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NEUNERs #019

“Für ihre Kaste war Ehrgeiz keine Qualität, sondern eine Utopie oder ein Spleen, das war nichts für sie, sie musste aufhören, an irgendeine Entwicklung zu denken.”

“Sie waren ratlos, jetzt mussten die Kinder allein zurande kommen. Sie konnten die Wirklichkeit unter keinem anderen Prisma als dem des Arbeiters sehen, sie wollten, dass ihre Tochter die soziale Leiter hinaufstieg, sahen aber nicht weiter als höchstens zwei Ebenen über ihre eigene.”

“Sie wehrte sich verzweifelt dagegen, dass sich ihr Schicksal als Arme vollendete.”

“Sie musste ihren Platz finden.”

“Sie hatte ihre Familie und ihre Welt, die seit der Geburt ihr Leben gewesen war, verlassen, um sich in Gefahr zu bringen und einen Sinn zu finden; sie war gescheitert.”

Marion Messina, Fehlstart (2020; Faux départ, 2017)

Die französische Arbeiterklasse erfährt seit Jahrzehnten massive Veränderungen. Beschäftigungsverluste durch Deindustrialisierung, Prekarisierung und Ausgrenzungsprozesse. Die Wandlung – vom traditionellen Rückgrat linker Parteien hin zu einer wichtigen Wählergruppe rechter Bewegungen – prägt das politische Klima. Einige französische Autorinnen und Autoren sind selbst Aufsteiger. Sie verbinden in ihren Romanen und Essays persönliche Erfahrungen mit analytischer Gesellschaftskritik. Édouard Louis (Öffnet in neuem Fenster). Rose Lamy (Öffnet in neuem Fenster). Didier Eribon (Öffnet in neuem Fenster). Annie Ernaux (Öffnet in neuem Fenster).

Eine weitere, Marion Messina (35), ist keine zweite Houellebecq und ihr Roman “Fehlstart” (Öffnet in neuem Fenster) war keine Fortsetzung von “Unterwerfung (Öffnet in neuem Fenster)”. Trotz gemeinsamer Themen und viel Sex als “der letzte echte Genuss” für eine Generation, “die auf Instabilität und Veränderung geeicht” ist, und für die er “Garant für sofortige Befriedigung und als sozialer Marker (…) zum Lebensmotto geworden” sei. Immerhin ist Sex bei Messina neben “faden Lebensmitteln” und einem “kaum noch existenten und künstlerischen Universum” nicht (nur) weiterer Teil der fast grenzenlosen Desillusion und Entfremdung. Das kann man für Houellebecq so nicht behaupten.

Die neunzehnjährige Aurélie öffnet uns im Roman die Augen für die in Teilen trostlose Gegenwart Frankreichs, die eigentlich die Gegenwart des gesamten Westens ist. Sie webt die Beziehung zwischen Mann (Männern) und Frau (Frauen) in die Spannungen zwischen einem gesättigten Europa und hungrigen Schwellenländern, zwischen Bildungsversprechen und Bildungsfake, zwischen neureicher Ausstattung und bulimischem Konsum von Billigschrott, zwischen Alt und Jung, zwischen Provinz und Paris, zwischen neuer Digitalelite und neuem Dienstleistungsproletariat ein. Man liest die knapp über 150 Seiten schnell weg. Sie sind unerträglich und doch sinnlich. Es kitscht manchmal ein wenig und ist doch knochentrocken. Man spürt bei allem Zynismus das tiefe Interesse am Menschlichen. Es ist aussichtslos und doch nicht hinnehmbar. Das macht vielleicht einen weiteren, relevanten Unterschied im Vergleich zu Houellebecq. Immerhin bietet ein missglückter Start vielleicht doch noch weitere Chancen. Ein falscher Anfang ist noch nicht das Ende. In der Theorie zumindest.

Sicher kein leichtes Buch für den Sommer. Ich würde es sofort wieder besorgen und sofort wieder lesen. Messina hat im letzten Jahr “Die Entblößten” (Öffnet in neuem Fenster) veröffentlicht. Besser sind die Aussichten darin nicht. Interesse weckt, eventuell etwas voraussetzungsvoll was die Kenntnis französischer Kontexte angeht, auch der gerade auf deutsch erschienene Roman von Aurélian Bellanger, “Die letzten Tage der Linken (Öffnet in neuem Fenster)” (Les derniers jours du Parti socialiste), in der es auch um die Erosion traditioneller linker Milieus geht.

Alleine essen gehen!

Vor ein paar Tagen erschien eine Grafik einer Krankenversicherung (Öffnet in neuem Fenster) in meiner Timeline. Unter dem Motto “Healthy Habit” wurde empfohlen, öfter mal alleine essen zu gehen - mit dem Ziel von mehr Achtsamkeit und Genuss. So sah das ungefähr aus:

(KI-generiert, ChatGPT)

Ich verstehe das. Ich gehe auch sehr gerne alleine essen. Insbesondere zum Mittagstisch oder kleinen Läden. Es schmeckt wirklich anders. Ich bin anders da. Zum Beispiel im NOPPAKAO Thai Imbiss (Öffnet in neuem Fenster) in der Dachauer Straße in München.

Oder beim Indian Street Food (Öffnet in neuem Fenster) in der Schöneberger Straße in Berlin.

Für mich ist das ein Teil der Eroberung einer Stadt und eines / ihres Lebensgefühls. Es ist Luxus.

Aber so einfach ist das natürlich nicht immer und für alle. Alleine essen kann auch bedeuten, sich alleine zu fühlen, einsam zu sein - und andere sehen das dann auch noch. Ein Teller. Kein Gegenüber. Für einen Reddit-Beitrag (Öffnet in neuem Fenster) mit dem Titel “I wanna eat alone in a restaurant but I’m too embarrassed” gibt es viel Verständnis und jede Menge Kommentare: “I used to pretend to be on the phone lol, and just talk about my day so it looked like I wasn’t >really alone<." Wirklich alleine…

Auch in eigenen Gesprächen zeigt sich, dass nicht alle gerne alleine essen gehen. Nur wenn es unbedingt sein muss. Meist sagen das in meiner Wahrnehmung Frauen. In Erinnerung kommt mir da ein Satz, den ich im Roman “Das Vorkommnis” von Julia Schoch angestrichen habe: “das Alleinsein aller Frauen, hat etwas fast Verwerfliches". Warum das im öffentlichen Raum immer noch und häufig so ist, beleuchtet z. B. Lauren Elkin.

“Das Argument gegen die Existenz der Flâneuse ist manchmal mit der Frage der Sichtbarkeit verknüpft. >Für den Flâneur ist es entscheidend, praktisch unsichtbar zu sein<, schreibt Luc Sante, um sein Verständnis des Flâneurs als ein männliches, und nicht weibliches zu verteidigen. Diese Anmerkung ist zugleich unfair und schmerzlich zutreffend. Wie gern wären wir unsichtbar wie es Männer sind. Nicht wir selbst machen uns im Sinne Santes sichtbar, im Sinne der Aufregung also, die eine Frau auslösen kann, wenn sie sich allein in der Öffentlichkeit bewegt”.
Lauren Elkin, “Flaneuse. Frauen erobern die Stadt”.

Sehr spannend ist dazu auch der Essay “Gehen und Macht” von Aminatta Forna im Band “Psychogeografie (Öffnet in neuem Fenster)”.

Was ich nicht mag: wenn jemand, der Bedarf an einem weiteren Stuhl für seine Familie oder Freunde am Nebentisch hat, den leeren Stuhl mir gegenüber wegzieht mit den Worten “brauchen Sie doch eh nicht, oder?!”. Das ist mir zu final.

Danke für das.

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