MUSIKALISCH-FIKTIVE WANDERUNGEN
FILM-KRITIK - [Enthält leichte Spoiler zum Verlauf der Handlung]
Das Leben ist nicht immer fair. (Ach nee...?! Sach bloß!) Das gilt sowohl Raynor und Moth Winn als auch Charles Heath. Doch hält das Leben auch in weniger guten Momenten manches Mal unerwartet Schönes bereit. Wenigstens in der (Halb-)Fiktion funktioniert das, wie wir aktuell im Kino sehen können. Ob Der Salzpfad, dem Regiedebüt von Theaterveteranin Marianne Elliott, das auf dem gleichnamigen „Sachbuch“-Bestseller von Raynor Winn (oder Sally Walker) basiert, den Hot Milk-Regisseurin Rebecca Lenkiewicz adaptiert hat. Oder in The Ballad of Wallis Island von James Griffiths, der auf einem Kurzfilm von Tim Key und Tom Basden basiert. Die zwei spielen auch hier wieder ihre Alter-Egos Charles Heath und Herb McGwyer/Chris Pinner.
Beiden Filmen gemein ist, dass es britische Produktionen sind, die an der Küste spielen und diverse Wetterumschwünge und tolle Landschaftsaufnahmen abbilden. Zusätzlich sind sie angetreten, uns emotional zu berühren (sie sind quasi nah am Wasser gebaut), zum Nachdenken anzuregen (frische Luft macht den Kopf frei) und, so steht zu vermuten, Hoffnung zu stiften (was auch immer). Das klingt doch alles ganz gut und ist es auch, wenn die Ballade letztlich doch die Wanderung schlägt.
KEIN GELD UND GEMEINSAM VERLOREN
Beginnen wir mit dieser auf dem Salzpfad, der heute im Kino startet. Kulturinteressierte dürften in den letzten Tagen die Debatte um die Vorwürfe gegenüber der Autorin Winn mitbekommen haben, dass sie sich Teile des Buches nur ausgedacht haben soll. In diesem verlieren sie und ihr Ehemann Moth ihr Haus aufgrund einer unglücklichen Investition, zu der ihnen ein falscher Freund geraten hatte, zu der die Details zumindest im Film aber im Dunkeln bleiben. Schlimmer wird es noch, da bei Moth die Nervenkrankheit CBD (kortikobasale Degeneration) diagnostiziert wird.

Ein paar Seiten oder Filmszenen mit der großartigen und wandlungsfähigen Gillian Anderson als Raynor und dem nicht weniger flexiblen Jason Isaacs (gerade für seine Rolle in der dritten Staffel von White Lotus für den Emmy nominiert) als Moth, später begeben die beiden sich auf den South West Coast Path. Der ist mit 1014 Kilometern Englands längster, ausgeschilderter Wanderweg entlang wunderschöner, doch teils schwieriger Pfade, vorbei an Orten, in denen das Leben ähnlich simpel-vertrackt wirkt wie bei den Banshees of Inisherin.
Wenig bis kein Geld, viel Sorgen um die Gesundheit Moths, eine schon längst geschehene, schleichende Entfremdung, die Skepsis Fremder und Wetter, Wetter, Wetter lassen die Wanderung durchaus beschwerlich sein. Schweißen die Eheleute allerdings wieder zusammen und schaffen Momente von Streit und Nähe, die recht authentisch wirken. Das ist in erster Linie Anderson und Isaacs zu verdanken, ist das Drehbuch Lenkiewicz' doch erstaunlich farblos. Vor allem im Vergleich zu den tollen Bildern Hélène Louvarts (Beach Rats, La Chimera), die alles Optische rauskitzelt.
Da verzeihen wir dem Film auch einige Länge und implantiert wirkende Szenen (salzige Brombeeren!), so manches Pathos, überbordend kitschige Musik von Chris Roe wie auch ein Ende, das uns vielleicht ein wenig zu sehr ans Herz gehen soll. Denn, Spoiler Alter: Alles wird gut. Moth kann mit der Krankheit leben. Und da sie noch nicht gestorben sind, leben sie glücklich bis ans Ende ihrer Tage...

...zumindest wohlhabend. War Der Salzpfad doch ein internationaler Bestseller, auf den zwei weitere Bücher, Wilde Stille und Überland, folgten. Im Herbst sollte nun On Winter Hill (Originaltitel) erscheinen. Die geplante Veröffentlichung liegt allerdings zunächst auf Eis, wie Penguin Books mitteilte. Das Magazin The Observer berichtete nach einer investigativen Recherche der Journalistin Chloe Hadjimatheou (Opens in a new window), dass Winn in ihrem Buch an diversen Stellen nicht die Wahrheit schreibe beziehungsweise sich einige Dinge ausgedacht habe.
https://steady.page/de/thelittlequeerreview/posts/5a153f22-30b0-49b6-bdd5-df7226125eb8 (Opens in a new window)So hießen Raynor und Moth Winn früher einmal Sally und Tim Walker und hätten sich auch nicht durch ein Versehen verschuldet, sondern weil Sally Geld von ihrem Arbeitgeber unterschlagen habe (Opens in a new window). Um diese Summe zurückzuzahlen, hätten sie einen Kredit aufgenommen, den sie nicht bedienen konnten, verloren so wohl das Haus und tauchten unter. Allerdings seien sie nicht obdachlos gewesen, da das Paar anscheinend noch ein Haus in Frankreich besessen habe. Zudem gäbe es Zweifel an der Krankheit von Moth/Tim. Diese führe grundsätzlich a) sehr schnell zu Parkinson-ähnlichen Symptomen, wie es heißt und b) üblicherweise spätestens nach etwa einer knappen Dekade zum Tod. Dass Moth/Tim noch lebe, grenze also an ein Wunder. Nun, die gibt es bekanntlich immer wieder. Oder?!
https://www.youtube.com/watch?v=UWFxaPje4sk (Opens in a new window)Wir wissen es nicht, wollen das an dieser Stelle auch gar nicht beurteilen. Höchstens ein wenig: Sollte da einiges... sagen wir mal, verschoben worden sein, war es womöglich nicht die beste Idee, die Nummer als Sachbuch zu deklarieren (Winn/Walker wehrt sich gegen den Observer-Beitrag und meint, dies seien alles Falschbehauptungen). Autofiktion oder eine Geschichte „basierend auf wahren Ereignissen“ hätte es doch auch getan. Den Film, der als eine „unglaubliche wahre Geschichte“ beworben wird, jedenfalls kann mensch sich anschauen – mit einer Fortsetzung sollte allerdings nicht unbedingt gerechnet werden. #AusGründen.
HMS/QR

Der Salzpfad ist seit heute im Kino zu sehen; Laufzeit ca. 115 Minuten; FSK: 6
VIEL GELD UND EINSAM VERLOREN
Kein Geld unterschlagen muss hingegen der exzentrische Witwer Charles Heath (Tim Key) in The Ballad of Wallis Island. Immerhin hat er viel davon gewonnen. Zwei Mal. Dieses nutzt er nun, neben der Finanzierung seines leicht einsiedlerischen Lebens in einer Tudor-Villa auf dem walisischen Wallis Island, um den Musiker Herb McGwyer (Tom Basden) für gutes Geld für einen skurrilen Gig zu buchen. McGwyer war Teil des Indie-Folk-Music-Duos „McGwyer Mortimer“, das sich jedoch vor geraumer Zeit auflöste.

Was der in einer Lebens- und Schaffenskrise des immergleichen Performance-Drucks und allmählichen Alterns steckende Herb nicht weiß: Er soll nur für Charles auftreten, was ihm missfällt. Allerdings gefallen ihm die gebotenen 300.000 Pfund. Weniger gefällt es ihm, dass der schrullige, immerfort vor sich hin murmelnde Charles auch Ex-Gesangs-Und-Lebenspartnerin Nell Mortimer (Carey Mulligan) eingeladen hat. Sie sollen für Charles noch einmal als Duo auftreten – ein Wunsch, der natürlich mit seiner verstorbenen Frau zu tun hat, wie Zuschauer*innen schnell durchschauen.
Was soll ich groß sagen? Der auf dem Kurzfilm The One and only Herb McGwyer plays Wallis Island von Key und Basden basierende The Ballad of Wallis Island, der seit vergangenem Donnerstag im Kino zu sehen ist, ist für mich eine der Film-Überraschungen des Jahres 2025. Im Grunde ohne große Erwartungen und eher mit der Sorge von zu viel Kitsch oder gefühliger Manipulation à la Loyal Friend (Opens in a new window) an den Film rangegangen, war ich schnell ganz von ihm, den Bildern, der Atmosphäre, der Musik und den kauzig-kuriosen Figuren sowie ihren ernsthaft behandelten Problemen eingenommen.

Tim Key passt wie Arsch auf Eimer auf Charles mit all seinen Marotten, seinem Gebrabbel, seiner nicht böse gemeinten Unsensibilität, seinem verschrobenen Charme. Okay, er hat die Figur immerhin geschrieben. Gleiches gilt für Plebs' Waterboy... äh... Waterman Tom Basden, dessen Herb (was ein Künstlername ist, den echten Namen erfahren wir natürlich im Film) eine Mischung aus arroganter Künstlerseele, sensiblem Showman und verunsichertem Kind im Körper eines Mannes ist.
https://steady.page/de/018e38c0-7a57-4e1c-b5b8-4c831b91d2f7/posts/8b92cd0e-8251-44fb-ab4a-942ee447bee5 (Opens in a new window)Dabei erleben wir ihn mit Herb anders, als mit seiner großen Liebe Nell, der Mulligan eine natürliche Entschlossenheit und Einfühlsamkeit verleiht, die fesselt. Und die als Charakter mit ihrem sie begleitenden Partner Michael (Akemnji Ndifornyen) wiederum gänzlich anders verfährt als mit Herb und Charles. Drehbuch und Schauspielende schaffen es ganz wunderbar, den geneigten Zuschauer*innen die Vielseitigkeit von Umgebung, Figuren und Verhaltensweisen zu charakterisieren.

Komplettiert wird das kleine Ensemble von Sian Cliffords Amanda, einer Ladenbesitzerin, die potenzielles Love Interest für Charles ist. Der wiederum nicht erkennen kann oder verstehen mag, dass das Interesse von beiden Seiten besteht. Wie die zwei sich einander annähern, ist durchaus putzig bis cringy im besten Sinne. Viele Momente reizen die Schmerzgrenze des Peinlichen bis Ignoranten aus, ohne je plump oder böswillig zu sein. Davon abgesehen zieht The Ballad of Wallis Island unglaublich viel Witz aus kleinen Alltagsmomenten und der Unterschiedlichkeit der Figuren.
https://www.youtube.com/watch?v=UAhSmH4P_Y0 (Opens in a new window)Dies auszutarieren ist sicherlich nicht leicht und klar, manch ein plötzlicher Wechsel vom Lacher zur Träne will nicht recht funktionieren. Da dieser Film mit seiner stimmungsvollen Musik von Komponist Adem Ilhan und den in der Tat von Basen und Mulligan als McGwyer Mortimer gesungenen Songs sowie den fantastischen Bildern G. Magni Ágústssons das Herz an der richtigen Stelle und manches Mal auf der Zunge trägt, ist das halb so wild.
Ein wunderbarer Film voller Empathie und Wärme.
AS
PS: Natürlich bereitet The Ballad of Wallis Island im englischen Original weit mehr Freude als in deutscher Synchronisation.

The Ballad of Wallis Island ist seit dem 10. Juli 2025 im Kino zu sehen; Laufzeit ca. 99 Minuten; FSK: 6
Unsere Reviews zu Leonora im Morgenlicht und #SchwarzeSchafe lest ihr am Wochenende. Außerdem startet heute noch Ich weiß, was Du letzten Sommer getan hast, der eine Mischung aus Sequel und Reboot zu sein scheint. Außer dem Trailer kennen wir da auch (noch) nichts, sind aber bemüht, ihn in Kürze sichten zu können.
https://www.youtube.com/watch?v=KhKv-8WRRSM (Opens in a new window)IN EIGENER SACHE: Da unser reguläres Online-Magazin noch immer nicht wieder am Start ist, veröffentlichen wir vorerst hier. Mehr dazu lest ihr in unserem Instagram-Post (Opens in a new window) oder auf Facebook (Opens in a new window). Außerdem freuen wir uns immer, wenn ihr uns einen Kaffee spendieren wollt (Opens in a new window) oder uns direkt via PayPal (Mail: info_at_thelittlequeerreview.de) untersützten mögt.