Ungleichheit in der Katastrophe: vom Privileg, bleiben zu dürfen

Das schweizer Bergdorf Blatten nach dem Bergrutsch. Quelle: https://www.furche.at/zeitbild/zum-bergsturz-in-blatten-16026045 (Si apre in una nuova finestra)
Liebe Leute,
zuerst zwei kleine Werbeblöcke:
Erstens durfte ich vor kurzem mit meinen alten Freund*innen Inken und Valentin in deren exzellentem linken Polit-Podcast “was tun” über Kollapscamp und Kollapsbewegung sprechen, hört gerne rein: https://was-tun.podigee.io/64-kollaps-klima-politik (Si apre in una nuova finestra).
Zweitens findet im September die Premiere der wunderschönen Doku “The System” statt, danach sollte der Film in Kinos, auf Festivals, und auf Nachfrage für Politevents erhältlich sein. Hier der Trailer: https://vimeo.com/1101547154 (Si apre in una nuova finestra). Ich tauche darin auf, zusammen mit Pippi van Ommen, Mitbegründerin von XR Holland, und dem Wasseraktivisten Henk Ovink, aber wir drei sind nicht wirklich die Protagonist*innen: Protagonist ist der unsichtbar kluge Fragen stellende Regisseur Joris Postema, der uns zwei Jahre lang begleitete, und immer wieder fragte: “warum macht Ihr, was Ihr macht? Habt Ihr verloren? Wenn nein, was wären Erfolge? Wie geht's jetzt weiter?” Am Ende stellt man fest, dass die Zuschauer*in selbst die Protagonistin ist: auf der Suche nach der Möglichkeit einer besseren Welt im Kollaps. Schaut rein, Wolf und mir kamen beim Trailer gleich die Tränen. Bonus: den grandiosen Soundtrack hat Lee Ranaldo von Sonic Youth komponiert!
Jetzt zur Sache
Die letzten paar Wochen stellten in Bezug auf unsere physische und mediale Wahrnehmung der Klimakatastrophe eine etwas merkwürdige Situation dar: während es hier in Deutschland weitgehend kühl und regnerisch war, so kühl, dass in den sozialen Medien ständig von rechts gekräht wurde, dass es wohl doch nix sei mit diesem Klimadings, sahen wir gleichzeitig in den Nachrichten, hörten von Freund*innen, die auf der iberischen Halbinsel im Urlaub sind, dass es in Südeuropa hitzemäßig gerade aber so richtig abgeht, mit Höchsttemperaturen von bis zu 40 Grad. Nicht zu vergessen der Rest der Welt (Si apre in una nuova finestra): “temperatures during the first week of August reached more than 42C in parts of west Asia, southern central Asia, most of north Africa, southern Pakistan, and the south-west US, with local areas exceeding 45C.”
D.h., dass der Klimakollaps eingetreten ist, und die Klimakatastrophe weiter mit Siebenmeilenstiefeln voranschreitet, auch wenn es in Deutschland ein paar Wochen mal kühler anstatt heißer ist. I know: crazy, right? Und ein Aspekt dieser Katastrophe ist, dass sich Wettermuster verschieben, dass die Lebensbedingungen sich an allen Orten der Welt verändern werden, an manchen schneller, an manchen langsamer. Wichtig ist: manche Orte, diejenigen, die sich geographisch oder in Bezug auf Variablen wie Temperatur, Luftfeuchtigkeit, Zugang zu Wasser, ohnehin schon am Rande der Bedindungen befinden, in denen stabiles menschliches Leben möglich ist, werden dadurch unbewohnbar werden.
Immer mehr Orte werden unbewohnbar werden. Immer schneller. Deswegen ist eine der wichtigsten politischen Fragen im Klimakollaps: wer darf bleiben, wer muss gehen? Und wenn sie gegangen ist: wo darf sie dann bleiben?
Vom Recht zu bleiben zum Privileg zu bleiben
Ich denke mir mal, dass die meisten von Euch diese Frage als Emanzipations- und Gerechtigkeitsfrage verstehen, aber wahrscheinlich im Sinne, in dem Eva v. Redecker das bespricht: im Sinne der “Bleibefreiheit”, der Freiheit, “da bleiben, also leben zu können, wo man möchte (Si apre in una nuova finestra). Dass Natur bleibt, dass 'Hambi bleibt'. Oder 'Lützi bleibt'. Lebensraum bleibt. Von Redeckers Bleibefreiheit bezieht sich vor allem auf die Klimakrise. Bleiben im Sinne von Regenerationszeiten, Erholungszeiten für Mensch und Natur, bleiben können im Sinne von nicht getrieben sein.” Und für die meisten Menschen auf der Welt ist das genau die Frage, die der Klimakollaps stellt: kann ich noch dort bleiben, wo ich jetzt lebe, auch wenn das im Kollaps (der, remember, immer gleichzeitig ökologisch und sozial ist, weil diese Ebenen im “sozial-ökologischen” verknüpft sind: jede Gesellschaft existiert an einem Ort in der Welt, ist also ökologisch eingebettet) immer schwieriger bis unmöglicher wird? Und wenn ich nicht bleiben darf, wohin darf ich dann fliehen? Darf ich dort dann bleiben?
Ganz klar, wichtige Frage, das mit der Bleibefreiheit. Aber ich möchte die Frage mal anders aufziehen, nämlich aus der Perspektive der nicht-meisten-Menschen, aus der Perspektive derjenigen, die in verhältnismäßig wohlhabenden, in den meisten Fällen postimperialen Gesellschaften des globalen Nordens leben. Derer, die in Gesellschaften leben, deren jahrhundertelange Existenz ganz oben auf der globalen Pyramide von Ausbeutung, Zerstörung und Mord, die der fossile Massenproduktionskapitalismus darstellt zum Ergebnis hat, dass hier jetzt ziemlich viel Reichtum existiert, der u.a. in die Verteidigung oder den Wiederaufbau von Orten fließen kann, die eigentlich von der Klimakatastrophe mittlerweile unbewohnbar gemacht wurden. Gesellschaften, in denen (relativ zum Rest der Welt) so viel Reichtum existiert, dass es ihnen möglich ist, immer absurdere Summen in den Wiederaufbau zerstörter Ortschaften zum Beispiel im Ahrtal zu stecken, anstatt im ökonomischen Sinne “rational” zu handeln, und den “strategischen Rückzug (Si apre in una nuova finestra)” aus jenen Regionen zu organisieren, deren “Verteidigung” gegen die Klimakatastrophe sich nur noch in den Köpfen einer Verdrängungsgesellschaft lohnt. Ich rede also nicht vom Recht, zu bleiben, sondern vom Privileg zu bleiben. Ich rede nicht von der abstrakten Bleibefreiheit, sondern vom unserem ganz spezifischen Bleibeprivileg, von unserem Bleibeluxus.
Bleiben trotz Katastrophe: ineffizienter Luxus?
Wieso Luxus? Naja, wie schon oben angedeutet: weil es sich um Orte handelt, an denen Menschen dank sich verändernder klimatischer und Wetterbedingungen nur noch durch die Investition gigantischer Summen weiterhin bleiben können, Investitionen, die oft im direkten Interesse nur sehr weniger Personen getätigt werden. Die Frage, die sich daraus ableitet, ist diese: “Wie sinnvoll ist es, in Gebieten zu wohnen und zu bauen, die immer stärker gefährdet sind (Si apre in una nuova finestra)?”
Klar: je nachdem, wie wohlhabend eine Gesellschaft ist, wird diese Frage sehr, sehr unterschiedlich beantwortet werden. Z.B. müssen Landwirt*innen in Ungarn (Si apre in una nuova finestra), einem im globalen Maßstab zwar wohlhabenden, aber nicht unbedingt reichen Land darüber nachdenken, sich langfristig aus einer von Dürre betroffenen Ackerregion zurückzuziehen (ein Prozess, der zB in Subsahara Afrika noch viel schneller abläuft), während in einem winzigen Bergdorf in der Schweiz (*der* Beutegemeinschaft schlechthin) ein teures Projekt an den Start gebracht wird (Si apre in una nuova finestra), um dieses vor möglicher Überflutung zu schützen. Klar kann man das mal machen, aber das Dorf liegt halt direkt unter einem mittlerweile geschmolzenen Gletscher. Maybe staying there isn't such a great idea, weil bei eskalierender Klimakatastrophe die Kosten für den Schutz dieses und anderer Alpendörfer drastisch ansteigen würden – schneller, als linear.
Zum Beispiel an den Stränden der Welt: diese erodieren natürlich schnell, weil Meeresspiegelanstieg und so – aber während an den meisten Stränden die Menschen dann halt gezwungenermaßen von da wegziehen, sieht das an Stränden in reicheren Ländern anders aus: “the main method to combat coastal erosion has been 'beach nourishment', whereby fresh sand is brought in from elsewhere (Si apre in una nuova finestra).” Ok, ob jetzt ein bisschen mehr oder weniger Sand am Strand liegt ist natürlich keine Frage des Überlebens, aber das Prinzip sollte klar sein: von manchen muss geflohen werden, an anderen Orten haben gesellschaftliche Institutionen (privat, gemeinschaftlich oder öffentlich) ausreichend Ressourcen, um zu verhindern, dass geflohen werden muss.
Das schafft eine neue, oder auch sehr alte, gesellschaftliche Konfliktlinie: zwischen denjenigen, die die Ressourcen haben, bleiben zu können, und denjenigen, die diese Ressourcen nicht haben – und wie üblich bei Umweltgerechtigkeitsfragen können wir davon ausgehen, dass das Fähigkeit der Einen, nicht fliehen zu müssen, mit der Unfähigkeit der Anderen, fliehen zu können, zusammenhängt (“wärt Ihr nicht reich, wär ich nicht arm”). Um das zu illustrieren, bleibe ich mal beim Beispiel des Sand auf Strände nachschütten: weil diese eine schon alte und etablierte “Klimaanpassungspraxis” ist, können wir hier auch jetzt schon erkennen, was passiert, wenn immer mehr Orte auf der Welte beach nourishment betreiben.
“As the planet warms and we experience stronger, more frequent storms and higher seas, more scientists and government officials are worrying about the cost and availability of sand... 'Identifying sand resources is becoming harder, more expensive and [the material] is less available,” says Joe Vietri, who oversees coastal storm risk management at the US Army Corps of Engineers, which is responsible for publicly funded beach nourishment projects.”
D.h.: die Anpassung der Einen, derjenigen, die für das Problem viel mehr verantwortlich sind, wird die Anpassung der Anderen immer schwieriger bis unmöglich machen, u.a. weil – s. das Beispiel Sand – die Ressourcen, die es für Anpassung braucht, sich immer mehr in reicheren und privilegierteren Gesellschaften konzentrieren werden.
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Klasse und Bleibeprivileg
Immer, wenn Katastrophen einen Ort zerstören, ihn tendenziell unbewohnbar machen, sagen Menschen Sätze wie: “'You have people who live here, their children are raised here... Everything about this is home (Si apre in una nuova finestra).'” Aber nur manche an manchen Orten haben die Fähigkeit, dieses zu Hause auch mit den dafür notwendigen Ressourcen zu verteidigen.
Jetzt ließe sich natürlich, in klassisch-linksradikaler Manier einfach dagegenhalten, dass halt ALLE das Privileg, die Freiheit verdienen, dort bleiben zu dürfen, wo sie bleiben wollen, dort leben zu dürfen, wo sie leben wollen – aber diese Aussage, obgleich ethisch vollkommen richtig, ist ungefähr so realistisch, wie die Hoffnung, ein fully automated luxury communism würde alle irdischen Probleme gleichsam aufheben, und dabei die Umwelt irgendwie nicht kaputt machen. Sollte diese Vorstellung jemals nicht komplett absurdes hopium gewesen sein, so ist sie spätestens im globalen ökologischen Kollaps nicht mehr aufrechtzuerhalten: wir wissen, dass “Kommunismus” im Kollaps das solidarische Management zunehmender Knappheit bedeutet, linkes magisches Denken notwithstanding.
Die Rede vom zunehmend umkämpften Privileg, da leben zu können, wo man möchte” ist also selbst eine Anpassung an den Kollaps, dessen Ankunft sich in linkem Denken noch viel zu wenig abbildet, auch und vor allem in unseren Strategien und Zukunftsvorstellungen. Zum Beispiel Klasse in der Katastrophe/im Kollaps: ich habe ja schon häufiger argumentiert, dass bei globalen ökologischen Fragen die zentrale Konfliktlinie nicht zwischen Kapital und Arbeit am Ort der Produktion verläuft, sondern zwischen dem (industriellen) Kapitalverhältnis, also Kapital und Arbeit zusammen, gegen den Rest der Welt, der dem Kapitalverhältnis die Ressourcen liefern muss, in dem die sacrifice zones verortet sind, und der immer mehr die surplus populations managen muss, die für den Kapitalismus nicht mehr verwertbar sind. Weiter gedacht (to be sure: das sind erstmal Thesen, noch keine sicheren Aussagen) ließe sich argumentieren, dass Klasse in der Katastrophe immer weniger Arbeit vs. Kapital bedeutet, und, die Zukunft in den Blick nehmend, immer mehr Vertriebene vs. Nicht Vertriebene bedeuten wird.
Das war schon immer eine zentrale Ungleichheitsfrage: wer darf bleiben, wer muss gehen? Im Kollaps, wo immer größere Teile der Welt notwendigerweise, dh mit absoluter Sicherheit immer unbewohnbarer werden, wird diese Frage immer mehr zum zentralen Inhalt von Politik, vgl. die heutige Zentralität der Migrationsfrage: ja, das ist einerseits eine fette von rechts gepushte Moralpanik, andererseits aber auch Resultat der Tatsache, dass viele Menschen durchaus spüren, was die großen Fragen der Zukunft sein werden. Daher die Attraktivität der erneuten Grenzkontrollen, sie signalisiert der Wähler*innenschaft: “Seht her, wir können wieder Grenzschutz, wir können Euch beschützen, wenn die Verdammten der Erde, wenn die “poor... huddled masses yearning to breathe free” (so steht das auf der Freiheitsstatue in NYC) dereinst dann TATSÄCHLICH vor der Tür stehen.”
Und wenn das die Frage sein wird: how is it gonna play out? Ich befasse mich hier jetzt nicht mit der offensichtlichen Grenzfrage - da hat die kritische Migrationsforschung extrem viel vorgelegt -, damit, wer wohin fliehen oder ziehen darf, mir geht es um die Frage: wer darf unter welchen Bedingungen an Orten bleiben, die von der Klimakatastrophe zunehmend offensichtlich unbewohnbar gemacht werden? Low lying coastal areas, Dörfer unterhalb von abrutschenden Bergen, etc. Und wie gehen Gesellschaften mit dieser Frage um, welche Arten von Ressourceninvestition wird getätigt, um mit diesem Problem umzugehen?
Ich belass es mal hierbei. Dass dieser Text notwendigerweise etwas schematisch und thesenhaft war, und wiederum in lauter Fragen endet, ist erstens der Tatsache geschuldet, dass dieses Thema für mich noch recht neu ist, zweitens der immer intensiveren Kollapscamporgaarbeit: heute in 2 Wochen geht's los, schaut gerne nochmal hier auf unser komplettes Programm (Si apre in una nuova finestra).
Mit vorfreudig-aufgeregten Grüßen,
Euer Tadzio