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- In den Köpfen der Leute - 

Was man noch darf

Was geht wohl im Kopf der Leute vor, die fragen, was man eigentlich noch sagen darf. Sie wissen schon, in Deutschland, auf Twitter. Als Mann. Welche Konsequenz erwarten die? Wovor haben sie Angst? Und wessen Problem ist diese Angst eigentlich?

Die Meinungsfreiheit erlaubt bekanntlich fast alles zu sagen - und wenn Sie der Meinung sind, dass in Deutschland keine Meinungsfreiheit herrscht, dann können Sie auch das in diversen Telegram Gruppen diskutieren. Also welche Befürchtung treibt Leute um, die sich immer wieder über die Grenzen des Sagbaren echauffieren? Angst um Kopf und Karriere? Eher unwahrscheinlich, wenn man die „Darf ich noch“ Frage aus der bequemen Position eines Leitartikels stellt. Man darf anscheinend nicht nur, man wird sogar dafür bezahlt. Hassmails, Shitstorms? Die treffen links und rechts mindestens gleichermaßen. Trotzdem fragen weder Fridays noch Feminist:innen allzu häufig nach dem, was sie noch dürfen (wäre aus feministischer Perspektive wohl auch fragwürdig). Die Angst vor staatlichen Repressalien wirkt in diesen Tagen erst recht wie Hohn. Warum nehmen wir die Frage dann so oft so hin, als wüsten wir, was gemeint ist?

Ich behaupte, sie wirkt, weil sie eigentlich auf ein Gefühl abzielt, nämlich die Angst, ausgeschlossen zu werden. Und die ist uns allen nur allzu vertraut.

Dafür muss man sich klarmachen, dass der Mensch auf sich gestellt ziemlich unnütz ist. Zum Überleben brauchen wir die Gemeinschaft und ihre Supermärkte. Das heißt, soziale Akzeptanz ist ein Grundbedürfnis und genau so wird sie in unserem Gehirn auch gehanhabt - mit Höhenflug bei sozialer Bestätigung und schrillenden Alarmglocken, wenn wir sie verlieren. Dann hagelt es Aktivität und Botenstoffe, die wir sonst aus den Bereichen Angst, Schrecken und Aggression kennen. Selbst unser Körper verfällt in Herzklopfen, kalten Schweiß und Schnappatmung. Auch bekannt als‚"das Gefühl, wenn einem klar wird, dass man 'allen antworten' geklickt hat". Oder, wenn die Bemerkung, die wir für enorm gewitzt hielten in großer Runde plötzlich zu peinlichem Schweigen führt. 

Soziale Schmerzen oder körperliche Schmerzen - in vielen Fällen ist ihrem Gehirn das egal. Und wie wir die Hand von der heißen Herdplatte ziehen, rudern wir auch von unserer Meinung zurück „Ist natürlich ein schwieriges Thema.“ „Da kann ja auch jeder…“ „…“ „Egal!“. Auch in den Artikeln über das Sagbare, ruft der Wunsch nach Akzeptanz aus jeder nervösen Zeile. Aus der Berufung auf „normale Menschen“, „die Stimme des Volkes“, oder die „schweigende Mehrheit“. Genauso wie aus der Vorauflistung von Rändern, an die man bitte nicht gestellt werden möchte. Ich bin nicht merkwürdig, ihr seid Gaga!

Das Ganze funktioniert als Argumentationskette und Drohgebäude, weil jeder das Gefühl von Zurückweisung kennt - und es bedrohlich findet. Stimmt schon, wo kämen wir denn da hin, wenn man auch unsere Meinung irgendwann nicht mehr dürfte. Nicht mal als unschuldige Frage. 

Es ist so eine universelle Angst, dass man sie im Experiment sehr einfach rekreieren kann. Wenn Probanden erkennen, dass ihre Meinung der der anderen Teilnehmer widerspricht, dann können wir ihr Entsetzen im Scanner sehen. Und wenn wir sie noch Monate später nach all ihren hundert kleinen Entscheidungen fragen, dann liegen die allesamt deutlich dichter am allgemeinen Konsens. [beziehungsweise an dem, was uns die Wissenschaftler:innen per Randomisierungsverfahren als Konsens vermitteln] Schmerzen stärken das Erinnerungsvermögen. Alles eine Frage der sozialen Anpassung.  Das gilt noch stärker, wenn unsere Meinung plötzlich die einer Randgruppe ist „Leute, die dieses T-Shirt mögen, mochten auch: Sexuelle Belästigung“. [Tatsächlich ungefähr der Versuchsaufbau] Nächstes Mal denken wir anders über unsere Kleiderwahl. Wenn alle in der Runde das grüne Quadrat blau nennen, dann denken wir auch nochmal drüber nach und selbst kleine Kinder antworten auf Fragen lieber mit einer Lüge als mit einer Tatsache, die sie von anderen absondert. Viele Menschen geben sogar bereitwillig ihre Schuld an einem Computercrash zu, wenn drei Andere ihnen die felsenfest unterstellen. Ein großer Teil davon glaubt am Ende sogar selbst, die verbotene Taste gedrückt zu haben. Das muss man sich mal vorstellen: Die Konsensmeinung wirkt auf uns stärker als das Bewusstsein unserer eigenen Unschuld. Zum Glück nicht auf alle. Ohne Anecken kein Fortschritt!

Ist „Darf ich noch?“ also genau das, was es sein möchte? Mutig, provokant oder, wie es das Internet heute sagen würde, edgy? Fragwürdig. Schließlich strotz die Frage ja nicht gerade vor Bereitschaft, das (vermeintlich) Richtige zu sagen oder zu tun, egal was die anderen denken oder, was die Konsequenzen sind. Also genau das, was den Widerstand gegen tatsächliche Unterdrückung ausmacht. Stattdessen richtet sie den Fokus recht egozentrisch auf die eigenen Gefühlen – verbunden mit der Bitte um Schonung. Ich möchte das vielleicht sagen, aber vor allem möchte ich nicht mit Eurer Antwort leben müssen. Möglicherweise findet sich dieser Satz deshalb so selten in großen Reden. Möglicherweise ist es deshalb auch kein Wunder, dass diese Frage so häufig von Leuten gestellt wird, die es ihr Leben lang gewöhnt waren, schon rein demographisch in der Mehrheit zu sein - zumindest in den entscheidenden Räumen. Die also besonders wenig Übung im Umgang mit Zurückweisung haben, oder Fähigkeiten, sich daran anzupassen. Immerhin müssen ja viele Gruppen mit gesellschaftlichem Wandel umgehen („Hatten wir nicht gerade noch eine Willkommenskultur?“) aber „Darf man noch“ fragt immer nur eine. Es hilft wahrscheinlich auch nicht, dass der Mehrheitsverlust in diesem Fall auch mit einem Machtverlust einher geht, wobei wir auf Machtgefühl ungefähr so ungern verzichten, wie auf Kokain. [sagen uns zumindest die Mäuse, die sich kaum freiwillig von dem Ort entfernen, an dem es den nächsten Testosteronschuss gibt]

Es ist also verständlich, dass uns Gegenwind unangenehm ist. Besonders wenn man das Dagegen-Anstrampeln nicht gewohnt ist. Das Problem ist offensichtlich, dass man damit ein privates Gefühl zu einer drakonischen Strafe hochstilisiert. Natürlich darf man. Per se ja fast alles. Man bekommt eben nur nicht unbedingt Applaus. Noch problematischer wird es, wenn man die eigenen hochstilisierten Gefühle, gegen die der Gegenseite aufrechnet: Ich werde unterdrückt, Ihr dürft Euch nicht so anstellen. Dabei steht das "Ihr" in diesem Satz ja ziemlich häufig für marginalisierte Gruppen. Also diejenigen für die es beim Ringen um Akzeptanz nicht um Beliebtheit, sondern um sehr reale Konsequenzen geht. Gesetze und Bedrohungslagen. Man muss seine eigenen Gefühle schon sehr hochstilisieren um ausgerechnet diesen Leuten zu sagen, sie sollen ihren Kampf aufgeben, weil er uns unangenehm ist. Das größere Problem, über das wir seltener reden ist, dass es eigentlich keinen Weg gibt, es der "darf ich noch" Clique grundsätzlich nicht recht machen kann. Denn wie wir aus den Studien oben wissen, braucht es gar keinen Angriff, keine verbale Attacke und keinen ausufernden Shitstorm, damit wir mit Alarm reagieren. Es reicht schon eine Prozentzahl mit der Info, dass wir nicht mehr in der Mehrheit sind. Das heißt kein Maß an Zurückhaltung oder rhetorischer Abrüstung wird jemals genug sein - gefühlt dürfen uns nicht mal die Zahlen widersprechen. Wir werden so lange wirbeln, bis die Gesellschaft endlich wieder unserer Meinung ist. 

Aber die Gesellschaft muss es niemandem recht machen. Sie muss gar nix und gleichzeitig natürlich alles. Sie muss Jedermanns Rechte und körperliche Unversehrtheit Schützen, zum Glück auch die von Minderheiten. Sie muss dafür sorgen, dass niemand für seine Meinung eingekerkert, bedroht, verleumdet oder überfallen wird. Für all diese Dinge lohnt es sich zu kämpfen. Aber mit unseren Gefühlen dabei, mit denen müssen wir schon selbst klarkommen.

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