Die Unterscheidung von Wissenschaft und Spiritualität
Der Siegeszug der Wissenschaft, der vor circa 400 Jahren begann, war auch ein Kampf gegen die mythische Welt der Religion. Wissenschaft und Religion streiten sich seitdem um die Deutungshoheit, was Wirklichkeit ist. Dabei erwies sich die Wissenschaft als eine Methode zur Erkenntnis der Realität, die uns Wohlstand und ein gutes Leben bringt. Sie hat aber auch ihre Grenzen. In der spirituellen Bewegung gibt es deshalb sowohl Kritik an der Wissenschaft als auch den Wunsch, den guten Ruf und die Seriosität der Wissenschaft für sich selbst in Anspruch zu nehmen.

Der Kabbalist Eliphas Levi sagte über die Verbindung von Wissenschaft und Spiritualität: »Glaube ohne Wissenschaft führt zu Aberglaube. Wissenschaft ohne Glaube führt zu Zweifel. Um sie zu verbinden, darf man sie nicht vermischen.«1 Um sie zu verbinden, muss man sie also erst einmal unterscheiden.
Menschen, die in der Esoterik oder dem New Age zu Hause sind, ziehen diese Unterscheidung oft nicht. Sie tendieren dazu, das Etikett Wissenschaft zu verwenden, um ihren esoterischen Spekulationen den Nimbus des Seriösen und Autoritativen zu verleihen. Man spricht gerne davon, dass die eigenen esoterischen Erkenntnisse und Überzeugungen wissenschaftlich bewiesen sind. Wenn man fragt, was der wissenschaftliche Nachweis für eine Behauptung ist, z. B. dass ein auf bestimmte Art behandeltes Wasser Heilkräfte hat, bekommt man mitunter als Antwort: Das wurde uns gechannelt. Damit wird aber die Qualität des wissenschaftlichen Arbeitens völlig ignoriert und nur der Begriff als Deckmantel verwendet, um ideologische Inhalte oder Glaubensbekenntnisse seriös erscheinen zu lassen.
Der Unterschied zwischen Wissenschaft und Spiritualität ist der zwischen Denken und Glauben. Von Anselm von Canterbury stammt der Satz: »Credo ut intelligam« – »Glaube, um zu verstehen«. Verstehen, also Denken, braucht den Glauben, doch das bedeutet, dass sowohl Denken als auch Glauben notwendig sind. Es bedeutet weder, wie die Wissenschaftler:innen glauben, dass man auf den Glauben verzichten kann oder muss, noch, wie die Esoteriker:innen glauben, dass Denken unnötig oder falsch ist.
Wissenschaft und Spiritualität sind zunächst einmal zwei verschiedene Welten, die sich mehr widersprechen, als sich überschneiden. Bevor wir zur Unterscheidung von Wissenschaft und Spiritualität kommen, kurz etwas zum Unterschied von Religion und Spiritualität: Religion im Sinne mythischer, prärationaler Konstrukte lassen wir außen vor. Sie ist überholt. Spiritualität hingegen setzt auf einer offenen und unvoreingenommenen Herangehensweise an die Realität auf. Sie ist individuell und erfahrungsbasiert. Von da aus schauen wir uns den Unterschied von Wissenschaft und Spiritualität an.
Spiritualität an sich ist kein einheitlicher Block, sondern in sich auch divers. Von Ken Wilber wurde die Unterscheidung in prärational vs. transrational eingeführt. Spiritualität operiert in einem nicht rationalen Raum, ist aber nicht per se transrational. Transrational bedeutet, die Rationalität und über sie hinaus den numinosen Raum der Transzendenz ebenfalls als Wirklichkeit anzuerkennen. Die Frage, ob ein spiritueller Ansatz transrational ist, hängt davon ab, ob er das wissenschaftliche Prinzip und die Rationalität in seine Welterklärung integriert. Dazu muss man wissen, was das wissenschaftliche Prinzip ist. Der Begriff einer »heiligen Wissenschaft« ist ein Widerspruch in sich.
Was ist Wissenschaft?
Die Wissenschaft hat bestimmte wissenschaftliche Kriterien:
Reproduzierbarkeit: Das bedeutet insbesondere, dass ein wissenschaftliches Ergebnis nur dann als wahr oder richtig akzeptiert ist, wenn es immer das gleiche Ergebnis ist, egal wer es anwendet und egal auf wen es angewendet wird. Wenn nur eine einzelne Person, ein Behandler, diese Wirkung, z. B. eine Heilung, hervorbringt, dann kann es an der einzelnen Person liegen. Auch ist es subjektiv von den Personen abhängig, aber nicht objektivierbar, wenn es nur bei einigen Personen, Behandelten, funktioniert, aber bei vielen anderen nicht. Man sagt dann in der Wissenschaft: Es ist nicht reproduzierbar. So werden medizinische Methoden durch ihre Reproduzierbarkeit objektiviert, d. h., ein bestimmtes Medikament oder eine Behandlung wirken immer, egal, wer sie verabreicht und ganz gleich, an wem sie angewendet werden.
Empirie: Ein anekdotischer Beweis wird in der Wissenschaft nicht anerkannt. Ein anekdotischer Beweis ist eine Schlussfolgerung, die auf ein oder zwei individuelle Erfahrungen zurückgeht. Man kennt zwei Fälle, in denen das funktioniert hat, und man macht daraus sofort ein allgemeines Gesetz und sagt: Das funktioniert immer. Beispiel: Ein Geistheiler hat zwei Leuten die Hände aufgelegt und sie wurden gesund. Daraus wird abgeleitet, dass Geistheilung funktioniert und wissenschaftlich bewiesen ist. Wissenschaftlich wäre es, tausende Behandlungen in einer Doppelblindstudie statistisch auszuwerten.
Falsifizierbarkeit: Wissenschaftliche Erkenntnisse erheben keinen Anspruch auf ewige, unumstößliche Wahrheit. Sie können sich jederzeit durch neue Erkenntnisse als falsch erweisen. Glaube beruht auf Dogmen, auf apodiktischen, unbeweisbaren Aussagen, die einfach geglaubt oder fürwahrgehalten werden. Eine wissenschaftliche Erkenntnis ist relativ und kann jederzeit widerlegt werden, wenn neue empirische und reproduzierbare Ergebnisse auftauchen. In der Spiritualität sind Dogmen notwendig, denn ohne sie ergibt sie kein Glaubenssystem. Es ist auch philosophisch fraglich, ob Erkenntnis ohne apodiktische Setzung überhaupt möglich ist – eine der Hauptthesen in Husserls Buch. In der Tiefe der Erkenntnisstruktur des Bewusstseins liegen die Ursprünge des Wissens, wo Wissenschaft und Spiritualität nicht getrennt waren. Diese Ursprünge sind aber praktisch nicht bekannt (Husserl ist auf der Spur), und das ist etwas ganz anderes, als alle möglichen relativen Raum-Zeit-Inhalte wie etwa biografische Anekdoten als wissenschaftlich zu bezeichnen. Diese Inhalte sind keine wissenschaftlichen Erkenntnisse, sondern Glaubenssätze.
Objektivität: Die Wissenschaftler haben bei ihren Forschungen keine Meinung und gehen auch nicht mit einer vorgefassten Idee oder Überzeugung an ihre Forschungsobjekte heran. Die Forschung ist immer ergebnisoffen. Man macht einfach seine empirischen Studien und leitet aus diesen Ergebnissen bestimmte Schlussfolgerungen ab. Wissenschaft ist also induktiv. Man beginnt bei dem einzelnen Besonderen und endet beim Allgemeinen.
Wissenschaft kann auch deduktiv vorgehen. Dies macht man oft in den Sozial- und Geisteswissenschaften. D. h., man hat zuerst eine These (etwas Allgemeines) und sucht dann passende Argumente oder Beweise dafür (einzelne Indizien). Die wissenschaftliche Methode besteht in diesem Fall darin, dass man diese These genau definiert und als These kennzeichnet. Man unterscheidet genau zwischen These und Argument. Die These ist kein wissenschaftliches Ergebnis, sondern eine vorangestellte Vermutung, die es zu beweisen gilt. Wenn die These genau definiert und auch als These ausgewiesen ist, ist dies eine seriöse Vorgehensweise. In der Spiritualität hingegen wird oft die These nicht identifiziert und stattdessen als Argument oder gar als Beweis benutzt. Nach dem Motto: Ich glaube das, also ist es wahr. Daraus entstehen Glaubenssysteme wie zum Beispiel: Ich erschaffe mir meine Realität durch meine Gedanken. Dies ist eine These, die gleichzeitig ein Beweis sein soll. Wissenschaftlich ist das nicht.
Fazit
Die Wissenschaft ist eine sehr anspruchsvolle Methodik, die viele Jahre der Ausbildung nötig macht. Man muss dafür an die Universität gehen und ein langwieriges Studium auf sich nehmen. In diesem Studium wird einem von Meister:innen der Wissenschaft beigebracht, wie diese Methode funktioniert und wie man sie anwendet. Es ist nicht möglich, sich durch das Lesen einiger Bücher aus der Ferne die wissenschaftliche Methode anzueignen oder zu beurteilen, was Wissenschaft wirklich ist. Die Wissenschaft existiert seit mehreren hundert Jahren und bildet ein komplexes Gebäude von Wissen, das durch viele Generationen und unzählige Menschen mit unfassbar viel Arbeit zusammengetragen wurde.
Die Wissenschaft hat viele Mängel und muss definitiv durch die spirituelle Sichtweise ergänzt werden, aber es ist dennoch wichtig, die wissenschaftliche Methode anzuerkennen und zu würdigen. Mit ihr können verbindliches Wissen und Erkenntnis über die Wirklichkeit erlangt werden. Sie ist ein hygienisches Regulativ zur Spiritualität, damit der Glaube nicht zum Aberglauben wird. Gleichzeitig hat die Wissenschaft alleine, ohne Glaube oder Spiritualität, kein Leben und kein Bewusstsein. Dann bringt sie nur tote Ergebnisse hervor, die zur Beherrschung der Natur geeignet sind, aber die seelische Dimension nicht erreichen können. Wir werden rein wissenschaftlich die Frage des Lebens nicht befriedigend beantworten können. Es wird immer eine Lücke zurückbleiben, die Zweifel und Verzweiflung hervorbringt. Wissenschaft ohne Glaube führt zu Zweifel.
Deshalb plädiere ich für eine Verbindung von Wissenschaft und Spiritualität. Nur so erlangen wir das ganze Bild. Wie diese Verbindung letztlich aussehen wird, ist eine Frage, die bisher nicht geklärt ist. Sie inspiriert die Forschung. Um sie zu klären, müssen wir genau wissen, was Wissenschaft und Spiritualität sind. Um sie schließlich zu verbinden, darf man sie nicht vermischen.

Ausblick
Der Philosoph Edmund Husserl legte in seinem letzten veröffentlichten Buch Die Krise der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie (Meiner Verlag, Hamburg 2019, Erstveröffentlichung 1936) einen interessanten Ansatz vor, der eine Verbindung von Wissenschaft und Spiritualität möglich macht.
Lies in meinem nächsten Artikel, wie Husserl die Wissenschaft durch eine neue Methode erweitert und wie Objektivität und Subjektivität zusammenhängen:
Die Idee der Objektivität in der Wissenschaft
Was passiert, wenn man aufhört zu urteilen?
Buchvorankündigung
In meinem neuen Buch verwende ich Edmund Husserls Ansatz und vertrete die These, dass Husserl, ohne es zu wissen, mit seiner Methode der Epoché und der transzendentalen Reduktion eine Erweiterung der Wissenschaft in die Spiritualität vornimmt:

In: Papus, Die Kabbala. Einführung in die jüdische Geheimlehre, S. 27, Wiesbaden 1980 ↩