelknabe bei Heyne – allerdings vergriffen), wagt Aronofsky sich aus seiner Komfortzone. Diese liegt ja eher in dezent philosophischen und vergeistigten Filmen, der Erforschung des Innern, des Selbst und Seins, die nicht selten als Genre-Mischungen daherkommen, wie etwa Requiem for a Dream, Black Swan, The Fountain oder The Wrestler.
Da ist der zackig-krachige New York-Film Caught Stealing mit dem gewohnt fabelhaften Austin Butler in der Hauptrolle durchaus ein Film, der sich ausnimmt. Butler bekommt als Henry „Hank“ Thompson von seinem Punk-Nachbarn Russ (Matt Smith, der die Rolle, wie alle Beteiligten, annahm, um mit Aronofskyzu arbeiten, aber auch, da er einen Mohawk tragen konnte) dessen Katze Bud zur vorübergehenden Pflege in die Hand gedrückt. Russ muss zurück nach London, um nach seinem sterbenden Vater zu sehen. Hanks Freundin Yvonne (Zoë Kravitz) findet die Idee insofern gut, als dass sie bedeuten könnte, dass Hank ein wenig Verantwortung zu übernehmen hat.

Dieser lebt nach einer schweren Knieverletzung, die seine Baseball-Karriere zunichte machte, als trinkender und rumhängender Barkeeper im New Yorker East Village mehr schlecht als recht in den Tag hinein. Betäubt sich, statt sein Potenzial zu nutzen, zieht sich zurück etc. pp. (Verbunden mit der Verletzung ist ebenso ein Trauma, das im Laufe des Films enthüllt wird.) Doch bald wird Hank beginnen müssen, aktiver zu sein und schwere Entscheidungen zu treffen. Alles beginnt mit zwei russischen Schlägern (Yuri Kolokolnikov und Nikita Kukushkin), die auf der Suche nach einem Schlüssel zu Geld statt Russ nun auf Hank eindreschen und dem anschließenden Auftauchen von Detective Roman (Regina King). Von nun an geht es chaotisch bergab...

Sehr viel mehr soll an dieser Stelle gar nicht zum durchaus häufig überraschenden Verlauf der Geschichte verraten werden. Nur, dass wir etwa noch Benito Antonio Martínez Ocasio aka Bad Bunny als Gangster Colorado begegnen oder es nicht lange dauert, bis mit Shmully (Vincent D'Onofrio) und Lipa (Liev Schreiber) zwei chassidische Juden ins Spiel kommen und Griffin Dunne als Barbesitzer Paul zeigt, dass er nicht nur saufen und flirten kann.
Caught Stealing ist ein sehr buntes und wildes Potpourri an Figuren, Orten (wir sehen die Twin Towers!) und Wendungen voller kleiner Feinheiten, das über knapp zwei Stunden bestens unterhält. Allein schon, weil es nicht einfach eine knallige Geschichte um eine große Menge Geld ist, sondern weil alle Figuren mit Charakter und Charme wie besonderen Eigenheiten ausgestattet sind. Selbst wenn sie nur so kurz auftauchen wie Carol Kane als Bubbe. Es scheint, dass die Verbindung Aronofsky-Huston, der seinen Roman als Drehbuch adapatierte, eine sehr passende ist.
„There’s a lot of humor in the story, it’s great to see him applying his sensibility to it. It has a very dark sensibility, and that’s Darren’s wheelhouse. Darren’s work has a deep earnestness to it, and an emotionality that’s very strong and very present. I like that his characters feel so deeply, and they always go on journeys.” - Charlie Huston

Darren Aronofsky hatte bereits Interesse den soghaften Roman zu verfilmen, als er ihn vor achtzehn Jahren las. Doch wie das so ist (oder war, heute geht das ja alles schneller, nicht wahr Caro Wahl und Co.?!), dauerte es eine Weile. Plötzlich meldete sich Huston per Mail bei Aronofsky, dass dey nun die Rechte am Roman hatten und ein Drehbuch vorliege. Na wunderbar! So wie Huston das dem bekannte East Village der ausklingenden 90er-Jahre beschrieb, fand auch Aronofsky sich und sein Erleben dieser Umgebung in der spannenden Geschichte, die von dunklem Humor geprägt, immerfort pumpt wie ein MDMA-Trip, wieder.

Im Film tragen zu diesem pumpenden Stil voller harschem Charme natürlich die Bilder von Matthew Libatique, der Schnitt von Andrew Weisblum sowie der Score von Rob Simonsen und die wie Arsch auf Eimer passende Songauswahl bei. Doch alle Action und all der solide Stress bedeuten nicht, dass Caught Stealing nur an der Oberfläche bliebe. Butlers Hank ist zwar ein Anti-Held, doch einer, für den es merklich um etwas geht. Planlos und überfordert, stürzt er von einer scheinbar ausweglosen Situation in die nächste, wird von Lügen und Manipulationen überrumpelt. Und er wird nicht plötzlich zum übercoolen Haudrauf-Schläger mit ungeahnten Waffenkompetenzen und lockeren One-Linern. Der zwar unterhaltsame, häufige aber auch bodenlose Zynismus eines Guy Ritchie-Films etwa ist Aronofskys und Hustons Sache nicht.

So haben wir es mit einem arg unterhaltsamen sowie erstaunlich gefühlvollen Gangster-Action-Movie zu tun, das, wie der Regisseur sagt und es sich wünscht, uns zwar zwei Stunden ablenkt, unsere Aufmerksamkeit hält und besten Eskapismus aus der harschen Realität bietet. Dabei aber auch mitfühlen und mitfiebern lässt. Die Figuren als Menschen sind uns nicht egal. Das zeichnet Caught Stealing dann nochmals besonders aus.
AS
PS: Wenn schon der Roman vergriffen ist, so gibt es doch ein von Martin Maria Schwarz gelesenes Hörbuch namens Der Prügelknabe. Wenn es sich dabei auch um eine Hercule Poirot-Geschichte von Agatha Christie handelt...
https://www.youtube.com/watch?v=Ecf9oZmlRwI (Abre numa nova janela)PPS: Wir empfehlen die englischsprachige Fassung. Den Trailer findet ihr hier (Abre numa nova janela).
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Caught Stealing; Laufzeit ca. 107 Minuten; FSK: 16; ab heute im Kino.