NEUNERs #017
Inhaltlich und atmosphärisch hat mich das Audiostück „Auf der Suche nach dem verlorenen Bild. Eine Bewusstseinsreise“ von Ronald Steckel (Öffnet in neuem Fenster) durch einen regnerischen Nachmittag getragen. Leider gibt es das nicht mehr online.
„Ich brauchte relativ lange, um zu begreifen, dass der unerotische Ernst, der einen in Deutschland immer wieder anwehte, nicht normal war. Ebenso wenig wie die Knopfdruckheiterkeit anlässlich von Betriebsfesten, Faschingsumzügen und dergleichen.
Eigentlich war es der erste Aufenthalt in New York Anfang der Achtzigerjahre, der mir die Augen öffnete. Nach vierzehn Tagen (…) hatte ich staunend erlebt, dass es hier etwas gab, und zwar nicht nur in den höheren Einkommensklassen, das ich in Deutschland selten gespürt hatte (…): Love of Life. Lebenslust. Daseinsfreude.“
Ronald Steckel, Auf der Suche nach dem verlorenen Bild, SFB/ORB 2000, 51 Min (Zitat ab Min 35)
Man sollte ja eh viel mehr Hörspiele hören. Vor allem ältere. Denn in den letzten Jahren werden die Produktionen so massiv mit Soundeffekten angereichert, dass sie zumindest mir wenig Spaß machen. Die Auspegelung ist allenfalls für geschlossene Kopfhörer geeignet und erzeugt Dynamikprobleme, die z. B. im Auto dazu zwingen, permanent lauter und leiser zu drehen. Aber wie kamen wir im Gespräch unter Freunden überhaupt auf das Stück? Es ging darin um deutsche Städte im Allgemeinen, Berlin im Besonderen und Feste in dessen politischer Mitte im Speziellen.
Apropos unerotischer Ernst. Am Wochenende war die diesjährige Loveparade. Ich habe, obwohl nur wenige hundert Meter Luftlinie entfernt, wenig davon mitbekommen. Es hat ja auch geregnet. Freunde, die schon Anfang der Nullerjahre an der Siegessäule getanzt haben und aus Interesse jetzt kurz dort waren, berichten von wenig Freude, viel schwarzen Klamotten, teilweise garniert mit debilen Aufdrucken („Bringt Hackfressen in Form - Fresse polieren“). Und getanzt hat auch kaum jemand. Ich habe am späten Abend nur vier Tüten durch die Gegend laufen sehen.

Rechter Vibe
Nicht überrascht, aber doch erwischt hat mich der Text von Marlene Knobloch im aktuellen ZEIT Magazin (Öffnet in neuem Fenster). Der rechte Überbau hält Einzug in Gegenden, Sphären und Kontexte, sitzt mitten in den Artefakten und einer Ästhetik, die man eigentlich in Erbpacht dem progressiven Milieu zugeschrieben hatte. Da muss diesseits schon langsam mal was kommen, was über das krampfhafte Wiederkauen und Verteidigen des immergleichen, selbstgerechten und uninspirierten Kanons hinausgeht. Das ist für diesen kleinen Newsletter nun wirklich zu groß. Aber lasst uns mal ins Gespräch kommen.
„Als ich Fotos von diesem Salon sah und die Geschichten hörte, erfüllte mich Wehmut. Jene »Nächte bei Beckett« versprühten einen Hauch von Boheme, von Chaos, von der Lust auf eine Zukunft, die herrlich unklar war. Diese Leute schrieben und lasen und redeten und tanzten zu Oasis, Nacht für Nacht steckte man Ideen und Zigarettenenden zusammen. Die Schauspieler und Schriftsteller dagegen, die ich kannte, kuratierten klinisch ihre Einladungslisten zu Abendessen, shoppten italienische Designerlampen, alle waren ständig müde oder fanden es zu viel gerade, und dann seufzte man, weil man sich nach mehr Gemeinschaft sehnte – nur hielt einen außer der gelegentlichen Lust auf Aperol Spritz nichts zusammen. Der Dimes Square hatte uns etwas voraus: Es gab einen Spirit.“
Marlene Knobloch, Wie ich versuchte, auf die hipste rechte Party News Yorks zu kommen, ZEIT Magazin 29/2025
Poschardt: „Fiktionen von einem rot-rot-grünen Medienkomplex“
Weniger smooth, dafür in ihm eigener Manier, war Ulf Poschardt (Herausgeber Welt, ehem. SZ Magazin, Autor u.a. von DJ Culture) zu Gast im Studio 9 (Öffnet in neuem Fenster) bei Korbinian Frenzel. Das war mit Anlauf und Ansage. Der Host blieb zwar in der ihm eigenen offenen Ansprache und im argumentativen Vorgehen. „Gemeinsam laut zu denken“ (Anspruch von Frenzel (Öffnet in neuem Fenster)) ist in dieser Konstellation allerdings nicht möglich. Die Mission des Gastes ist offenbar zu zwingend.
Frenzel: Müsste man im Moment nicht gegen etwas anderes ankämpfen als gegen diese vermeintlich kulturell dominanten linken Milieus? Auch weltweit. Die Zahl der Menschen, die in Demokratien leben, ist rückläufig. Und das nicht, weil linke Diktaturen sich ausbreiten, sondern weil wir das Rechtsautoritäre im Vormarsch...
Poschardt: Ja, die auch. Ich kann nur sagen, es gibt ja auch Hoffnung. Man sieht es in Argentinien, Javier Milei, einfach grandios, was der macht.
Frenzel: Mit einigen sozialen Verwerfungen auch in seinem Land.
Poschardt: Nö, die sozialen Verwerfungen sind Fiktionen von einem rot-rot-grünen Medienkomplex, um es mal so hart zu sagen. Die Armutsrate geht zurück, und zwar drastisch, die Wachstumsraten gehen nach oben, die Inflation ist besiegt. Wenn man den Mann nicht feiert!
(…)
Das Problem in Deutschland ist nicht - Stand heute - das, was rechts passiert. Das ist auch übel. Sondern das Problem ist, dass der alte linke Center-Left-Gedanke „It´s the Economy, Stupid!“ nicht mehr gilt - und Sie sehen mir nach, mein Fränkisch, wie ich in dem Buch geschrieben habe - weil uns dieses Milieu, verbeamtet oder steuerfinanziert oder geerbt, einfach in den Kompass geschissen hat.
Naja, das spricht für sich selbst. Ansonsten hilft bei der weiteren Text- und Toninterpretation Moritz von Uslar: „Erzählung einer Einheitsdiktatur aus Staatsdienern, Staatsmedien und einer faktischen Einheitspartei und einer roten Pille, die der schlucken müsse, der die Wahrheit sehen wolle, und als Konsequenz aus der quasireligiösen Erleuchtung: Disruption, die autoritär-libertären Entfesselung. Da findet man, ist man da einmal drin in diesem wirren Ultra-Unsinn und in Gesellschaft dieser Höllenhunde, wohl einfach nicht mehr heraus.“, Meldungen aus dem Wald (Öffnet in neuem Fenster)).
An allem ist bekanntlich etwas Wahres dran. Weniger Moralisierung, mehr argumentativer Diskurs (aber nicht weniger Gerechtigkeitsbewusstsein). Weniger Denkvermeidung (dafür mehr kontroverse Auseinandersetzungen). Raus aus der Empörungsökonomie (rein in pluralistische Debatten). Nur gilt das halt dann auch für alle. Dieser Dauer-Rant-Modus ist da wenig hilfreich.
Books (die alle lesen und ich dann auch irgendwann)
Ich habe eine etwas übertriebene Ablehnung gegen Bücher, die „gerade alle“ lesen. Stattdessen folge ich lieber anderen Spuren. Die Bestellhistorie bei Medimops (Öffnet in neuem Fenster) weiß das. Zum Beispiel 22 Bahnen (Öffnet in neuem Fenster) von Caroline Wahl habe ich jetzt aber mit gebührendem Abstand doch noch gelesen. Und das sehr gerne.
https://youtu.be/2zB5TDolczo?si=nUam2a5nLg1xFaBt (Öffnet in neuem Fenster)Books (noch nicht gelesen oder gerade angelesen)
Leor Zmigrod: Das ideologische Gehirn (Öffnet in neuem Fenster). Wie politische Überzeugungen wirklich entstehen?
Wie ich darauf gekommen bin: Wird gerade öfter besprochen (Öffnet in neuem Fenster).
Meine Frage: Wie unterscheidet sich ihre Sicht der Neurowissenschaft (neuropsychologisch-empirisch) im Ergebnis von der Kognitionslinguistik (sprachlich-kulturelle Konstruktionen, wie George Lakoffs „The political Mind“ von 2006)?
Zoran Terzic: Idiocracy (Öffnet in neuem Fenster). Denken und Handeln im Zeitalter des Idioten
Wie ich darauf gekommen bin: Steht an der Kasse vom c/o Berlin (Öffnet in neuem Fenster) zum Verkauf.
Meine Frage: Komme ich mit diesem Text überhaupt klar?
Kirsty Bell: Gezeiten der Stadt (Öffnet in neuem Fenster). Eine Geschichte Berlins
Wie ich darauf gekommen bin: Sticht in der Autorenbuchhandlung Berlin (Öffnet in neuem Fenster) am Savignyplatz ins Auge.
Meine Frage: Wie verändert sich das Verständnis einer Stadt, wenn man sie nicht historisch oder politisch, sondern durch ihre Häuser, ihre Geister und ihre Atmosphäre liest?
Anne-Laure Le Cunff: Tiny Experiments (Öffnet in neuem Fenster). How to Live Freely in a Goal-Obsessed World.
Wie ich darauf gekommen bin: In einem Café hatte eine Frau diese Buch vor sich liegen, schaute aber die ganze Zeit auf ihr Smartphone.
Meine Frage: Welche Widersprüche entstehen bei der Lektüre für Menschen, die alles mögliche über Ziele angehen und lösen wollen?
Rainer Mühlhoff: Künstliche Intelligenz und der neue Faschismus – Wie Tech-Milliardäre Macht und Zukunft formen
Wie ich darauf gekommen bin: ich hab´s vergessen. Vielleicht dank eines Algorithmus?
Meine Frage: Was bedeutet es, wenn man KI konsequent als soziotechnisches Machtprojekt versteht, das in neoliberale, kontrollierende und zunehmend faschistoide Dynamiken eingebettet ist?
Eine großartige Ausstellung: Julian Rosefeldt im c/o Berlin
Einer zufälligen Begegnung am Vorabend habe ich es zu verdanken, dass ich am Wochenende die Werkschau „Nothing is Original!“ im c/o Berlin (Öffnet in neuem Fenster) gesehen habe. Was für ein Kosmos, welche Themen, welche Techniken, welche Verbindungen! Danach war ich so „satt“, dass ich nichts mehr aufnehmen konnte und wollte. Läuft bis Ende September. Geht hin. Nehmt Zeit mit. Streift jeden Kopfhörer über, der rumhängt. Das machen viele Leute nicht. Aber der Ton gehört dazu. Lest jeden Begleittext. Worth it.
Die 4-Kanal-Installation voller Referenzen auf die deutsche Romantik, deutsche Mythen und Märchen „Meine Heimat ist ein düsteres, wolkenverhangenes Land“ kann man auch auf Rosefeldts Website anschauen.
https://www.julianrosefeldt.com/film-and-video-works/my-home-is-a-dark-2011/ (Öffnet in neuem Fenster)—
Danke für den Ernst bei der Sache!
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