
Illustration: Till Laßmann
23/10/2025
Liebe Leute,
in der zunehmend dynamischen Debatte über die Möglichkeit und/oder Notwendigkeit einer solidarischen Kollaps- oder auch einer linksökologischen Katastrophenpolitik, in der Suchbewegung nach einer kohärenten und skalierbaren Politik des “solidarischen Preppens (Öffnet in neuem Fenster)” meine ich immer mehr einen versteckten Kern des gegenseitigen Unverständnisses zu erkennen. Ein Unverständnis, das aus Sprachlosigkeit entsteht, weil erstens auch innerhalb des “Kollaps-Space (Öffnet in neuem Fenster)” (aka der entstehenden Kollapsbewegung) erhebliche Meinungsverschiedenheiten in Bezug auf diese wichtige Frage bestehen, und wir Kollapsis zweitens wissen, wie leicht es ist, Menschen mit dieser Frage abzuschrecken. Die Frage, um die es geht, ist die Zeitfrage. Kurzform: “wie lang haben wir noch (für/bis X)?” Wie groß diese “gefühlte Eile” ist, bestimmt weitgehend, wie dringlich und für wie alternativlos (oder eben nicht) wir die Suche nach einer realistisch-radikalen solidarischen Kollapspolitik halten.
“Wie lang haben wir noch?”
Ich hatte eigentlich geplant, jetzt mit dem erwartbaren “Ihr glaubt, dass wir noch viel Zeit haben, weil Verdrängung, aber in Wahrheit...”-Shpeel weiterzumachen, und das mit den AfD-Umfragewerten aus Sachsen-Anhalt (Öffnet in neuem Fenster) und Mecklenburg-Vorpommern zu illustrieren – dazu weiter unten noch mehr – aber das wären schon wieder zu viele Fakten, und um die geht es ja in heutigen politischen Diskussionen nicht mehr. Es geht darum, sich gut zu fühlen, weshalb die Frage “wie viel Zeit haben wir noch?” sich erstmal nicht auf Fakten bezieht, sondern auf ein Gefühl: das Gefühl der “Normalität”, von der wir wissen, dass sie bald nicht mehr die Normalität sein wird – und die wir zwar nicht unbedingt superdupertoll finden, aber die wir doch in den meisten Fällen einer Zukunft vorziehen, in der rapide, katastrophale Veränderungen immer mehr die neue Normalität sein werden. Wenn wir fragen “wie lange haben wir noch?”, meinen wir nicht “bis zum Faschismus/bis zur Flutkatastrophe/bis zum Umkippen der AMOC”, wir meinen “wie lange haben wir noch, bis wir unsere Leben nicht mehr wiedererkennen werden, bis wir in genau der Situation sind, vor der wir solche Angst haben, dass wir es nicht wirklich wagen, über sie nachzudenken: eine Situation, in der wir keine Ahnung haben, was was, wer wer, wo oben, und wo unten, wo links und rechts ist, und in totaler Ohnmacht und deshalb natürlich auch menschlicher Unzulänglichkeit verharren, bis hoffentlich irgendein Rettungsdienst kommt und uns rettet.”
D.h.: es gibt keine allgemeingültige, gar “objektiv richtige” Antwort auf die “wie lange haben wir noch?”-Frage, es gibt stattdessen eine unendliche Vielzahl von Antworten, die nicht nur von der emotionalen Arbeit der Kollapsakzeptanz abhängt, sondern sich jeweils spezifisch auf die Lebensumstände, Klassenlage, Staatsbürger*innenschaft, sexuelle Identität, Geschlecht, etc. der antwortenden Person bezieht. Um das mal konkret zu machen: wenn meine Freundin und Genossin Scully (Öffnet in neuem Fenster) – eine offen queere Antifaschistin, die in einer thüringischen Kleinstadt wohnt – und ich – ein offen queerer Antifaschist, über den z.B. die Nazizeitung Junge Freiheit gerne “schaut mal diese perverse Kommunistenschwuchtel an”-Reportagen schreibt – über queere Selbstverteidigung (Öffnet in neuem Fenster) reden, und dieses Projekt mit einer gewissen Ungeduld vorantreiben, dann hat das damit zu tun, dass wir bis zum Zeitpunkt, an dem Nazis unsere CSDs angreifen, an dem trans Menschen auf der Straße immer mehr in Lebensgefahr geraten, an dem viele Queers sich an Orten, an denen die Rechten die Lufthoheit besitzen, einfach nicht mehr sicher fühlen können halt gar keine Zeit mehr haben. Dieser Moment ist jetzt da, und die Vorbereitungen darauf hätten im Idealfall schon vor langer Zeit beginnen müssen, im nächstbesten Fall jetzt sofort. Alles, was das verzögert, droht aus dieser persönlich-politischen Perspektive, sich wie Zeitverschwendung anzufühlen.
Anderes Beispiel: wer in Deutschland für Palästinasolidarität und gegen den israelischen Genozid im Gaza protestiert, lebt jetzt schon in einer Situation des Kollaps von Grund- und Bürger*innenrechten, wie unschwer am Policing propalästinensischer Demos zu erkennen ist. Noch sehr viel drastischer bedroht sind migrantisch gelesene Menschen, Menschen mit unklarem Aufenthaltsstatus, Asylsuchende, Geflüchtete. Und natürlich diejenigen, von denen der Bundeskanzler gerade gesagt hat, dass sie deutsche Stadtbilder verschandeln, und eine dauernde Gefahr für blonde deutsche Mädchen darstellen. Aus der Perspektive all dieser Menschen haben wir gar keine Zeit mehr, bis zur Situation, in der immer mehr unserer Energien in die Organisierung von Community-Support-Strukturen investieren müssen, die uns vor der sich jetzt schon faschisierenden Mehrheitsgesellschaft schützen, und die im Falle faschistischer Regierungsbeteiligungen noch aktiver und mit mehr Aufwand schützen müssten.
It will begin in Rohan, I mean: in Sachsen-Anhalt
Jetzt aber zurück zu quantifizierbaren Fakten zur Frage “wie lange haben wir noch bis zum Faschismus?”, und da gibt's für mich zwei wichtige Zahlen: 40, und 2026.
40, weil das die Prozentzahl ist, bei der die AfD in der INSA-Sonntagsfrage für Sachsen-Anhalt landet. Na klar, INSA-Umfragen (und dann auch für nius) haben immer nen eingebauten Rechtsdrall, aber auch die Infratest-Dimap Umfrage vom September sieht die Faschopartei bei ganz ähnlichen 39%. Hier die INSA-Zahlen:

Ihr könnt daran unschwer ablesen, warum es in der Union jetzt wieder eine Debatte über das “Verhältnis zur AfD” gibt: es gibt eigentlich keinen realistischen Weg an einer AfD-Regierung (oder an einer vor allem von der AfD tolerierten Minderheits-, also einer Regierung von AfD-Gnaden) vorbei. Die Union könnte sich von der AfD tolerieren lassen, die AfD könnte zB mit Lady Voldemorts BSW-Death-Eaters regieren, und wenn weder SPD noch BSW in den Landtag kommen, könnte die AfD sogar die absolute Mehrheit bekommen.
Nochmal: es gibt unter den gegebenen Umständen kein realistisches Szenario, in dem die AfD nicht direkt oder indirekt in Sachsen-Anhalt regiert, und zwar aus der Position zwar nicht einer absoluten Mehrheit, aber immerhin einer erheblichen gesellschaftlichen Pluralität. Wir wissen mittlerweile ungefähr, was in so einer Situation passiert: schon im Vorfeld der Wahl werden Aggression und Gewalt gegen diejenigen zunehmen, die die Rechten als ihre Feind*innen ansehen (unter anderem die, die Feind*innen statt Feinden schreiben); am Wahlabend kann das dann auch gut in ein paar vage pogromartige Volksfeste ausarten, vor allem in ländlichen Gebieten, und in den Tagen und Wochen nach der Wahl fühlen sich rechte Gewalttäter in ihrem Tun gesellschaftlich legitimiert. Dann kommen wir zum Regierungsantritt, zur faschistischen Machtübernahme (ob direkt, oder indirekt), und von dort aus beginnt der versuchte Staatsumbau: gelernt wird von Orban und Putin, von Meloni und Trump, das Ziel ist, am Ende alle potenziell gegnerischen Machtzentren auszuschalten (ein spannendes Lehrstück darin ist die Art und Weise, wie Trump ICE derzeit als private SA ausbaut, ohne Loyalität zur Verfassung, aber mit viel Loyalität zum Führer).
Was mich zur zweiten o.g. Zahl – 2026 – bringt, die mich umtreibt, seitdem ich diese Umfrage gesehen, und mir verdeutlicht habe, dass die Landtagswahl in Sachsen-Anhalt in unter einem Jahr, wahrscheinlich am 6. September 2026 stattfinden wird: wie gehen wir eigentlich damit um, dass es sehr wahrscheinlich in weniger als 12 Monaten in Deutschland – angeblich dem Land des “Nie Wieder” - eine faschistische Landesregierung, oder eben eine von faschistischen Gnaden geben wird? Wie bereiten wir uns im Land des “Nie Wieder” darauf vor, dass das wahrscheinlichste Szenario momentan ist, dass Teile des Landes ab sagen wir mal Oktober '26 wieder von Faschist*innen regiert werden?
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Faschismusverdrängung
An diesem Punkt muss ich ehrlich eingestehen, dass ich bis auf meine mindestens genau so sehr aus Hollywoodfilmen wie aus echten Beispielen historischer community self-defense gespeisten Pink Panthers-Pläne und ein paar Einblicke in die Arbeit von Gatans Förband in Stockholm keine besonders klare Vorstellung davon habe, wie nachhaltiges und nicht-militanzfetischisierendes antifaschistisches Prepping eigentlich aussehen könnte. Nicht, weil es das nicht gibt, sondern, weil ich mich bisher eher mit Klimakatastrophen und ihren Folgen auseinandergesetzt habe, weniger mit den konkreten Folgen einer faschistischen Machtübernahme (mit Ausnahme recht individualistischer Gedanken darüber, wohin Wolf und ich im Notfall fliehen könnten, und die werde ich trotz allen Exhibitionismus' aus gegebenem Anlass nicht mit Euch teilen).
Auch in der öffentlichen Debatte reden wir zwar allerlei darüber, was für eine “Gefahr für die Demokratie” die AfD darstellt, aber wir werden nur sehr selten konkret, wenn es darum geht, wie genau diese Gefahr aussieht, und wem genau was passieren würde, wenn (temporal, nicht konditional) die Faschos an die Macht kommen. Warum? Naja, einerseits natürlich wegen Verdrängungsgesellschaft, andererseits aber auch, weil “die öffentliche Debatte” nunmal meist von denen geführt wird, die sich mit dem Faschismus eine zeitlang ganz gut arrangieren könnten, oder zumindest nicht unter den ersten und zweiten Wellen von Verhaftungen und Deportationen wären.
Einer der wenigen öffentlich sichtbaren intellektuellen und politischen Akteure, die sich über die Frage “was machen wir vor, während und nach einer faschistischen Machtübernahme?” auseinandergesetzt hat, ist Arne Semsrott, dessen Buch Machtübernahme (Öffnet in neuem Fenster) ich hier nochmal empfehlen möchte. Darin formuliert er die Frage um, die alle Deutschen kennen: weg von “wärst Du im Widerstand gewesen?”, hin zu “wirst Du im Widerstand sein?” Gute Frage. Sehr gute Frage.
Aber ich will ja zum konkreten, daher hier ein Erfahrungsbericht aus dem ländlichen Sachsen-Anhalt (Öffnet in neuem Fenster), gepostet auf mastodon: “Ich lebe auf dem Land in Sachsen-Anhalt, und hier hängen teilweise schwarz-weiss-rote Flaggen in Fenstern und auf Grundstücken, bei Autos mit Antifa Aufklebern werden schon mal die Scheiben eingeschlagen, während Autos mit Nazi Aufklebern ungestört bleiben, Plakate von der Linkspartei hängen nie lange, und man hat das Gefühl, schon alleine nicht nicht mitzumachen, macht einen zur Zielscheibe. Es gibt auch ein paar nette Leute, aber eine Idee was wir (ausser hier wegziehen - und das können ja auch nicht alle) tun könnten hat leider keine(r) so richtig. Ehrlich gesagt bin ich recht verzweifelt im Moment.” Ja, fuck. Dazu kann ich wirklich kaum was sagen, außer der Person mein nutzloses Mitgefühl, und meine vollkommen passive Solidarität zuzusichern.
Antifaschistisches Prepping?
Und weil deswegen sehr viele Andere in dieser Sache deutlich weiter sind, als ich, zitiere ich mal weiter aus der Debatte auf mastodon. Auf die Frage “wie bereiten wir uns auf einen AfD-Wahlsieg in Sachsen-Anhalt vor?” bekam ich diese kluge Antwort, die wiederum aus lauter Fragen bestand:
“tja, wie bereiten wir uns vor?
Da sind natürlich erstmal diverse Fragen im Kopf:
- Wen muss ich alles mitdenken - Familie, Freunde usw.
- Wer ist alles Teil meiner "Bande"?
- Wo könnte ich mich im zweifelsfall schnell hin zurück ziehen? Vielleicht über eine Grenze zu Freunden?
- Wie ist das andernorts?
- Wer ist dazu in der Lage und willens mit mir gemeinsam Widerstand zu leisten und mit welchen Mitteln?
- Funktionieren meine Backups und Kommunikationsmedien unabhängig von staatlicher Einflussnahme?”
Alles richtig gute Fragen, und ich schlage allen von Euch vor, mal über sie nachzudenken, auch wenn Ihr erstmal auf die meisten davon keine Antworten habt, vielleicht nicht einmal eine Ahnung, wie eine Antwort aussehen könnte. Natürlich gibt es Menschen, die bei der Beantwortung solcher Fragen helfen könnten, aber es gibt keine realistische gesellschaftliche Debatte, nicht einmal in linken und ökologischen Kreisen, in der ihre Stimmen gehört würden. Und das macht mich wahnsinnig. Schaut doch einfach nur in die USA, wo seit mehreren Monaten maskierte Staatsterroristen (ICE-agents) durch die Städte marodieren, und US-Staatsbürger*innen kidnappen, manchmal einfach nur, weil diese die unamerikanische Dreistigkeit besaßen, auf der Straße eine andere Sprache zu sprechen, als Englisch; wo Menschen einfach von Flughäfen weggehaftet und in ein undurchsichtiges Gefängnissystem gesperrt werden, im schlimmsten Fall landen sie dann in diesem salvadorianischen Supermax-Gulag. Ich bin mir sicher, dass nur wenige in den USA – jenseits der direkt bedrohten Communities – sich im Herbst '23 der Möglichkeit bewusst war, dass es innerhalb von zwei Jahren zu so einer Situation kommen könnte. Die “bügerliche Mitte” in den USA hatte schon vier Jahre Trump erlebt, und redete sich ein, das könnte nicht nochmal passieren, und wenn ja, würden, wie in Trumps erster Amtszeit, die institutionellen checks and balances weitgehend halten.
Sie haben nicht gehalten, und jetzt schlittern die USA fast unaufhaltsam entweder immer tiefer in den Faschismus, oder in eine Art zweiten amerikanischen Bürgerkrieg. All dies war der amerikanischen Intelligenzija mind. seit 2016 bewusst, trotzdem wurde sich nicht darauf vorbereitet. Jetzt stehen wir in einem deutschen Bundesland 12 Monate vor einer wahrscheinlichen faschistischen Regierungsübernahme... und auch wir bereiten uns nicht darauf vor, sprechen zwar davon, aber verdrängen doch jede reale Auseinandersetzung mit dieser wahrscheinlichen Zukunft.
Zurück zur Zeitfrage
Soviel zu “wie lange haben wir noch... bis zum Faschismus?” Für Menschen in Sachsen-Anhalt: vermutlich noch ein knappes Jahr. Was wir in diesem Jahr tun, wird extrem wichtig dafür sein, wie Menschen, die von Faschos gehasst werden, ihr Leben in Sachsen-Anhalt danach erleben werden, wird extrem wichtig dafür sein, die Faschos wieder von der Macht wegzukriegen. Natürlich verstehe ich, dass wir nicht alle Ressourcen der gesellschaftlichen Linken und der antifaschistischen Mitte, such as it is, jetzt nur noch in die Vorbereitung auf faschistische Machtergreifungen investieren können – aber mein Eindruck ist, dass die häufigste Reaktion auf unser “hey, hier ist riesiger Zeitdruck, lasst mal solidarisch/antifaschistisch Preppen!”, nämlich “ja, klar, gute Idee, aber lasst auch all das, was wir bisher machen, trotzdem weitermachen, weil du weißt, 'diversity of tactics' und so!” in der Realität bedeutet, dass wir zwar all das weitermachen, was wir bisher gemacht haben, aber das, was uns neu und ein bisschen scary vorkommt, lieber in den Raum der strategischen Diskussionen verschieben, als in den des tatsächlichen Machens. Daher hier nochmal der Reminder: der beste Zeitpunkt, sich auf den Faschismus an der Macht vorzubereiten, ist dann, wenn er noch verhindert werden kann, aber an dem Punkt sind wir in vielen Bundesländern schon lange vorbei, im Bund wird er wohl auch bald kommen; der zweitbeste ist jetzt; der schlechteste ist “bald”.
In den nächsten Wochen werde ich ein bisschen weiter an dieser Frage “wie lange haben wir noch bis...?” herumdenken, denn sie erscheint mir zentral dafür, wie Menschen die Diskussion über Kollapsbewegung und solidarisches Preppen wahrnehmen – und auch dafür, dass es trotz der intellektuellen Zustimmung zu den Thesen der entstehenden Kollapsbewegung, so viel emotionale Abwehr der Schlussfolgerungen gibt, die sich aus den Thesen ergeben.
Mit zeitbewussten Grüßen,
Euer Tadzio