Skip to main content

 - In den Köpfen der Leute -

Jenseits der Schubladen

Warum biologisches Geschlecht wild ist

Geschlecht ist auch Kopfsache. Da wird es vielen zu bunt, zu schwammig, zu "Wo kämen wir denn da hin?". Zugegeben: Die Welt ist einfacher, wenn man sie in Schubladen steckt. Aber dann sollten sie wenigstens passen.   Also, wie sieht ein top moderner, garantiert wissenschaftlich geprüfter Schubladenschrank aus? Und warum genau müssen wir darüber reden? Ich muss ja auch nicht wissen, wie meine Leber funktioniert. 

(Hoffe ich. Oder ist das klausurrelevant?) 

„Geschlecht“, und wie es funktioniert, ist wichtig. Allein schon, weil wir's wichtig nehmen. Die Debatten hören ja quasi nicht auf. Darüber, was Männer sind, was Frauen sind und wer von beiden den Müll rausbringen sollte. Mit Gastauftritten von beliebten Fragen wie „Es kann doch keiner abstreiten, dass es da Unterschiede gibt?!“ (stimmt), „Haben Frauen nicht einfach mehr Hormone?“ (stimmt schon deutlich weniger), „Was sagt eigentlich die Evolution?“ (spekulativ) oder „Wenn Männer und Frauen doch gleich sind, müsste es dann nicht ok sein, wenn nur Männer in der Chefetage sitzen?“ (Was!?)

Außerdem gibt’s bei der Beschäftigung mit Genderfragen einiges über uns selbst zu lernen. Im Idealfall schafft das ein bisschen Freiheit vor anderer Leute Schubladen und ansonsten zumindest die Fähigkeit, noch viel wissenschaftlicher die Augen zu verdrehen, wenn jemand Geschlechterunterschiede vereinfacht, bis sie am Ende rein zufällig seinem Fünfziger-Jahre-Weltbild entsprechen. („Ich sage ja nur, dass Föhnfrisuren in der menschlichen Natur liegen.“). Drittens ist die Erkenntnis, dass der hormonelle Lebenslauf generell kompliziert ist, spätestens dann relevant, wenn wir ihn medizinisch behandeln wollen. Aber darüber hinaus gibt es natürlich noch den Teil der Debatte, bei dem es einigen zu anstrengend wird, auch bekannt als „Also jetzt auch noch dieses Transgender, oder was?“. Zugegebenermaßen dreht sich diese Diskussion ziemlich häufig um den weltbewegenden Schutz althergebrachter Badezimmertüren. Und da kann man ja schon mal fragen: „Ist euch mal aufgefallen, dass in der Bahn alle die gleiche Toilette benutzen?“, „Das wirkt auf mich wie ein ausgedachtes Problem“? Oder: „Was ist das mit dieser verdAMMTEN TOILETTENOBSESSION!?“

Aber leider würde das wohl nichts an dem sehr viel tieferen Gefühl ändern, das anscheinend viele umtreibt: Dass Gender unlogisch ist. Ein unhaltbares Konstrukt. Schließlich hat doch jahrelang alles gut funktioniert. Es gab Mutter, Vater, Kind, und wenn ein Baby auf die Welt kam, musste man nur gucken, ob es ein Zipfelchen hat oder nicht, und konnte ihm dann je nachdem einen so schön eindeutigen Namen geben, wie Dicki Hoppenstedt. Logisch und geradeheraus. Okay, vielleicht hat es nicht für alle funktioniert. Aber die anderen sind jetzt eh alle in Berlin („Und wenn‘s nach denen geht, müssen wir sowieso bald Bürger*Innenmeister*Innen sagen.“). Warum also das eigene Weltbild überdenken, wegen etwas, was sich die sitzpinkelnde Latte-Macchiato Fraktion auf dem Prenzlauer Berg ausgedacht hat. So ähnlich hat es damals Annegret Kramp-Karrenbauer formuliert. Und auf der gleichen Welle reiten diejenige, die mit dem Thema vor allem Hass verbreiten wollen. Das AfD-Wahlprogramm spricht ohne Unterlass von der „normalen“ Familie, Republikaner fordern über Abweichungen davon unter Strafandrohung nicht mehr zu sprechen und Donald Trump wollte das Geschlecht im ganzen Land festlegen qua „Geschlechtsorgan bei der Geburt“. Neben dem Wort „hysterisch“ fällt außerdem oft das Wort „Gender-Gaga“, und es ist schon ein bisschen schwierig, auf dem Wort „Gaga“ seine argumentative Überlegenheit aufzubauen. Um  diesen Stimmen das Wasser abzugraben, braucht es Aufklärung. Denn, die Geschlechterforschung kann uns zeigen, dass das moderne Geschlecht ganz und gar nicht unlogisch ist. Es ist... kompliziert. Das sagt die Wissenschaft natürlich immer, aber in diesem Fall ist es die einzig richtige Antwort. Es ist kompliziert. Und wer das nicht versteht, der hat…naja.. nicht aufgepasst.

Die Komplikationen fangen schon an bei der Frage danach, wie sich das Geschlecht mit dem wir uns identifizieren zur Biologie verhält, bei der man eigentlich nur alles falsch machen kann. Wer die beiden gleichsetzt impliziert schnell, dass die Feststellung von Geschlecht der Wissenschaft obliegt ("Sie sind 0,75 Mann, signifikant"). Dabei ist es genau andersherum: Menschen sind, wie sie sind. Und die Neurowissenschaften versuchen mehr oder weniger erfolgreich zu ergründen, warum das so ist. Wer Geschlecht dagegen völlig von der Biologie trennt, landet schnell bei der Vorstellung, dass Geschlecht oder Sexualität einfach Lifestyle Entscheidungen sind. Woraufhin dann prompt die  genuschelte Frage folgt: „Aber wenn das alles nur im Kopf ist, heißt das nicht, ihr könntet einfach aufhören, schwierig zu sein?“. Nur ist das weder hilfreich, noch funktioniert es. Die Identität schwebt nun mal nicht losgelöst über unserem Körper, wie die grünen Diamanten bei den Sims. Geschlecht ist von der Physiologie ungefähr so losgelöst, wie Stimmung. Und ganz ähnlich können wir uns dem Thema auch nähern: Können wir alles an Stimmung durch Biologie erklären? Natürlich nicht, siehe Arbeitsstress. Hat die Biologie deswegen keinen Einfluss darauf? Auch nicht, siehe Depression. Diese Vielschichtigkeit anzuerkennen, ist ein wichtiger Teil von Akzeptanz. Für alles, was das Gehirn betrifft.

Auch auf rein biologischer Ebene, bleibt es kompliziert. Denn wie sich rausstellt, ist die Überlegung, dass nicht alle Menschen in eine der beiden Schubladen namens Männer und Frauen passen, gar keine Glaubensfrage. Für den Anfang reicht das Wissen über Gene und Geschlechtsteile und die Feststellung, dass die nicht immer wie im Biobuch zusammenpassen. Nicht alle Menschen mit XY Chromosomen haben einen Penis. Manche haben sogar einen, der sich in der Pubertät erst entwickelt. Für diese Menschen kann eine Entscheidung qua Geschlechtsorgan bei der Geburt schonmal eine sein, der jede einzelne Zelle ihres Körpers widerspricht. 

Das alles lässt sich messen, untersuchen und nachweisen, genauso wie die Existenz von Menschen mit XYY oder XXY Chromosomen. Dafür muss also niemandem glauben und strenggenommen nicht mal mit Leuten reden. Das freut die Naturwissenschaft immer. Viele Leute wollen es auch genau dabei belassen. Eine Anerkennung der Intersex Kategorie als kleine Minderheit in einem insgesamt binären System. Aber wer die Debatte damit abschließen will, verschließt sich eben auch jeder neuen Information. Den man könnte die Erkenntnis, dass unsere zwei Schubladen eben nicht auf alle passen auch nutzen um herauszufinden, warum das so ist und, wo wir schon dabei sind, vielleicht doch einmal zuhören, was uns Leute über ihre Geschlechteridentität erzählen. In den Neurowissenschaften bietet sich Zuhören grundsätzlich an, denn ziemlich häufig ist es der einzige Weg um das, was wir erforschen zu verstehen. Was Menschen wahrnehmen, wie sie fühlen, was sie denken – all das interpretiert sich besser, wenn man die hübschen fMRI Scans auch mit Gesprächen und Fragebögen kombiniert. Es ist auch ein weit besserer Weg als Leute für verrückt zu erklären nur um dann festzustellen, dass wir lediglich deren Problem nicht verstehen („Schmerzen in einem Arm, der nicht mehr da ist, ts!“). Oder einfach die Definition aus dem Biostudium runterzurattern – Geschlecht unterscheidet sich nach Beschaffenheit der Keimzellen – und auf jede weiterführende Frage mit „Kein Kommentar“ zu antworten.

Die Aufteilung nach Genen ist die, die den meisten zum Geschlecht einfällt. Für unsere Hormone sind das eher so Richtlinien.

Wer der Spur folgt, entdeckt neben Genen und Genitalien noch weitere Dimensionen, die mit unserem Geschlecht in Wechselwirkung stehen. Allen voran Hirn und Hormone. Außerdem der Rattenschwanz an indirekten und kulturellen Einflüssen, der da dranhängt. Aber immer der Reihe nach: Fangen wir mit den zwei Schubladen an, die wir schon kennen: XX- oder XY-Chromosom. Von jedem Elternteil bekommen wir eins davon und tatsächlich spielen sie eine wichtige Rolle beim Geschlecht. Denn auf dem Y Chromosom liegt die Bauanleitung für die Hoden. Die wiederum produzieren Testosteron und das formt Gehirn und Körper in eine eher männliche Richtung. Sie legen auch die Bahnen für ein Hormonsystem, das später unterschiedlich stark auf dieses oder jenes Hormon reagiert. Wobei man die körperlichen Effekte um einiges deutlicher sehen kann als die auf die Hormone, die sich unser Leben lang weiterentwickeln oder auf unser Gehirn, das so fließend sind, dass wir schon sehr große Proband:innengruppen brauchen, um Geschlechterdifferenzen zu sehen.

Die Gene bestimmen mit, welche Hormone produziert werden und die wiederum beeinflussen die Entwicklung von Gehirn und Körper. Genitalien sind zwar eine merkwürdige Kleiderschrankdekoration, aber vielleicht kommen wir damit durch, wenn wir sie als Schnörkel tarnen. 

Bis hierher, ist das alles sehr erwartbar. Bis auf die Tatsache vielleicht, dass Sexhormone besonders für die Entwicklungen zum männlichen notwendig sind, wo wir doch sonst Hormone gerne für ein Frauenproblem halten. Tatsächlich sind wir im Default Modus eher weiblich und wenn hier jemand aus jemandes Rippe geformt wurde, dann war es nicht Eva. Ebenfalls überraschend ist, dass es nicht nur Testosteron ist, dass da seine pränatale Entwicklung entfaltet, sondern auch Östrogen. Das, was wir für typisch männliche oder typische weibliche Hormone halten, ist sich in der Bauweise in Wirklichkeit so ähnlich, dass unser Gehirn problemlos Testosteron in Östrogen umwandeln kann und das auch den ganzen Tag über macht. So sehr, dass Tierstudien mitunter Östrogen als das relevantere Hormon für männliche (Sexual-)Entwicklung identifizieren. Aber das nur am Rande. Der springende Punkt ist, dass die verschiedenen Ebenen des Geschlechts in den meisten Fällen ganz gut zusammenpassen, sodass ein Großteil der Menschen sich bequem in eine der Schubladen einordnen können, wenn man ein bisschen quetscht und ruckelt. Ein Geschlechterverständnis wie eine übervolle Sockenschublade, bei der immer mal eine ins andere Fach rutscht oder über den Trockner in eine andere Dimension abwandert, um sich selbst zu finden.

Allerdings läuft diese Koordination vor allem über Hormone und die können sich auch mal ganz anders verhalten als erwartet. Schließlich haben sie vielseitige Bedürfnisse! Erstmal müssen sie irgendwo hergestellt werden, dann müssen sie irgendwohin, und da wartet am besten ein Rezeptor, in den sie sich einhaken können. Aber was, wenn da keiner ist? Dann stehen sie peinlich berührt vor der Zellwand rum, klingeln, spähen noch mal kurz durch die Gardinen und ziehen unverrichteter Dinge wieder ab. In der Praxis sieht man das an den Menschen, die zwar ein XY-Chromosomenpaar besitzen, aber keine Androgen Rezeptoren und damit keinen Andockpunkt für Testosteron. Das heißt, Testosteron ist zwar da, kann aber so nicht arbeiten und beeinflusst weder Kopf noch Körper. Trotz XY-Genen und eher männlichem Hormonprofil werden diese Menschen von Anfang an meist als Mädchen gelesen und viele identifizieren sich auch so. Ganz im Gegensatz zu den Menschen, bei denen aus völlig anderen - eher organischen als hormonellen - Gründen die Geschlechtsorgane nicht so aussehen, wie man es erwartet, während die Entwicklung sonst, dem vom Y Chromosom geplanten Verlauf folgt. Einshcließlich der Testosteronwirkung auf den Rest von Körper und Hirn. Diese Gruppe wird oft von Eltern und Ärzten zum Mädchen erklärt, so aufgezogen und zum Teil sogar dazu operiert („Man muss das Kind ja auch nicht verwirren“). Allerdings ist Geschlecht eben nichts in das man hereinwächst, wie in die Winterjacke der großen Geschwister und für diejenigen Betroffenen, die sich als Männer identifizieren, sorgen die Operation und das Schweigen dazu nicht für Klarheit, sondern für schreckliches Leid. Unser bisheriger Geschlechterbegriff verursacht also vielen Menschen Schmerzen. Das allein sollte Grund genug sein, ihn zu überdenken. Je mehr man allerdings ins Thema einsteigt desto mehr merkt man, dass sie für niemanden vollständig passt. Denn Hormone sind viel weniger ganz oder gar als fließend, schwankend, der Situation angepasst. Auch der Hormonhaushalt, dem wir im Bauch ausgesetzt sind, ändert sich mit den Hormonen der Person, der dieser Bauch gehört. Mit ihrem Stress, ihrer Erfahrung und ihren Immunreaktionen, genauso wie dem Einfluss etwaiger Zwillingsgeschwister, die gerade neben uns schwimmen. Selbst hormonelle Wirkstoffe reisen unkontrolliert durch die Plazenta. Das alles baut mit an unserem Geschlecht.

Um die Sache noch ein bisschen komplizierter zu machen, braucht unser Schubladenschrank spätestens hier eigentlich eine Zeitreisefunktion. Denn Botenstoffe heute sind nicht unbedingt das gleiche, wie Botenstoffe morgen oder gestern und der Zeitpunkt hat einen ganz entscheidenden Einfluss auf die Wirkung. Auf den Bau der Geschlechtsorgane wirken die pränatalen Hormone zum Beispiel etwa sieben bis acht Wochen nach der Zeugung. Auf das Gehirn deutlich später: Zwischen dem zweiten und sechsten Schwangerschaftsmonat und später noch mal in den ersten drei Monaten nach der Geburt. Dann ist lange Zeit Ruhe, bis zum nächsten großen Entwicklungsschub in der Pubertät, bei dem kein Stein auf dem anderen bleibt.

Manche der Veränderungen, die uns als Jugendliche übermannen sind schon in den Genen vorgeschrieben. Andere hat sich die Natur bewusst offengehalten, sodass wir uns flexibel unserer Umgebung anpassen können. So richtet sich die Entwicklung unserer Geschlechtsmerkmale auch nach dem Gefahrenpotenzial, der Fürsorge oder den Nährstoffen unserer Umgebung. Das Ergebnis sehen wir nicht nur an den körperlichen Veränderungen, die wir aus dem Auklärungsunterricht kennen, sondern auch in Gehirnstrukturen und der Anfälligkeit für diese oder jene psychischen Probleme. Um die Vielfältigkeit dieses ganzen Wirrwarrs zu sehen, müssen wir nur einen Blick auf die Menschen werfen, die an uns vorüberziehen. Denn deren Aussehen gibt einen- zugegebenermaßen sehr indirekten – Einblick in das Hormonklima der großen Entwicklungsphasen. Das Verhältnis Ihrer Schultern zu Ihrer Hüfte verweist auf Testosteron (es tendiert zum Breitschultrigen). Das Verhältnis von Taille zu Hüfte auf Östrogen (breithüftig). Das Länge-Breite-Verhältnis in Ihrem Gesicht bietet genauso Anhaltspunkte (Testosteron tendiert zum Breitgesichtigen), wie das Verhältnis von Ringfinger (Testosteron) zu Zeigefinger (Östrogen). Und wenn wir diese Faktoren über große Bevölkerungsgruppen hinweg messen, dann spiegeln sich diese Merkmale mitunter auch in den Charaktereigenschaften, die wir von diesen Hormonen kennen. In der Lust zum Risiko, unserem Talent für Sport oder Kommunikation.

Aber die Reise für Sexhormone Kopf und Körper endet nicht mit unseren Zwanzigern. Schwangerschaften, Elternsein, Paarbeziehungen und Zeit – das alles beeinflusst auch die Art, wie sich unser Geschlecht ausdrückt. Schlafstörungen zum Beispiel, plagen tendenziell mehr Frauen. Nach der Menopause verschwindet dieser Unterschied. Auch, dass Östrogen bei Frauen im Schnitt höher steht, lässt sich in dieser Lebensphase noch weniger universell festhalten. Auch wenn wir nicht in eine neue Schublade abwandern – am Ende unseres Lebens kommen wir selten da an, wo wir gestartet sind. 

Ein angemessener Schubladenschrank, lässt uns über das Leben noch Zeit uns zu entwickeln, beziehungsweise Neues an unserer Entwicklung zu entdecken

Das ist also das Geschlecht auf biologischer Ebene. Eher ein mehrdimensionales Kontinuum als eine „Ja oder Nein“ Entscheidung. Doch selbst wenn wir Menschen in diesem biologischen Raum exakt verorten könnten, wüssten wir dadurch noch längst nicht, wo sie sich selbst einordnen würden. Denn zwischen diesen Punkten steckt ein ziemlich undurchdringliches Dickicht psychologischer Tiefe und außerdem Jahrtausende an Kultur. Sich heute als Frau zu fühlen ist eine Sache. Sich in der Jane Austens wiederzufinden eine ganz andere und der Hosenanzug, der mittlerweile im langweiligen Teil Ihres Kleiderschrankes hängt, hätte Sie als Frau vor 200 Jahren wahrscheinlich als sensationelle Crossdresserin ausgezeichnet. Dafür nimmt man es Ihnen als Mann heute weniger übel, wenn Sie zu doof zum Holzhacken sind (selbst wenn Sie sich ein Holzfällerhemd gekauft haben, damit es nicht so auffällt).

Zu der Schublade, in der wir uns selbst verorten, kommt die, in die wir gesteckt werden. Schon im Mutterleib reden unsere Eltern anders mit und über uns, je nachdem, welches Geschlecht sie von uns später mal erwarten. Nach der Geburt bestimmt die Farbe unseres Stramplers mit, welches Spielzeug wir bekommen und später bestimmt die Art unserer Spiele auch, welche Hormone wir dabei ausschütten. So wie die Hormone die unseren Körper formen mitbestimmen, welcher Verein uns mitspielen lässt.

Kurzum, Geschlecht hat viele Dimensionen, von denen sich einige kaum fassen lassen. Jetzt könnte man einwenden: „Okay, es bleibt kompliziert. Dafür hätte ich jetzt aber echt keine 5 Absätze über menschliche Entwicklung lesen müssen! Ich mag nicht mal Menschen.“ Aber es gibt ein paar sehr wichtige Dinge, die wir davon mitnehmen können: Erstens, dass es bei der Vielzahl an Informationen und ihrer Relevanz für alles von körperlicher Entwicklung bis zu psychologischen Problemen ein bisschen komisch ist, sich auf Keimzellen oder Geschlechtsorgane festzulegen, als wäre das das Nonplusultra an Information. Diese Herangehensweise ist besonders merkwürdig, wenn ausgerechnet die konservative Fraktion darauf besteht, sich auf diese Genitalien zu fokussieren. Die gleiche Fraktion, die sonst immer findet, dass die Welt schöner wäre, wenn alle ihre Geschlechtsorgane da ließen, wo sie hingehören: im Dunkeln.

Zweitens, lernen wir, dass die (pränatalen) Hormone ein unterschätzter Faktor sind, wenn es um das Geschlecht geht. Im Experiment können sie Unterschiede manchmal sogar zuverlässiger vorhersagen als die Frage nach „Mann“ oder „Frau“.  Das wiederum ist eine gute Erinnerung daran, dass wir Leuten schon längst hätten zuhören sollen, was sie uns so verzweifelt über ihr Geschlecht erzählen, anstatt einfach auf dem zu beharren, was jahrhundertelang angeblich gut funktioniert hat. Hormone haben wir vor etwas mehr als hundert Jahren erst entdeckt. Selbst wenn unser biologisches Verständnis inzwischen vollständig wäre, wäre das Selbstverständnis von Menschen wohl immer noch eine bessere Zusammenfassung dessen, was in ihrem inneren passiert, als jede Momentaufnahme von außen („Okay, jetzt weiß ich, was in deinem Pass steht, aber wie ist das mit deiner Testosteron Epigenetik?“). Drittens lernen wir, dass sich viele Geschlechterunterschiede über die Zeit ändern. Das heißt, auch wenn es ein besonderer Moment ist, wenn die Ärztin mit Blick auf den Ultraschall verkündet: „Es ist ein Junge und/oder Mädchen!“ („Sind Sie sicher? Für mich sieht es wie ein Chicken Wing aus.), sollten wir das vielleicht eher als Arbeitshypothese betrachten, die man später noch hinterfragen kann.

Vor allem, können wir aus dem Ganzen etwas über Logik lernen. Oder unsere Idee davon. Denn, wenn unsere Kategorien nicht stimmen, weder auf persönlicher noch auf biologischer Ebene - Warum halten wir so verzweifelt daran fest? Richten jede Menge Leid an und pochen gleichzeitig darauf, auf Seiten der Vernunft zu stehen? Wozu? Wenn doch die Wissenschaft selbst uns zusichert, dass das, was wir für den Boden der Tatsachen halten aus ihrer Perspektive viel eher aussieht, wie der Nährboden der Ignoranz. Was gewohnheitsmäßig althergebracht ist, ist eben noch lange nicht ‚logisch‘. Es ist Kultur. Und die kann sich wandeln. Wussten Sie, dass Indien, Pakistan, Nepal und Bangladesch von drei Geschlechtern ausgehen? Und auch wir können uns hin und wieder mal an neue Ideen gewöhnen. Die Wissenschaft wartet schließlich ständig mit absurd klingenden Behauptungen auf. („Was für Bakterientiere? Kocht er da gerade ein Skalpell?“) oder räumt sogar mal ihre eigenen Fehlkonzeptionen auf. („Sie haben aber auch den Schädel eines Verbrechers!“). Das sorgt jedes Mal für einen Aufschrei. Aber mit der Zeit gewöhnen wir uns an den Kompromiss, nach dem wir zwar bereit sind, an Bakterien zu glauben, aber auch an die Drei-Sekunden-Regel, nach der sie uns nichts anhaben können, wenn wir die heruntergefallene Pommes schnell wieder vom Boden aufheben. Die Menschheit ist lernfähig. Dopamin glaubt an uns. Und bequemer ist es auch. Schließlich könnte alles so einfach sein, wenn wir anerkennen, dass es kompliziert ist. Wie viele Landcafés haben jetzt schon eine avantgardistisch genderneutrale Toilette für alle, weil es eben nur eine Toilette gibt? Oder haben diese unsägliche Wer-wohin-Toilettenfrage so geklärt wie die nächste Kiezkneipe in Berlin? Nämlich mit einem Schild: WC links, Pissoir rechts. Halten Sie vom Prenzlauer Berg doch, was Sie wollen, aber: Das ist Logik.

0 comments

Would you like to be the first to write a comment?
Become a member of Verstehe sich wer kann and start the conversation.
Become a member