NEUNERs #020
Ich sitze im Auto. Sag mal, wein´ ich oder ist das der Regen?
Ich kann es kaum fassen. Offenbar bin ich gerührt, angefasst.
Phil Collins „Another Day in Paradise (Öffnet in neuem Fenster)“ läuft. Phil Collins… Und dann nicht mal das coolere “In the Air tonight (Öffnet in neuem Fenster)”.
Dabei ging gerade dieser Typ mir immer ganz besonders auf den Keks. Vor Jahren war ich nur genervt, wenn im Auto von Berlin nach Süddeutschland kurz nach Potsdam die “Berliner” Radiosender erst nur noch mit Unterbrechungen und dann gar nicht mehr zu hören waren. Sobald dann die Empfangsgebiete vom BR und etwas weiter westlich auch vom SWR begannen, kam alles wieder (hoch) und in Endlosschleife: Police, Roxette, Queen, Abba, all das und noch viel mehr Genesis. Über Jahre ging das so, während man als Heranwachsender im Ländle lebte. Die Jahre danach ging es weiter. Ein regelmäßiger Audio-Horror-Trip in die Vergangenheit. Zeitmaschine. Man musste eigentlich alle, die das unentwegt weiter hörten, für komplett braindead halten.
Wofür man Anfang bis Mitte der Neunzigerjahre von der Provinz noch nach London, mindestens aber nach Bruchsal in den “Vibration Club” zu einem Auftritt von LTJ Bukem (Öffnet in neuem Fenster) und MC Conrad fahren musste (oder mit viel Aufwand rare Tapes mit Drum&Bass (Öffnet in neuem Fenster)-Livesets von DJ Randall und Peshay tauschte), das kam in Berlin einfach im Radio. Zumindest nachts. Und selbst tagsüber war das Programm für ein Dorfkind die Offenbarung. Eigentlich begann mein Berliner Leben mit einem Paar Lautsprechern und einem Yamaha-Receiver, zwei Europaletten (Lars sagt, dass sei eher nicht so gesund gewesen wegen der Chemie) und einer Matratze.
https://youtu.be/B2ql4Ouzz54?si=Ss3z2A_0DrqiDetA (Öffnet in neuem Fenster)Zumindest für das Radio gilt also: früher war da gar nichts besser. Auch wenn heute die Rotations so vereinheitlicht sind, dass es eigentlich ganz egal ist, welcher Musiksender läuft. Im Zweifel hört man übers Netz einfach immer und überall nur FM4 (Öffnet in neuem Fenster) (!) und liegt immer richtig oder bleibt auf Soundcloud.
https://soundcloud.com/roman-fluegel/remixed-by-roman-flugel?si=46ee01f0a4cc420b8e464631ac96e04e&utm_source=clipboard&utm_medium=text&utm_campaign=social_sharing (Öffnet in neuem Fenster)Und jetzt das. Phil Collins.
Hat es mich auch erwischt? Nostalgie.
“Ich lausche weiter den Wellen, Booten und Möwen der Stadt, den vereinzelten Stimmen. … Nicht nur der Waschmittelgeruch der Bettwäsche, sondern die Einrichtung und das kleine Gästezimmer selbst scheinen wie selbstverständlich aus einer anderen Zeit zu stammen.”
Daniel Schreiber: Die Zeit der Verluste (Öffnet in neuem Fenster) (2023)
Nostalgie
Der Historiker Tobias Becker erklärt in einer unterhaltsamen Sendung (Öffnet in neuem Fenster) vom NDR „Rückschritt oder Rückhalt“, woher der Begriff Nostalgie stammt. Mitte des 17. Jahrhunderts beobachtete ein Mediziner das Auftreten einer intensiven Form von Heimweh - bei Söldnern von Ludwig XIV. angesichts des verlorenen Zuhauses. In seiner Doktorarbeit hat der Arzt dann die zwei altgriechischen Worte für Rückkehr bzw. Heimkehr und Schmerz (nostos und algos) zu einem neuen Fachbegriff verbunden. “Das Leid, das einen befällt, wenn man fern von der Heimat ist, als auch die Mühen, die man auf sich nimmt, um nach Hause zurückzukehren” (Barbara Cassin (Öffnet in neuem Fenster)).
Die eigentliche Karriere des Nostalgie-Begriffs begann in Deutschland erst in den 70ern mit einem Spiegel-Titel (Öffnet in neuem Fenster): Nostalgie. Das Geschäft mit der Sehnsucht. Aus dem räumlichen Sehnen wurde mehr und mehr ein Sehnen nach der Vergangenheit. Nostalgie wird meist gleichgesetzt mit einer eher naiven und verklärenden Sehnsucht nach der „guten alten Zeit“. Und irgendjemand - ob Unternehmen oder politische Kräfte - spiele dann immer damit, mit uns. Becker relativiert zwar: die Nostalgiekritik sei selbst nostalgisch, weil sie immer davon ausgehe, dass die Menschen früher stets optimistischer in die Zukunft geblickt hätten. Weidlich genutzt wird sie so oder so. Trump sei Pop, sagt Ulf Poschardt im Hotel Matze (Öffnet in neuem Fenster). Auch wenn er sonst ziemlich daneben liegt - trotzdem lohnt sich der zweite Teil des Podcasts - das ist ein Punkt: Great again.
Die Verklärung der Vergangenheit. Dahin zurück, wo alles gut ist. Ein Ablenkungsmanöver.
“Im Populismus dreht sich alles um Verluste. Seine Wählerbasis sind insbesondere Menschen, die Status- oder Machtverluste erfahren haben oder diese befürchten und einen allgemeinen gesellschaftlichen Niedergang wahrnehmen. Das populistische Versprechen lautet, vermeintlich ideale, jedenfalls bessere Verhältnisse, wie sie früher geherrscht hätten, zwischenzeitlich aber verloren wurden, wiederherzustellen. Die immer neuen Verlustängste kommen dem Populismus dabei gerade recht, ja, sie werden von ihm systematisch genährt. Populismus ist politisches Verlustunternehmertum.”
Andreas Reckwitz: Verlust (Öffnet in neuem Fenster). Ein Grundproblem der Moderne (2024)
Zurück
Womit wir - zumindest fast - schon bei Bundeskultur(kampf)staatsminister Wolfram Weimer wären. Der habe laut Monopol (Öffnet in neuem Fenster) “in seinen ersten Monaten im Amt so viele Triggerpunkte (Öffnet in neuem Fenster) gedrückt, dass die generelle und langfristige Ausrichtung seiner Politik immer noch nebulös wirkt”. Und das angesichts seines recht aufgeklärt gebürsteten Gastbeitrags unter dem Titel “Verteidigt die Freiheit” in der Süddeutschen Zeitung (Öffnet in neuem Fenster), den man wohl als paradoxe Intervention lesen muss. Für Weimer geht es dem Text nach darum, “wer wem etwas sagen und buchstäblich vorschreiben darf und wer nicht. Es geht um Freiheit und ihre Einschränkung“. Er zeichnet dort einen “linken Alarmismus” in Form “radikal-feministischer, postkolonialer, öko-sozialistischer Empörungskultur.” Und in den Tech-Konzernen sieht er die “Treiber der medialen Hyper-Empörung”. Aber genau diese füttert er laufend selbst mit an und - man glaubt es kaum - arbeitet mit Verboten. Schade. Vielleicht hätte in dieser Funktion auch jemand ein bisschen was aus der Dynamik (Öffnet in neuem Fenster) rausnehmen können. Denn gut bekommt sie uns nicht.
Zur Bilanz der ersten 100 Tage meint Stefan Koldehoff diese Woche im Deutschlandfunk (Öffnet in neuem Fenster) entsprechend, Weimer hätte zwar “als Regierungsbeauftragter für ein konservatives Weltbild” geliefert. Man solle sich offenbar über ihn aufregen, “weil das Aufmerksamkeit bringt”. Doch in der eigentlichen Kulturpolitik als “Sachpolitik fällt seine Bilanz eher dürftig aus” (Filmförderung, NS-Raubkunst, Freie Kulturszene etc.). Man mag seine gezielten Provokationen als Botschaften an eine konservatives Union-Klientel lesen und/oder als Ablenkung von dem, was die Merz-Regierung trotz aller Breitbeinigkeit insgesamt nicht liefert. Mindestens aber als einen versuchten Gegenbeweis, dass er doch nicht “der falsche Mann am falschen Platz ist” (so ätzte der für das Feuilleton zuständige, dem Gendern ebenso abgeneigte, FAZ-Herausgeber Jürgen Kaube (Öffnet in neuem Fenster) nämlich noch im April).
“Du malst ja naiv!”
Das früher bei weitem nicht alles besser und auch nicht alles schlechter war, dass Entbehrungen und Fülle, Heimweh und Zukunftsglaube sogar auf eine einzige Leinwand passen, das zeigt bis November die sagenhafte Ausstellung mit Werken von Lisa Kreitmeir (1935-2008) im Museum Oberammergau (Öffnet in neuem Fenster). Das ist alles andere als naiv. Einen Bericht gibt es im BR (Öffnet in neuem Fenster) Fernsehen.
.jpeg?auto=compress&w=800&fit=max&dpr=2&fm=webp)
.jpeg?auto=compress&w=800&fit=max&dpr=2&fm=webp)
Books
Heute Bücher nur am Rande. Derzeit arbeite ich mich (lesend und hörend) durch die über 700 Seiten bzw. 1.366 Minuten “Das Narrenschiff (Öffnet in neuem Fenster)” von Christoph Hein. Ich bilde mir meine Meinung. Da bleibt wenig Zeit übrig. Zur parallelen Entlastung lese ich immerhin von Philipp Felsch “Der Philosoph. Habermas und wir (Öffnet in neuem Fenster)”. Also ein Bein im Osten und eins im Westen.
Danke für die Erinnerungen.
| NEUNERs | kommt unabhängig, unregelmäßig und unberechenbar. Bestellen kann man diesen Newsletter kostenlos bei steady.